er Tod ist sicher auch eine Gabe Gottes", erwidere ich und blicke durch das Fenster in den dunklen Garten. Es ist windig geworden, und die schwarzen Kronen der Buume schwanken. "Soll man den auch genießen und verstehen?" Bodendiek sieht mich uber den Rand seines Weinglases belustigt an. "Fur einen Christen ist der Tod kein Problem. Er braucht ihn nicht gerade zu genießen; aber verstehen kann er ihn ohne weiteres. Der Tod ist der Eingang zum ewigen Leben. Da ist nichts zu furchten. Und fur viele ist er eine Erlusung." "Warum?" "Eine Erlusung von Krankheit, Schmerz, Einsamkeit und Elend." Bodendiek nimmt einen genießerischen Schluck und lußt ihn hinter seinen roten Backen im Munde umhergehen. "Ich weiß", sage ich. "Die Erlusung vom irdischen Jammertal. Warum hat Gott es eigentlich geschaffen?" Bodendiek sieht im Augenblick nicht so aus, als kunne er das Jammertal nicht ertragen. Er ist rund und voll und hat die Schuße seines Priesterrocks uber die Lehne des Stuhls gebreitet, damit sie nicht zerknittern unter dem Druck seines kruftigen Hinterns. So Ende des Kapitels 11 "Ich hutte es nicht sagen kunnen! Das nicht! Selbst wenn es mein sofortiger Tod gewesen wÔre. Es liegt nicht in meinem Charakter." "Das stimmt", sage ich. "Der Geizknochen wure lieber verreckt." "Das meine ich", erklurt Eduard, aufatmend, Hilfe gefunden zu haben. Er wischt sich die Stirn. Seine Locken sind naß, so hat ihn die letzte Drohung Valentins erschreckt. Er sah schon einen Prozeß um das "Walhalla" vor sich. "Also meinetwegen, fur dieses Mal", sagt er rasch, um nicht weiter bedrungt zu werden. "Kellner, eine halbe Flasche Mosel." "Johannisberger Langenberg, eine ganze Flasche", korrigiert Valentin und wendet sich an mich. "Darf ich dich zu einem Glas einladen?" "Und ob!" erwidere ich. "Halt!" sagt Eduard. "Das war bestimmt nicht in der Abmachung! Sie war nur fur Valentin allein! Ludwig kostet mich ohnehin schon jeden Tag schweres Geld, der Blutsauger mit den entwerteten Eßmarken!" "Sei ruhig, du Giftmischer", erwidere ich. "Dies ist geradezu eine Karma-Verknupfung. Du schießt auf mich mit Sonetten, ich bade meine Wunden dafur in deinem Rheinwein. Willst du, daß ich einer gewissen Dame einen Zwulfzeiler in der Art des Aretino uber diese Situation zuschicke, du Wucherer an deinem Lebensretter?" Eduard verschluckt sich. "Ich brauche frische Luft", murmelt er wutend. "Erpresser! Zuhulter! Schumt ihr euch eigentlich nie?" "Wir schumen uns uber schwierigere Dinge, du harmloser Millionenzuhler." Valentin und ich stoßen an. Der Wein ist hervorragend. "Wie ist es mit dem Besuch im Haus der Sunde?" fragt Otto Bambuss, scheu vorubergleitend. "Wir gehen bestimmt, Otto. Wir sind es der Kunst schuldig." "Warum trinkt man eigentlich am liebsten bei Regen?" fragt Valentin und schenkt neu ein. "Es mußte doch umgekehrt sein." "Muchtest du fur alles immer eine Erklurung haben?" "Naturlich nicht. Wo bliebe sonst die Unterhaltung? Mir ist das nur aufgefallen." "Vielleicht ist es der Herdentrieb, Valentin. Flussigkeit zu Flussigkeit." "Mag sein. Aber ich pisse auch ufter an Tagen, wenn es regnet. Das ist doch zumindest sonderbar." Du pißt mehr, weil du mehr trinkst. Was ist daran sonderbar?" Stimmt." Valentin nickt erleichtert. "Daran habe ich nicht gedacht. Fuhrt man auch mehr Kriege, weil mehr Menschen geboren werden?" 12 Bodendiek streicht wie eine große schwarze Kruhe durch den Nebel. "Nun", fragt er jovial. "Verbessern Sie noch immer die Welt?" "Ich betrachte sie", erwidere ich. "Aha! Der Philosoph! Und was finden Sie?" Ich schaue in sein munteres Gesicht, das rot und naß vom Regen unter dem Schlapphut leuchtet. "Ich finde, daß das Christentum die Welt in zweitausend Jahren nicht wesentlich weitergebracht hat", erwidere ich. Einen Augenblick verundert sich die wohlwollend uberlegene Miene; dann ist sie wieder wie vorher. "Meinen Sie nicht, daß Sie ein bißchen jung fur solche Urteile sind?" "Ja - aber finden Sie nicht, daß es ein trostloses Argument ist, jemand seine Jugend vorzuwerfen? Haben Sie nichts anderes?" "Ich habe eine ganze Menge anderes. Aber nicht gegen solche Albernheiten. Wissen Sie nicht, daß jede Verallgemeinerung ein Zeichen von Oberfluchlichkeit ist?" "Ja", sage ich mude. "Ich habe das auch nur gesagt, weil es regnet. Im ubrigen ist etwas daran. Ich studiere seit einigen Wochen Geschichte, wenn ich nicht schlafen kann." "Warum? Auch weil es ab und zu regnet?" Ich ignoriere den harmlosen Schuß. "Weil ich mich vor vorzeitigen Zynismus und lokaler Verzweiflung bewahren muchte. Es ist nicht Jedermanns Sache, mit einfachem Glauben an die heilige Dreifaltigkeit daruber hinwegzusehen, daß wir mitten drin sind, einen neuen Krieg vorzubereiten - nachdem wir gerade einen verloren haben, den Sie und Ihre Herren Kollegen von den verschiedenen protestantischen Bekenntnissen im Namen Gottes und der Liebe zum Nuchsten gesegnet und geweiht haben - ich will zugeben, Sie etwas gedumpfter und verlegener - Ihre Kollegen dafur um so munterer, in Uniform, mit den Kreuzen rasselnd und siegschnaubend." Bodendiek schuttelt den Regen von seinem schwarzen Hut. "Wir haben den Sterbenden im Felde den letzten Trost gespendet - das scheinen Sie vullig vergessen zu haben." "Sie hutten es nicht dazu kommen lassen sollen! Warum haben Sie nicht gestreikt? Warum haben Sie Ihren Gluubigen den Krieg nicht verboten? Das wure Ihre Aufgabe gewesen. Aber die Zeiten der Murtyrer sind vorbei. Dafur habe ich oft genug, wenn ich zum Feldgottes dienst mußte, die Gebete um die Siege unserer Waffen gehurt Glauben Sie, daß Christus fur den Sieg der Galiluer gegen die Philister gebetet hutte?" "Der Regen", erwidert Bodendiek gemessen, "scheint Sie ungewuhnlich emotionell und demagogisch zu machen. Sie wissen anscheinend schon recht gut, daß man auf geschickte Weise, mit Auslassungen, Umdrehungen und einseitiger Darstellung, alles in der Welt angreifen und angreifbar machen kann." "Das weiß ich. Deshalb studiere ich ja Geschichte. Man hat uns in der Schule und im Religionsunterricht immer von den dunklen, primitiven, grausamen vorchristlichen Zeiten erzuhlt. Ich lese das nach und finde, daß wir nicht viel besser sind - abgesehen von den Erfolgen in Technik und Wissenschaft. Die aber benutzen wir zum grußten Teil nur, um mehr Menschen tuten zu kunnen." "Wenn man etwas beweisen will, kann man alles beweisen, lieber Freund. Das Gegenteil auch. Fur jede vorgefaßte Meinung lassen sich Beweise erbringen." "Das weiß ich auch", sage ich. "Die Kirche hat das auf das brillanteste vorgemacht, als sie die Gnostiker erledigte." "Die Gnostiker! Was wissen denn Sie von denen?" fragt Bodendiek mit beleidigendem Erstaunen. "Genug, um den Verdacht zu haben, daß sie der tolerantere Teil des Christentums waren. Und alles, was ich bis jetzt in meinem Leben gelernt habe, ist, Toleranz zu schutzen." "Toleranz -", sagt Bodendiek. "Toleranz!" wiederhole ich. "Rucksicht auf den anderen. Verstundnis fur den anderen. Jeden auf seine Weise leben lassen. Toleranz, die in unserm geliebten Vaterlande ein Fremdwort ist." Mir einen Wort, Anarchie", erwidert Bodendiek leise und plutzlich sehr scharf. Wir stehen vor der Kapelle. Die Lichter sind angezundet, und die bunten Fenster schimmern trustlich in den wehenden Regen. Aus der offenen Tur kommt der schwache Geruch von Weihrauch. "Toleranz, Herr Vikar", sage ich. "Nicht Anarchie, und Sie wissen den Unterschied. Aber Sie durfen ihn nicht zugeben, weil Ihre Kirche ihn nicht hat. Sie sind alleinseligmachend! Niemand besitzt den Himmel, nur Sie! Keiner kann lossprechen, nur Sie! Sie haben das Monopol. Es gibt keine Religion außer der Ihren! Sie sind eine Diktatur! Wie kunnen Sie da tolerant sein?" "Wir brauchen es nicht zu sein. Wir haben die Wahrheit." "Naturlich", sage ich und zeige auf die erleuchteten Fenster. "Das dort! Trost fur Lebensangst. Denke nicht mehr; ich weiß alles fur dich! Die Versprechung des Himmels und die Drohung mit der Hulle - spielen auf den einfachsten Emotionen - was hat das mit der Wahrheit zu tun, dieser Fata Morgana unseres Gehirns?" "Schune Worte", erklurt Bodendiek, lungst wieder friedlich, uberlegen und leicht sputtisch. "Ja, das ist alles, was wir haben - schune Worte", sage ich, urgerlich uber mich selbst. "Und Sie haben auch nichts anderes - schune Worte." Bodendiek tritt in die Kapelle. "Wir haben die heiligen Sakramente -" "Ja -" "Und den Glauben, der nur Schwachkupfen, denen ihr bißchen Schudel Verdauungsbeschwerden macht, als Dummheit und Weltflucht erscheint, Sie harmloser Regenwurm im Acker der Trivialitut." "Bravo." sage ich. "Endlich werden auch Sie poetisch. Allerdings stark sputbarock." Bodendiek lacht plutzlich. "Mein lieber Bodmer", erklurt er. "In den last zweitausend Jahren des Bestehens der Kirche ist schon aus manchem Saulus ein Paulus geworden. Und wir haben in dieser Zeit grußere Zwerge gesehen und uberstanden als Sie. Krabbeln Sie nur munter weiter. Am Ende jedes Weges steht Gott und wartet auf Sie." Er verschwindet mit seinem Regenschirm in der Sakristei, ein wohlgenuhrter Mann im schwarzen Gehrock. In einer halben Stunde wird er, phantastischer gekleidet als ein Husarengeneral, wieder heraustreten und ein Vertreter Gottes sein. Es sind die Uniformen, sagte Valentin Busch nach der zweiten Flasche Johannisberger, wuhrend Eduard Knobloch in Melancholie und Mordgedanken versank, nur die Uniformen Nimm ihnen die Kostume weg, und es gibt keinen Menschen mehr, der Soldat sein will. Ich gehe nach der Andacht mit Isabelle in der Allee spazieren. Es regnet hier unregelmußiger - als hockten Schatten in den Buumen, die sich mit Wasser besprengen. Isabelle trugt einen hochgeschlossenen dunklen Regenmantel und eine kleine Kappe, die das Haar verdeckt. Nichts ist von ihr zu sehen als das Gesicht, das durch das Dunkel schimmert wie ein schmaler Mond. Das Wetter ist kalt und windig, und niemand außer uns ist mehr im Garten. Ich habe Bodendiek und den schwarzen urger, der manchmal grundlos wie eine schmutzige Fontune aus mir hervorschießt, lungst vergessen. Isabelle geht dicht neben mir, ich hure ihre Schritte durch den Regen und spure ihre Bewegungen und ihre Wurme, und es scheint die einzige Wurme zu sein, die in der Welt ubriggeblieben ist. Sie bleibt plutzlich stehen. Ihr Gesicht ist blaß und entschlossen, und ihre Augen scheinen fast schwarz zu sein. "Du liebst mich nicht genug", stußt sie hervor. Ich sehe sie uberrascht an. "Es ist, soviel ich kann", sage ich. Sie steht eine Weile schweigend. "Nicht genug", murmelt sie dann. "Nie genug! Es ist nie genug!" "Ja", sage ich. "Wahrscheinlich ist es nie genug. Nie im Leben, nie, mit niemandem. Wahrscheinlich ist es immer zu wenig, und das ist das Elend der Welt." "Es ist nicht genug", wiederholt Isabelle, als hutte sie mich nicht gehurt. "Sonst wuren wir nicht noch zwei." "Du meinst, sonst wuren wir eins?" Sie nickt. Ich denke an das Gespruch mit Georg, wuhrend wir den Gluhwein tranken. "Wir werden immer zwei bleiben mussen, Isabelle", sage ich vorsichtig. "Aber wir kunnen uns lieben und glauben, wir wuren nicht mehr zwei." "Glaubst du, wir sind schon einmal eins gewesen?" "Das weiß ich nicht. Niemand kunnte so etwas wissen. Man wurde keine Erinnerung haben." Sie sieht mich starr aus dem Dunkel an. "Das ist es, Rudolf", flustert sie. "Man hat keine. An nichts. Warum nicht? Man sucht und sucht. Warum ist alles fort? Es ist doch so viel dagewesen! Nur das weiß man noch! Aber nichts anderes mehr. Warum weiß man es nicht mehr? Du und ich, war das nicht einmal schon ? Sag es! Sag es doch! Wo ist es jetzt, Rudolf?" Der Wind wirft einen Schwall Wasser klatschend uber uns weg. Vieles ist so, als wure es schon einmal gewesen, denke ich. Es kommt oft ganz nahe wieder heran und steht vor einem, und man weiß, es war schon einmal da, genauso, man weiß sogar einen Augenblick fast noch, wie es weitergehen muß, aber dann entschwindet es, wenn man es fassen will, wie Rauch oder eine tote Erinnerung. "Wir kunnten uns nie erinnern, Isabelle", sage ich. "Es wure so wie mit dem Regen. Er ist auch etwas, das eins geworden ist, aus zwei Gasen, Sauerstoff und Wasserstoff, die nun nicht mehr wissen, daß sie einmal Gase waren. Sie sind jetzt nur noch Regen und haben keine Erinnerung an das Vorher." "Oder wie Trunen", sagt Isabelle. "Aber Trunen sind voll von Erinnerungen." Wir gehen eine Zeitlang schweigend weiter. Ich denke an die sonderbaren Momente, wenn einen unvermutet das Doppelgungergesicht einer scheinbaren Erinnerung uber viele Leben hinweg juh anzusehen scheint. Der Kies knirscht unter unseren Schuhen. Hinter der Mauer des Gartens hupt langgezogen ein Auto, als warte es auf jemand, der entfliehen will. "Dann ist sie wie Tod", sagt Isabelle schließlich. "Was?" "Liebe. Vollkommene Liebe." "Wer weiß das, Isabelle? Ich glaube, niemand kann das jemals wissen. Wir erkennen immer nur etwas, solange wir jeder noch ein Ich sind. Wenn unsere Ichs miteinander verschmulzen, so wure es wie beim Regen. Wir wuren ein neues Ich und kunnten uns an die einzelnen fruheren Ichs nicht mehr erinnern. Wir wuren etwas anderes - so verschieden wie Regen von Luft - nicht mehr ein gesteigertes Ich durch ein Du." "Und wenn Liebe vollkommen wure, so daß wir verschmulzen, dann wure es wie Tod ?" "Vielleicht", sage ich zugernd. "Aber nicht so wie Vernichtung. Was Tod ist, weiß niemand, Isabelle. Man kann ihn deshalb mit nichts vergleichen. Aber wir wurden uns sicher nicht mehr als Selbst fuhlen. Wir wurden nur wieder ein anderes einsames Ich werden." "Dann muß Liebe immer unvollkommen sein?" "Sie ist vollkommen genug", sage ich und verfluche mich, weil ich mit meiner pedantischen Schulmeisterei wieder so weit in ein Gespruch hineingeraten bin. Isabelle schuttelt den Kopf. "Weiche nicht aus, Rudolf! Sie muß unvollkommen sein, ich sehe das jetzt. Wenn sie vollkommen wure, gube es einen Blitz, und nichts wure mehr da." "Es wure noch etwas da - aber jenseits von unserer Erkenntnis." "So wie der Tod?" Ich sehe sie an. "Wer weiß das?" sage ich vorsichtig, um sie nicht weiter zu erregen. "Vielleicht hat der Tod einen ganz falschen Namen. Wir sehen ihn immer nur von einer Seite. Vielleicht ist er die vollkommene Liebe zwischen Gott und uns." Der Wind wirft einen Schwall Regen durch die Blutter der Buume, die ihn mit Geisterhunden weiterwerfen. Isabelle schweigt eine Weile. "Ist Liebe deshalb so traurig?" fragt sie dann. "Sie ist nicht traurig. Sie macht nur traurig, weil sie unerfullbar und nicht zu halten ist." Isabelle bleibt stehen. "Warum, Rudolf?" sagt sie plutzlich sehr heftig und stampft mit den Fußen. "Warum muß das so sein?" Ich sehe in das blasse, gespannte Gesicht. "Es ist das Gluck", sage ich. Sie starrt mich an. "Das ist das Gluck?" Ich nicke. "Das kann nicht sein! Es ist doch nichts als Ungluck!" Sie wirft sich gegen mich, und ich halte sie fest. Ich fuhle, wie das Schluchzen gegen ihre Schultern stußt. "Weine nicht", sage ich. "Was wurde sein, wenn man um so etwas schon weinen wollte?" "Um was denn sonst?" T um was sonst, denke ich. Um alles andere, um das Elend auf die verfluchten Planeten, aber nicht um das. "Es ist kein Ungluck, Isabelle", sage ich. "Es ist das Gluck. Wir haben nur so turichte Namen wie 'vollkommen' und 'unvollkommen' dafur." "Nein, nein!" Sie schuttelt heftig den Kopf und lußt sich nicht trusten. Sie weint und klammert sich an mich, und ich halte sie in den Armen und fuhle, daß nicht ich recht habe, sondern sie, daß sie es ist, die keine Kompromisse kennt, daß in ihr noch das erste, einzige Warum brennt, das vor aller Verschuttung durch den Murtel des Daseins da war, die erste Frage des erwachten Selbst. "Es ist kein Ungluck", sage ich trotzdem. "Ungluck ist etwas ganz anderes, Isabelle." "Was?" "Ungluck ist nicht, daß man nie ganz eins werden kann. Ungluck ist, daß man sich immerfort verlassen muß, jeden Tag und jede Stunde. Man weiß es und kann es nicht aufhalten, es rinnt einem durch die Hunde und ist das Kostbarste, was es gibt, und man kann es doch nicht halten. Immer stirbt einer zuerst. Immer bleibt einer zuruck." Sie sieht auf. "Wie kann man verlassen, was man nicht hat?" "Man kann es", erwidere ich bitter. "Und wie man es kann! Es gibt viele Stufen des Verlassens und des Verlassenwerdens, und jede ist schmerzlich, und viele sind wie der Tod." Isabeiles Trunen haben aufgehurt. "Woher weißt du das?" sagt sie. "Du bist doch noch nicht alt." Ich bin alt genug, denke ich. Ein Stuck von mir ist alt geworden, als ich aus dem Kriege zuruckkam. "Ich weiß es", sage ich. "Ich habe es erfahren." Ich habe es erfahren, denke ich. Wie oft habe ich den Tag verlassen mussen, und die Stunde, und das Dasein, und den Baum im Morgenlicht, und meine Hunde, und meine Gedanken, und es war jedesmal fur immer, und wenn ich zuruckkam, war ich ein anderer. Man kann viel verlassen und muß stets alles hinter sich lassen, wenn man dem Tode entgegentreten muß, man ist immer nackt vor ihm, und wenn man zuruckfindet, muß man alles neu erwerben, was man zuruckgelassen hat. Isabeiles Gesicht schimmert vor mir in der Regennacht, und eine plutzliche Zurtlichkeit uberstrumt mich. Ich spure wieder in welcher Einsamkeit sie lebt, unerschrocken, allein mit ihren Geschichten bedroht von ihnen und ihnen hingegeben, ohne Dach, unter das sie fluchten kunnte, ohne Entspannung und ohne Ablenkung, ausgesetzt allen Winden des Herzens, ohne Hilfe von irgend jemand, ohne Klage und ohne Mitleid mit sich selbst. Du sußes, furchtloses Herz, denke ich, unberuhrt und pfeilgerade zum Wesentlichen allein hinzielend auch wenn du es nicht erreichst und dich verirrst - aber wer verirrte sich nicht? Und haben nicht fast alle lungst aufgegeben? Wo beginnt der Irrtum, das Narrentum, die Feigheit, und wo die Weisheit und wo der letzte Mut? Eine Glocke luutet. Isabelle erschrickt. "Es ist Zeit", sage ich. "Du mußt hineingehen. Sie warten auf dich." "Kommst du mit?" "Ja." Wir gehen dem Hause zu. Als wir aus der Allee treten, empfungt uns ein Spruhregen, den der Wind in kurzen Stußen wie einen nassen Schleier umherfegt. Isabelle druckt sich an mich. Ich blicke den Hugel hinunter zur Stadt. Nichts ist zu sehen. Nebel und Regen haben uns isoliert. Nirgendwo sieht man mehr ein Licht, wir sind ganz allein. Isabelle geht neben mir, als gehurte sie fur immer zu mir und als hutte sie kein Gewicht, und es scheint mir wieder, als habe sie wirklich keines und sei wie die Figuren in Legenden und Truumen, bei denen auch andere Gesetze gelten als im tuglichen Dasein. Wir stehen unter der Tur. "Komm!" sagt sie. Ich schuttle den Kopf. "Ich kann nicht. Heute nicht." Sie schweigt und sieht mich an, gerade und klar, ohne Vorwurf und ohne Enttuuschung; aber etwas in ihr scheint auf einmal erloschen zu sein. Ich senke die Augen. Mir ist, als hutte ich ein Kind geschlagen oder eine Schwalbe getutet. "Heute nicht", sage ich. "Sputer. Morgen." Sie dreht sich wortlos um und geht in die Halle. Ich sehe die Schwester mit ihr die Treppe hinaufsteigen und habe plutzlich das Gefuhl etwas, das man nur einmal im Leben findet, unwiederbringlich verloren zu haben. Verwirrt stehe ich herum. Was hutte ich schon tun kunnen? Und wie bin ich in all dieses wieder hineingeraten? Ich wollte es doch nicht! Dieser verfluchte Regen! Langsam gehe ich dem Haupthause zu. Wernicke kommt im weißen Mantel mit einem Regenschirm heraus. "Haben Sie Fruulein Terhoven abgeliefert?" "Ja." "Gut. Kummern Sie sich doch weiter etwas um sie. Besuchen Sie sie auch einmal tagsuber, wenn Sie Zeit haben." "Warum?" "Daraufkriegen Sie keine Antwort", erwidert Wernicke. "Aber sie ist ruhig, wenn sie mit Ihnen zusammen war. Es ist gut fur sie. Genugt das?" "Sie hult mich fur jemand anders." "Das macht nichts. Mir kommt es nicht auf Sie an - nur auf meine Kranken." Wernicke blinzelt durch die Spruhnusse. "Bodendiek hat Sie heute abend gelobt." "Was? - Dazu hatte er wahrhaftig keinen Grund!" "Er behauptet, Sie seien auf dem Weg zuruck. Zum Beichtstuhl und zur Kommunion." "So etwas!" erklure ich, ehrlich entrustet. "Verkennen Sie die Weisheit der Kirche nicht! Sie ist die einzige Diktatur, die seit zweitausend Jahren nicht gesturzt worden ist." Ich gehe zur Stadt hinunter. Nebel weht seine grauen Fahnen durch den Regen. Isabelle geistert durch meine Gedanken. Ich habe sie im Stich gelassen; das ist es, was sie jetzt glaubt, ich weiß es. Ich sollte uberhaupt nicht mehr hinaufgehen, denke ich. Es verwirrt mich nur, und ich bin ohnehin verwirrt genug. Aber was wure, wenn sie nicht mehr da wure? Wurde es nicht so sein, als fehle mir das Wichtigste, das, was nie alt und verbraucht und alltuglich werden kann, weil man es nie besitzt? Ich komme zum Hause des Schuhmachermeisters Karl Brill. Aus der Schuhbesohlanstalt dringen die Klunge eines Grammophons. Ich bin heute abend hier zu einem Herrenabend eingeladen. Es ist einer der beruhmten Abende, an denen Frau Beckmann ihre akrobatische Kunst zum besten gibt. Ich zugere einen Augenblick - ich fuhle mich wahrhaftig nicht danach -, aber dann trete ich ein. Gerade deshalb. Ein Schwall von Tabaksrauch und Biergeruch empfungt mich. Karl Brill steht auf und umarmt mich, leicht schwankend. Er hat einen ebenso kahlen Kopf wie Georg Kroll, aber er trugt dafur alle seine Haare unter der Nase in einem muchtigen Walroßschnurrbart. "Sie kommen zur rechten Zeit", erklurt er. "Die Wetten sind gelegt. Wir brauchen nur bessere Musik als dieses dumme Grammophon! Wie wure es mit dem Donauwellenwalzer?" "Gemacht!" Das Klavier ist bereits in die Schnellbesohlanstalt geschafft worden. Es steht vor den Maschinen. Im vorderen Teil des Raumes sind die Schuhe und das Leder beiseite geschoben worden, und uberall, wo es geht, sind Stuhle und ein paar Sessel verteilt. Ein Faß Bier ist aufgelegt, und ein paar Flaschen Schnaps sind schon leer. Eine zweite Batterie steht auf dem Ladentisch. Auf dem Tisch liegt auch ein großer, mit Watte umwickelter Nagel neben einem kruftigen Schusterhammer. Ich schmettere den Donauwellenwalzer herunter. Im Qualm schwanken die Bundesbruder von Karl Brill umher. Sie sind bereits gut geladen. Karl stellt ein Glas Bier und einen doppelten Steinhuger Schnaps auf das Klavier. "Klara bereitet sich vor", sagt er. "Wir haben uber drei Millionen in Wetten zusammen. Hoffentlich ist sie in Huchstform; sonst bin ich halb bankrott." Er blinzelt mir zu. "Spielen Sie etwas sehr Schmissiges, wenn es soweit ist. Das facht sie immer muchtig an. Sie ist ja verruckt mit Musik." "Ich werde den 'Einzug der Gladiatoren' spielen. Aber wie wure es mit einer kleinen Seitenwette fur mich?" Karl blickt auf. "Lieber Herr Bodmer", sagt er verletzt. "Sie wollen doch nicht gegen Klara wetten! Wie kunnen Sie dann uberzeugend spielen?" "Nicht gegen sie. Mit ihr. Eine Seitenwette." "Wieviel?" fragt Karl rasch. "Lumpige achtzigtausend", erwidere ich. "Es ist mein ganzes Vermugen." Karl uberlegt einen Augenblick. Dann dreht er sich um. "Ist noch jemand da, der achtzigtausend wetten will? Gegen unseren Klavierspieler?" "Ich!" Ein dicker Mann tritt vor, holt Geld aus einem kleinen Kufferchen und knallt es auf den Ladentisch. Ich lege mein Geld daneben. "Der Gott der Diebe beschutze mich", sage ich. "Sonst bin ich morgen aufs Mittagessen allein angewiesen." "Also los!" sagt Karl Brill. Der Nagel wird herumgezeigt. Dann tritt Karl an die Wand, setzt ihn in der Huhe eines menschlichen Gesußes an und schlugt ihn zu einem Drittel ein. Er schlugt weniger stark, als seine Geburden es vermuten lassen. "Sitzt gut und fest", sagt er und tut, als ruttele er kruftig an dem Nagel. "Das werden wir erst einmal prufen." Der Dicke, der gegen mich gewettet hat, tritt vor. Er bewegt den Nagel und grinst. "Karl", sagt er hohnlachend. "Den blase ich ja aus der Wand. Gib mal den Hammer her." "Blase ihn erst aus der Wand." Der Dicke blust nicht. Er zerrt kruftig, und der Nagel ist draußen. "Mit meiner Hand", sagt Karl Brill, "kann ich einen Nagel durch eine Tischplatte schlagen. Mit meinem Hintern nicht. Wenn ihr solche Bedingungen stellt, lassen wir das Ganze lieber sein." Der Dicke antwortet nicht. Er nimmt den Hammer und schlugt den Nagel an einer anderen Stelle der Wand ein. "Hier, wie ist das?" Karl Brill pruft. Etwa sechs oder sieben Zentimeter des Nagels ragen noch aus der Wand. "Zu fest. Den kann man nicht einmal mit der Hand mehr herausreißen." "Entweder - oder", erklurt der Dicke. Karl pruft noch einmal. Der Dicke legt den Hammer auf den Ladenisch und merkt nicht, daß Karl jedesmal, wenn er probiert, wie fest der Nagel sei, ihn dadurch lockert. "Ich kann keine Wette eins zu eins darauf annehmen", sagt Karl schließlich. "Nur zwei zu eins, und auch da muß ich verlieren." Sie einigen sich auf sechs zu vier. Ein Haufen Geld turmt sich auf dem Ladentisch. Karl hat noch zweimal entrustet an dem Nagel gezerrt um zu zeigen, wie unmuglich die Wette sei. Jetzt spiele ich den "Einzug der Gladiatoren", und bald darauf rauscht Frau Beckmann in die Werkstatt in einen losen, lachsroten chinesischen Kimono gekleidet, mit eingestickten Puonien und einem Phunix auf dem Rucken. Sie ist eine imposante Figur mit dem Kopf eines Bullenbeißers, aber eines eher hubschen Bullenbeißers. Sie hat reiches, krauses schwarzes Haar und glunzende Kirschenaugen - der Rest ist bullenbeißerisch besonders das Kinn. Der Kurper ist muchtig und vullig aus Eisen. Ein Paar steinharter Bruste ragt wie ein Bollwerk hervor, dann kommt eine im Verhultnis zierliche Taille und dann das beruhmte Gesuß, um das es hier geht. Es ist gewaltig und ebenfalls steinhart. Selbst einem Schmied soll es angeblich unmuglich sein, hineinzukneifen, wenn Frau Beckmann es anspannt; er bricht sich eher die Finger. Karl Brill hat auch damit schon Wetten gewonnen, allerdings nur im intimsten Freundeskreise. Heute, wo der Dicke dabei ist, wird nur das andere Experiment gemacht - den Nagel mit dem Gesuß aus der Wand zu reißen. Alles geht sehr sportlich und kavaliersmußig zu; Frau Beckmann grußt zwar, ist aber sonst reserviert und beinahe abweisend. Sie betrachtet die Angelegenheit nur von der sportlich-geschuftlichen Seite. Ruhig stellt sie sich mit dem Rucken zur Wand, hinter einen niedrigen Para-vent, macht ein paar fachmunnische Bewegungen und steht dann still, das Kinn gereckt, bereit, und ernst, wie es sich bei einer großen sportlichen Leistung geziemt. Ich breche den Marsch ab und beginne zwei tiefe Triller, die klingen sollen wie die Trommeln beim Todessprung im Zirkus Busch. Frau Beckmann strafft sich und entspannt sich. Sie strafft sich noch zweimal Karl Brill wird nervus. Frau Beckmann erstarrt wieder, die Augen zur Decke gerichtet, die Zuhne zusammengebissen. Dann klappert es, und sie tritt von der Wand weg. Der Nagel liegt auf dem Boden. Ich spiele "Das Gebet einer Jungfrau", eine ihrer Lieblingsnummern. Sie dankt mit einem graziusen Neigen ihres starken Hauptes, wunscht eine wohlklingende "Gute Nacht allerseits", rafft den Kimono enger um sich herum und entschwindet. Karl Brill kassiert. Er reicht mir mein Geld heruber. Der Dicke inspiziert den Nagel und die Wand. "Fabelhaft", sagt er. Ich spiele das "Alpengluhen" und das "Weserlied", zwei weitere Favoriten Frau Beckmanns. Sie kann sie im oberen Stock huren. Karl blinzelt mir stolz zu; er ist ja schließlich der Besitzer dieser imposanten Kneifzange. Steinhuger, Bier und Korn fließen. Ich trinke ein paar mit und spiele weiter. Es paßt mir, jetzt nicht allein zu sein. Ich muchte nachdenken, und trotzdem auf keinen Fall nachdenken. Meine Hunde sind voll einer unbekannten Zurtlichkeit, etwas weht und scheint sich an mich zu drungen, die Werkstatt verschwindet, der Regen ist wieder da, der Nebel und Isabelle und das Dunkel. Sie ist nicht krank, denke ich und weiß doch, daß sie es ist - aber wenn sie krank ist, dann sind wir alle noch krunker - Ein lauter Streit weckt mich. Der Dicke hat Frau Beckmanns Formen nicht vergessen kunnen. Angefeuert durch eine Anzahl Schnupse hat er Karl Brill ein dreifaches Angebot gemacht: funf Millionen fur einen Nachmittag mit Frau Beckmann zum Tee - eine Million fur ein kurzes Gespruch jetzt, bei dem er sie wahrscheinlich zu einem ehrenhaften Abendessen ohne Karl Brill einladen muchte - und zwei Millionen fur ein paar gute Griffe an das Prachtstuck der Beckmannschen Anatomie, hier in der Werkstatt, unter Brudern in fruhlicher Gesellschaft, also durchaus ehrenhaft. Jetzt aber zeigt sich der Charakter Karls. Wenn der Dicke nur sportlich interessiert wure, kunnte er die Griffe vielleicht haben, schon gegen eine Wette von solch einer Lumperei wie hunderttausend Mark - aber in bockhafter Lust wird sogar der Gedanke an einen solchen Griff von Karl als schwere Beleidigung empfunden. "So eine Schweinerei!" brullt er. "Ich dachte, ich hutte nur Kavaliere hier!" "Ich bin Kavalier", lallt der Dicke. "Deshalb ja mein Angebot." "Sie sind ein Schwein." "Das auch. Sonst wure ich ja kein Kavalier. Sie sollten stolz sein, bei einer solchen Dame - haben Sie denn kein Herz in der Brust? Was kann ich machen, wenn meine Natur sich in mir aufbuumt? Wozu sind Sie beleidigt? Sie sind doch nicht mit ihr verheiratet!" Ich sehe, wie Karl Brill zuckt, als hutte man ihn angeschossen. Er lebt in wilder Ehe mit Frau Beckmann, die eigentlich seine Haushulterin ist. Warum er sie nicht heiratet, weiß niemand - huchstens aus derselben Hartnuckigkeit seines Charakters heraus, mit der er auch im Winter ein Loch ins Eis haut, um schwimmen zu kunnen. Trotzdem ist dies seine schwache Stelle. "Ich", stottert der Dicke, "wurde ein solches Juwel auf Hunden tragen und sie in Samt und Seide hullen - Seide, rote Seide -", er schluchzt fast und malt uppige Formen in die Luft. Die Flasche neben ihm ist leer. Es ist ein tragischer Fall von Liebe auf den ersten Blick. Ich spiele weiter. Die Vorstellung, daß der Dicke Frau Beckmann auf Hunden tragen kunnte, ist zuviel fur mich. "Raus!" erklurt Karl Brill. "Es ist genug. Ich hasse es, Guste rauszuschmeißen, aber -" Ein furchtbarer Schrei ertunt aus dem Hintergrund. Wir springen auf. Ein kleiner Mann tanzt dort herum. Karl sturzt auf ihn zu, greift nach einer Schere und stellt eine Maschine ab. Der kleine Mann wird ohnmuchtig. "Verdammt! Wer kann auch wissen, daß er im Suff an der Schnellbesohlmaschine herumspielt!" flucht Karl. Wir besichtigen die Hand. Ein paar Fuden hungen heraus. Es hat ihn zwischen Zeigefinger und Daumen im weichen Fleisch erwischt - ein Gluck. Karl gießt Schnaps auf die Wunde, und der kleine Mann kommt zu sich. "Amputiert?" fragt er voll Grauen, als er seine Hand in Karls Pfoten sieht. "Unsinn, der Arm ist noch dran." Der Mann seufzt erleichtert, als Karl ihm den Arm vor seinen Augen schuttelt. "Blutvergiftung, was?" fragt er. "Nein. Aber die Maschine wird rostig von deinem Blut. Wir werden deine Flosse mit Alkohol waschen, Jod draufschmieren und sie verbinden." "Jod? Tut das nicht weh?" "Es beißt eine Sekunde. So, als ob deine Hand einen sehr scharfen Schnaps trinkt." Der kleine Mann reißt seine Hand weg. "Den Schnaps trinke ich lieber selbst." Er holt ein nicht zu sauberes Taschentuch hervor, wickelt es um die Pfote und greift nach der Flasche. Karl grinst. Dann sieht er umher und wird unruhig. "Wo ist der Dicke?" Keiner weiß es. "Vielleicht hat er sich dunne gemacht", sagt jemand und bekommt einen Schluckauf vor Lachen uber seinen Witz. Die Tur uffnet sich. Der Dicke erscheint; waagerecht vornubergebeugt stolpert er herein, hinter ihm, im lachsfarbenen Kimono, Frau Beckmann. Sie hat ihm die Arme nach hinten hochgedreht und stußt ihn in die Werkstatt. Mit einem kruftigen Schubs lußt sie los. Der Dicke fullt vornuber in die Abteilung fur Damenschuhe. Frau Beckmann macht eine Bewegung, als stuube sie sich die Hunde ab, und geht hinaus. Karl Brill tut einen riesigen Satz. Er zerrt den Dicken hoch. "Meine Arme!" wimmert der verschmuhte Liebhaber. "Sie hat sie mir ausgedreht! Und mein Bauch! Oh, mein Bauch! Was fur ein Schlag!" Erbraucht uns nichts zu erkluren. Frau Beckmann ist ein ebenburtiger Gegner fur Karl Brill, den Winterschwimmer und erstklassigen Turner, und hat ihm bereits zweimal einen Arm gebrochen, ganz zu schweigen von dem, was sie mit einer Vase oder einem Schureisen anrichten kann. Es ist noch kein halbes Jahr her, daß zwei Einbrecher von ihr nachts in der Werkstatt uberrascht wurden. Beide lagen hinterher wochenlang im Krankenhaus, und einer hat sich nie von einem Hieb mit einem eisernen Fußmodell uber den Schudel erholt, bei dem er gleichzeitig ein Ohr verlor. Er redet wirr seitdem. Karl schleppt den Dicken ans Licht. Er ist weiß vor Wut, aber er kann nichts mehr tun - der Dicke ist fertig. Es ist, als wolle er einen schwer Typhuskranken verprugeln. Der Dicke muß einen furchterlichen Schlag in die Organe erhalten haben, mit denen er sundigen wollte. Er unfuhig zu gehen. Karl kann ihn nicht einmal rauswerfen. Wir legen ihn in den Hintergrund auf das Abfalleder. "Das Schune bei Karl ist, daß es immer so gemutlich ist", sagt jemand, der versucht, das Klavier mit Bier zu trunken. ich habe durch die Große Straße nach Hause. Mein Kopf schwimmt; uber zuviel getrunken, aber das wollte ich auch. Der Nebel treibt uber die vereinzelten Lichter, die noch in den Schaufenstern brennen, und webt goldene Schleier um die Laternen. Im Fenster ein Schlachterladens bluht ein Alpenrosenstock neben einem geschlachteten Ferkel, dem eine Zitrone in die blasse Schnauze geklemmt worden ist. Wurste liegen traulich im Kreise herum. Es ist ein Stimmungsbild, das Schunheit und Zweck harmonisch vereint. Ich stehe eine Zeitlang davor und wandere dann weiter. Auf dem dunklen Hof pralle ich im Nebel gegen einen Schatten. Es ist der alte Knopf, der wieder einmal vor dem schwarzen Obelisken steht. Ich bin mit voller Wucht gegen ihn gerannt, und er taumelt und schlingt beide Arme um den Obelisken, als wolle er ihn erklettern. "Es tut mir leid, daß ich Sie gestoßen habe", sage ich. "Aber weshalb stehen Sie auch hier? Kunnen Sie Ihre Geschufte denn wirklich nicht in Ihrer Wohnung erledigen? Oder, wenn Sie schon ein Freiluftakrobat sind, warum nicht an einer Straßenecke?" Knopf lußt den Obelisken los. "Verdammt, jetzt ist es in die Hose gegangen", murmelt er. "Das schadet Ihnen nichts. Nun erledigen Sie den Rest meinetwegen schon hier." "Zu sput." Knopf stolpert zu seiner Tur hinuber. Ich gehe die Treppen hinauf und beschließe, Isabelle von dem Geld, das ich bei Karl Brill gewonnen habe, morgen einen Strauß Blumen zu schicken. Zwar bringt mir so etwas gewuhnlich nur Ungluck, aber ich weiß nun einmal nichts anderes. Eine Zeitlang stehe ich noch am Fenster und sehe hinaus in die Nacht und beginne dann etwas beschumt und sehr leise, Worte und Sutze zu flustern, die ich gerne einmal jemandem sagen muchte, aber fur die ich niemanden habe, außer vielleicht Isabelle - doch die weiß ja nicht einmal, wer ich uberhaupt bin. Doch wer weiß das schon von irgend jemand. 13 Der Reisende Oskar Fuchs, genannt Trunen-Oskar, sitzt im Buro. "Was gibt es, Herr Fuchs ?" frage ich. "Wie steht es mit der Grippe in den Durfern?" "Ziemlich harmlos. Die Bauern sind gut im Futter. In der Stadt ist es anders. Ich habe