Gustav Meyrink. Der Golem
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äÁÔÁ ÓÏÚÄÁÎÉÅ ÐÒÏÉÚ×ÅÄÅÎÉÑ: 1915 Ç.
ðÅÞÁÔÎÙÊ ÉÓÔÏÞÎÉË: Gustav Meyrink. Der Golem, Leipzig, 1916
OCR, Spellcheck: Serge Winitzki
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Leipzig
Kurt Wolff Verlag
1916
Vierter Abdruck. Dezember 1915
Copyright 1915 by Kurt Wolff Verlag Leipzig
Kapitelverzeichnis
Schlaf
Tag
I
Prag
Punsch
Nacht
Wach
Schnee
Spuk
Licht
Not
Angst
Trieb
Weib
List
Qual
Mai
Mond
Frei
Schluñ
Schlaf
Das Mondlicht fÄllt auf das Fuñende meines Bettes und liegt dort wie
ein groñer, heller, flacher Stein.
Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine
rechte Seite fÄngt an zu verfallen, - wie ein Gesicht, das dem Alter
entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert, - dann
bemÄchtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trØbe, qualvolle
Unruhe.
Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum vermischt sich in
meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und GehÃrtem, wie StrÃme von
verschiedener Farbe und Klarheit zusammenflieñen.
Ich hatte Øber das Leben des Buddha Gotama gelesen, ehe ich mich
niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder von vorne
beginnend durch meinen Sinn:
"Eine KrÄhe flog zu einem Stein hin, der wie ein StØck Fett aussah, und
dachte: vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die KrÄhe dort
nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort. Wie die KrÄhe, die sich dem
Stein genÄhert, so verlassen wir - wir, die Versucher, - den Asketen Gotama,
da wir den Gefallen an ihm verloren haben."
Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein StØck Fett, wÄchst ins
Ungeheuerliche in meinem Hirn:
Ich schreite durch ein ausgetrocknetes Fluñbett und hebe glatte Kiesel
auf.
Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, Øber die ich nachgrØble
und nachgrØble und doch mit ihnen nichts anzufangen weiñ, - dann schwarze
mit schwefelgelben Flecken wie die steingewordenen Versuche eines Kindes,
plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.
Und ich will sie weit von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen
sie mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich meiner Augen nicht
bannen.
Alle jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt, tauchen
auf rings um mich her.
Manche quÄlen sich schwerfÄllig ab, sich aus dem Sande ans Licht
emporzuarbeiten - wie groñe schieferfarbene Taschenkrebse, wenn die Flut
zurØckkommt, - und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf sich
zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.
Andere - erschÃpft - fallen kraftlos zurØck in ihre LÃcher und geben es
auf, je zu Worte zu kommen.
Zuweilen fahre ich empor aus dem DÄmmer dieser halben TrÄume und sehe
fØr einen Augenblick wiederum den Mondschein auf dem gebauschten Fuñende
meiner Decke liegen wie einen groñen, hellen, flachen Stein, um blind von
neuem hinter meinem schwindenden Bewuñtsein herzutappen, ruhelos nach jenem
Stein suchend, der mich quÄlt - der irgendwo verborgen im Schutte meiner
Erinnerung liegen muñ und aussieht wie ein StØck Fett.
Eine RegenrÃhre muñ einst neben ihm auf der Erde gemØndet haben, male
ich mir aus - stumpfwinklig abgebogen, die RÄnder von Rost zerfressen, - und
trotzig will ich mir im Geiste ein solches Bild erzwingen, um meine
aufgescheuchten Gedanken zu belØgen und in Schlaf zu lullen.
Es gelingt mir nicht.
Immer wieder und immer wieder mit alberner Beharrlichkeit behauptet
eine eigensinnige Stimme in meinem Innern - unermØdlich wie ein
Fensterladen, den der Wind in regelmÄñigen ZwischenrÄumen an die Mauer
schlagen lÄñt: es sei das ganz anders, das sei gar nicht der Stein, der wie
Fett aussehe.
Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.
Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebensÄchlich, so
schweigt sie wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder auf
und beginnt hartnÄckig von neuem: gut, gut, schon recht, es ist aber doch
nicht der Stein, der wie ein StØck Fett aussieht. -
Langsam beginnt sich meiner ein unertrÄgliches GefØhl von Hilflosigkeit
zu bemÄchtigen.
Wie es weiter gekommen ist, weiñ ich nicht. Habe ich freiwillig jeden
Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich ØberwÄltigt und geknebelt, meine
Gedanken?
Ich weiñ nur, mein KÃrper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind
losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. -
Wer ist jetzt "ich", will ich plÃtzlich fragen; da besinne ich mich,
dañ ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen kÃnnte;
dann fØrchte ich, die dumme Stimme werde wieder aufwachen und von neuem das
endlose VerhÃr Øber den Stein und das Fett beginnen.
Und so wende ich mich ab.
Da stand ich plÃtzlich in einem dØsteren Hofe und sah durch einen
rÃtlichen Torbogen gegenØber - jenseits der engen, schmutzigen Strañe -
einen jØdischen TrÃdler an einem GewÃlbe lehnen, das an den MauerrÄndern mit
altem EisengerØmpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten SteigbØgeln und
Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war.
Und dieses Bild trug das quÄlend EintÃnige an sich, das alle jene
EindrØcke kennzeichnet, die tagtÄglich so und so oft wie Hausierer die
Schwelle unserer Wahrnehmung Øberschreiten, und rief in mir weder Neugierde
noch øberraschung hervor.
Ich wurde mir bewuñt, dañ ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung
zu Hause war.
Auch diese Empfindung hinterlieñ mir trotz ihres Gegensatzes zu dem,
was ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt,
keinerlei tieferen Eindruck. - -
Ich muñ einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und
einem StØck Fett gehÃrt oder gelesen haben, drÄngte sich mir plÃtzlich der
Einfall auf, als ich die ausgetretenen Stufen zu meiner Kammer emporstieg
und mir Øber das speckige Aussehen der Steinschwellen flØchtige Gedanken
machte.
Da hÃrte ich Schritte die oberen Treppen Øber mir vorauslaufen, und als
ich zu meiner TØr kam, sah ich, dañ es die vierzehnjÄhrige, rothaarige
Rosina des TrÃdlers Aaron Wassertrum gewesen war.
Ich muñte dicht an ihr vorbei, und sie stand mit dem RØcken gegen das
StiegengelÄnder und bog sich lØstern zurØck.
Ihre schmutzigen HÄnde hatte sie um die Eisenstange gelegt, - zum Halt
- und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trØben Halbdunkel
hervorleuchteten.
Ich wich ihren Blicken aus.
Mich ekelte vor ihrem zudringlichen LÄcheln und diesem wÄchsernen
Schaukelpferdgesicht.
Sie muñ schwammiges, weiñes Fleisch haben wie der Axolotl, den ich
vorhin im SalamanderkÄfig bei dem VogelhÄndler gesehen habe, fØhlte ich.
Die Wimpern Rothaariger sind mir widerwÄrtig wie die eines Kaninchens.
Und ich sperrte auf und schlug rasch die TØr hinter mir zu. - -
Von meinem Fenster aus konnte ich den TrÃdler Aaron Wassertrum vor
seinem GewÃlbe stehen sehen.
Er lehnte am Eingang der dunklen WÃlbung und zwickte mit einer
Beiñzange an seinen FingernÄgeln herum.
War die rothaarige Rosina seine Tochter oder seine Nichte? Er hatte
keine ähnlichkeit mit ihr.
Unter den Judengesichtern, die ich Tag fØr Tag in der Hahnpañgasse
auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene StÄmme unterscheiden, die
sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen
verwischen lassen, wie sich Ãl und Wasser vermengen wird. Da darf man nicht
sagen: die dort sind BrØder oder Vater und Sohn.
Der gehÃrt zu jenem Stamm und dieser zu einem andern, das ist alles,
was sich aus den GesichtszØgen lesen lÄñt.
Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem TrÃdler Ähnlich sÄhe!
Diese StÄmme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der
sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft durchbricht, - aber sie
verstehen ihn geheimzuhalten vor der Auñenwelt, wie man ein gefÄhrliches
Geheimnis hØtet.
Kein einziges lÄñt ihn durchblicken, und in dieser øbereinstimmung
gleichen sie hañerfØllten Blinden, die sich an ein schmutzgetrÄnktes Seil
klammern: der eine mit beiden FÄusten, ein anderer nur widerwillig mit einem
Finger, alle aber von aberglÄubischer Furcht besessen, dañ sie dem Untergang
verfallen mØssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von den
Øbrigen trennen.
Rosina ist von jenem Stamme, dessen rothaariger Typus noch abstoñender
ist, als der der andern. Dessen MÄnner engbrØstig sind und lange HØhnerhÄlse
haben mit vorstehendem Adamsapfel.
Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr ganzes Leben leiden sie
unter brØnstigen Qualen, diese MÄnner, - und kÄmpfen heimlich gegen ihre
GelØste einen ununterbrochenen, erfolglosen Kampf, von immerwÄhrender
widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.
Ich war mir nicht klar, wieso ich Rosina Øberhaupt in
verwandtschaftliche Beziehungen mit dem TrÃdler Wassertrum bringen konnte.
Nie habe ich sie doch in der NÄhe des Alten gesehen oder bemerkt, dañ
sie jemals einander etwas zugerufen hÄtten.
Auch war sie fast immer in unserem Hofe oder drØckte sich in den
dunklen Winkeln und GÄngen unseres Hauses umher.
Sicherlich halten sie alle meine Mitbewohner fØr eine nahe Verwandte
oder zumindest Schutzbefohlene des TrÃdlers, und doch bin ich Øberzeugt, dañ
kein einziger einen Grund fØr solche Vermutungen anzugeben vermÃchte.
Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreiñen und sah von dem offenen
Fenster meiner Stube hinab auf die Hahnpañgasse.
Als habe Aaron Wassertrum meinen Blick gefØhlt, wandte er plÃtzlich
sein Gesicht zu mir empor.
Sein starres, grÄñliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der
klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.
Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinste BerØhrung
ihres Netzes spØrt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.
Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben?
Ich wuñte es nicht.
An den MauerrÄndern seines GewÃlbes hÄngen unverÄndert Tag fØr Tag,
jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge.
Mit geschlossenen Augen hÄtte ich sie hinzeichnen kÃnnen: hier die
verbogene Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt,
mit den so sonderbar zusammengestellten Soldaten. Dann eine Girlande
verrosteter Sporen an einem schimmligen Lederriemen und anderes halb
vermodertes GerØmpel.
Und vorne auf dem Boden, dicht nebeneinander geschichtet, so dañ
niemand die Schwelle des GewÃlbes Øberschreiten kann, eine Reihe runder
eiserner Herdplatten. -
Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier
und da einmal ein VorØbergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen
oder andern, geriet der TrÃdler in heftige Erregung.
In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte
empor und sprudelte gereizt irgend etwas UnverstÄndliches in einem
gurgelnden, stolpernden Bañ hervor, dañ dem KÄufer die Lust weiter zu fragen
verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.
Der Blick des Aaron Wassertrum war blitzschnell von meinen Augen
abgeglitten und ruhte jetzt mit gespanntem Interesse an den kahlen Mauern,
die vom Nebenhause an mein Fenster stoñen.
Was konnte er dort nur sehen?
Das Haus steht doch mit dem RØcken gegen die Hahnpañgasse, und seine
Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die Strañe gekehrt.
ZufÄllig schienen die RÄume, die nebenan in derselben StockhÃhe wie die
meinigen liegen - ich glaube, sie gehÃren zu einem winkligen Atelier - in
diesem Moment betreten worden zu sein, denn durch die Mauern hÃrte ich
plÃtzlich eine mÄnnliche und eine weibliche Stimme miteinander reden.
UnmÃglich konnte das aber der TrÃdler von unten aus wahrgenommen haben!
- -
Vor meiner TØr bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch
Rosina, die drauñen im Dunkeln steht in begehrlichem Warten, dañ ich sie
doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.
Und unten, ein halbes Stockwerk tiefer, lauert der blatternarbige,
halbwØchsige Loisa auf den Stiegen mit angehaltenem Atem, ob ich die TØr
Ãffnen werde, und ich spØre fÃrmlich den Hauch seines Hasses und seine
schÄumende Eifersucht bis herauf zu mir.
Er fØrchtet sich nÄher zu kommen und von Rosina bemerkt zu werden. Er
weiñ sich von ihr abhÄngig wie ein hungriger Wolf von seinem WÄrter und
mÃchte doch am liebsten aufspringen und besinnungslos seiner Wut die ZØgel
schieñen lassen! - - -
Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten und
Stichel hervor.
Aber ich konnte nichts fertigbringen und meine Hand war nicht ruhig
genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.
Das trØbe, dØstere Leben, das an diesem Hause hÄngt, lÄñt mein GemØt
nicht stillwerden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.
Loisa und sein Zwillingsbruder Jaromir sind wohl kaum ein Jahr Älter
als Rosina.
An ihren Vater, der HostienbÄcker gewesen, konnte ich mich kaum mehr
erinnern, und jetzt sorgt fØr sie, glaube ich, ein altes Weib.
Ich wuñte nur nicht, welche es war unter den vielen, die versteckt im
Hause wohnen wie KrÃten in ihrem Schlupfwinkel.
Sie sorgt fØr die beiden Jungen, das heiñt: sie gewÄhrt ihnen
Unterkunft; dafØr mØssen sie ihr abliefern, was sie gelegentlich stehlen
oder erbetteln. -
Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich konnte es mir nicht denken,
denn erst spÄt abends kommt die Alte heim.
LeichenwÄscherin soll sie sein.
Loisa, Jaromir und Rosina sah ich, als sie noch Kinder waren, oft
harmlos im Hof zu dritt spielen.
Die Zeit aber ist lang vorbei.
Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen JudenmÄdel her.
Zuweilen sucht er sie lange umsonst, und wenn er sie nirgends finden
kann, dann schleicht er sich vor meine TØr und wartet mit verzerrtem
Gesicht, dañ sie heimlich hierher komme.
Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste drauñen in
dem winkligen Gange lauern, den Kopf mit dem ausgemergelten Genick horchend
vorgebeugt.
Manchmal bricht dann durch die Stille plÃtzlich ein wilder LÄrm.
Jaromir, der taubstumm ist, und dessen ganzes Denken eine
ununterbrochene wahnsinnige Gier nach Rosina erfØllt, irrt wie ein wildes
Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell, das er, vor
Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstÃñt, klingt so schauerlich, dañ
einem das Blut in den Adern stockt.
Er sucht die beiden, die er stets beieinander vermutet - irgendwo in
einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel versteckt - in blinder Raserei,
immer von dem Gedanken gepeitscht, seinem Bruder auf den Fersen sein zu
mØssen, dañ nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.
Und gerade diese unaufhÃrliche Qual des KrØppels ist, ahnte ich, das
Reizmittel, das Rosina antreibt, sich stets von neuem mit dem andern
einzulassen.
Wird ihre Neigung oder Bereitwilligkeit schwÄcher, so ersinnt Loisa
immer wieder besondere Scheuñlichkeiten, um Rosinas Gier von neuem zu
entfachen.
Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen
und locken den Rasenden heimtØckisch hinter sich her in dunkle GÄnge, wo sie
aus rostigen Fañreifen, die in die HÃhe schnellen, wenn man auf sie tritt,
und eisernen Rechen - mit den Spitzen nach oben gekehrt - bÃsartige Fallen
errichtet haben, in die er stØrzen muñ und sich blutig fÄllt.
Von Zeit zu Zeit denkt sich Rosina, um die Folter aufs Äuñerste
anzuspannen, auf eigene Faust etwas HÃllisches aus.
Dann Ändert sie mit einem Schlage ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als
fÄnde sie plÃtzlich Gefallen an ihm.
Mit ihrer ewig lÄchelnden Miene teilt sie dem KrØppel hastig Dinge mit,
die ihn in eine fast irrsinnige Erregung versetzen, und sie hat sich dazu
eine geheimnisvoll scheinende, nur halbverstÄndliche Zeichensprache
ersonnen, die den Taubstummen rettungslos in ein unentwirrbares Netz von
Ungewiñheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muñ. -
Einmal sah ich ihn im Hofe vor ihr stehen, und sie sprach mit so
heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen auf ihn ein, dañ ich glaubte,
jeden Augenblick wØrde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.
Der Schweiñ lief ihm Øbers Gesicht vor Øbermenschlicher Anstrengung,
den Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilungen zu erfassen.
Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in Erwartung auf
den finsteren Stiegen eines halb versunkenen Hauses, das in der Fortsetzung
der engen, schmutzigen Hahnpañgasse liegt, - bis er die Zeit versÄumt hatte,
sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.
Und als er spÄt abends halbtot vor Hunger und Aufregung heim wollte,
hatte ihn die Pflegemutter lÄngst ausgesperrt. - - -
Ein frÃhliches Frauenlachen drang aus dem anstoñenden Atelier durch die
Mauern herØber zu mir.
Ein Lachen! - In diesen HÄusern ein frÃhliches Lachen? Im ganzen Getto
wohnt niemand, der frÃhlich lachen kÃnnte.
Da fiel mir ein, dañ mir vor einigen Tagen der alte Marionettenspieler
Zwakh anvertraute, ein junger, vornehmer Herr hÄtte ihm das Atelier teuer
abgemietet - offenbar, um mit der ErwÄhlten seines Herzens unbelauscht
zusammenkommen zu kÃnnen.
Nach und nach, jede Nacht, mØñten nun, damit niemand im Hause etwas
merke, die kostbaren MÃbel des neuen Mieters heimlich StØck fØr StØck
hinaufgeschafft werden.
Der gutmØtige Alte hatte sich vor VergnØgen die HÄnde gerieben, als er
es mir erzÄhlte, und sich kindlich gefreut, wie er alles so geschickt
angefangen habe: keiner der Mitbewohner kÃnne auch nur eine Ahnung von dem
romantischen Liebespaar haben.
Und von drei HÄusern aus sei es mÃglich, unauffÄllig in das Atelier zu
gelangen. - Sogar durch eine FalltØre gÄbe es einen Zugang!
Ja, wenn man die eiserne TØr des Bodenraumes aufklinke, - und das sei
von drØben aus sehr leicht, - kÃnne man an meiner Kammer, vorbei zu den
Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang benØtzen ...
Wieder klingt das frÃhliche Lachen herØber und lÄñt in mir die
undeutliche Erinnerung an eine luxuriÃse Wohnung und an eine adlige Familie
auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren AltertØmern kleine
Ausbesserungen vorzunehmen. -
PlÃtzlich hÃre ich nebenan einen gellenden Schrei. Ich horche
erschreckt.
Die eiserne BodentØr klirrt heftig, und im nÄchsten Augenblick stØrzt
eine Dame in mein Zimmer.
Mit aufgelÃstem Haar, weiñ wie die Wand, einen goldenen Brokatstoff
Øber die bloñen Schultern geworfen.
"Meister Pernath, verbergen Sie mich, - um Gottes Christi willen! -
fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!"
Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine TØr abermals aufgerissen und
sofort wieder zugeschlagen. -
Eine Sekunde lang hatte das Gesicht des TrÃdlers Aaron Wassertrum wie
eine scheuñliche Maske hereingegrinst. -
Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor mir auf, und im Schein des
Mondlichtes erkenne ich wiederum das Fuñende meines Bettes. Noch liegt der
Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel und der Name Pernath steht
in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.
Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? - Athanasius Pernath?
Ich glaube, ich glaube vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo
meinen Hut verwechselt, und ich wunderte mich damals, dañ er mir so genau
passe, wo ich doch eine hÃchst eigentØmliche Kopfform habe.
Und ich sah in den fremden Hut hinein - damals und - - ja, ja, dort
hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weiñen Futter:
ATHANASIUS PERNATH.
Ich hatte mich vor dem Hut gescheut und gefØrchtet, ich wuñte nicht
warum.
Da fÄhrt plÃtzlich die Stimme, die ich vergessen hatte, und die immer
von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie Fett ausgesehen habe, auf
mich los, gleich einem Pfeil.
Schnell male ich mir das scharfe, sØñlich grinsende Profil der roten
Rosina aus, und es gelingt mir auf diese Weise, dem Pfeil auszuweichen, der
sich sogleich in der Finsternis verliert.
Ja, das Gesicht der Rosina! Das ist doch noch stÄrker als die
stumpfsinnige plappernde Stimme; und gar, wo ich jetzt gleich wieder in
meinem Zimmer in der Hahnpañgasse geborgen sein werde, kann ich ganz ruhig
sein.
Wenn ich mich nicht getÄuscht habe in der Empfindung, dañ jemand in
einem gewissen, gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt,
in der Absicht, mich zu besuchen, so muñ er jetzt ungefÄhr auf dem letzten
Stiegenabsatz stehen.
Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine
Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des
oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muñ
er, mØhsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem TØrschild lesen.
Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum
Eingang.
Da Ãffnete sich die TØre, und er trat ein.
Nur wenige Schritte machte er auf mich zu und nahm weder den Hut ab,
noch sagte er ein Wort der BegrØñung.
So benimmt er sich, wenn er zu Hause ist, fØhlte ich, und ich fand es
ganz selbstverstÄndlich, dañ er so und nicht anders handelte.
Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.
Dann blÄtterte er lange drin herum.
Der Umschlag des Buches war aus Metall, und die Vertiefungen in Form
von Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgefØllt.
Endlich hatte er die Stelle gefunden, die er suchte, und deutete
darauf.
Das Kapitel hieñ "Ibbur", "die SeelenschwÄngerung", entzifferte ich.
Das groñe, in Gold und Rot ausgefØhrte Initial "I" nahm fast die HÄlfte
der ganzen Seite ein, die ich unwillkØrlich Øberflog, und war am Rande
verletzt.
Ich sollte es ausbessern.
Das Initial war nicht auf das Pergament geklebt, wie ich es bisher in
alten BØchern gesehen, schien vielmehr aus zwei Platten dØnnen Goldes zu
bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelÃtet waren und mit den Enden um die
RÄnder des Pergaments griffen.
Also muñte, wo der Buchstabe stand, ein Loch in das Blatt geschnitten
sein?
Wenn das der Fall war, muñte auf der nÄchsten Seite das "I" verkehrt
stehen?
Ich blÄtterte um und fand meine Annahme bestÄtigt.
UnwillkØrlich las ich auch diese Seite durch und die gegenØberliegende.
Und ich las weiter und weiter.
Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel
deutlicher. Und es rØhrte mein Herz an wie eine Frage.
Worte strÃmten aus einem unsichtbaren Munde, wurden lebendig und kamen
auf mich zu. Sie drehten sich und wandten sich vor mir wie buntgekleidete
Sklavinnen, sanken dann in den Boden oder verschwanden wie schillernder
Dunst in der Luft und gaben der nÄchsten Raum. Jede hoffte eine kleine
Weile, dañ ich sie erwÄhlen wØrde und auf den Anblick der Kommenden
verzichten.
Manche waren unter ihnen, die gingen prunkend einher wie Pfauen, in
schimmernden GewÄndern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.
Manche wie KÃniginnen, doch gealtert und verlebt, die Augenlider
gefÄrbt, - mit dirnenhaftem Zug um den Mund und die Runzeln mit hÄñlicher
Schminke verdeckt.
Ich sah an ihnen vorbei und nach den kommenden, und mein Blick glitt
Øber lange ZØge grauer Gestalten mit Gesichtern, so gewÃhnlich und
ausdrucksarm, dañ es unmÃglich schien, sie dem GedÄchtnis einzuprÄgen.
Dann brachten sie ein Weib geschleppt, das war splitternackt und
riesenhaft wie ein Erzkoloñ.
Eine Sekunde blieb das Weib vor mir stehen und beugte sich nieder zu
mir.
Ihre Wimpern waren so lang wie mein ganzer KÃrper, und sie deutete
stumm auf den Puls ihrer linken Hand.
Der schlug wie ein Erdbeben, und ich fØhlte, es war das Leben einer
ganzen Welt in ihr.
Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.
Ein Mann und ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen,
und immer nÄher brauste der Zug.
Jetzt hÃrte ich den hallenden Gesang der VerzØckten dicht vor mir, und
meine Augen suchten das verschlungene Paar.
Das aber hatte sich verwandelt in eine einzige Gestalt und sañ, halb
mÄnnlich, halb weiblich, - ein Hermaphrodit - auf einem Throne von
Perlmutter.
Und die Krone des Hermaphroditen endete in einem Brett aus rotem Holz;
darein hatte der Wurm der ZerstÃrung geheimnisvolle Runen genagt.
In einer Staubwolke kam eilig hinterdreingetrappelt eine Herde kleiner,
blinder Schafe: die Futtertiere, die der gigantische Zwitter in seinem
Gefolge fØhrte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.
Zuweilen waren unter den Gestalten, die aus dem unsichtbaren Munde
strÃmten, etliche, die kamen aus GrÄbern, - TØcher vor dem Gesicht.
Und blieben sie vor mir stehen, lieñen sie plÃtzlich ihre HØllen fallen
und starrten mit Raubtieraugen hungrig auf mein Herz, dañ ein eisiger
Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zurØckstaute wie ein Strom, in
den FelsblÃcke vom Himmel herniedergefallen sind - plÃtzlich und mitten in
sein Bette. -
Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte
es ab, und sie trug einen Mantel aus flieñenden TrÄnen. -
MaskenzØge tanzten vorØber, lachten und kØmmerten sich nicht um mich.
Nur ein Pierrot sieht sich nachdenklich um nach mir und kehrt zurØck.
Pflanzt sich vor mich hin und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es ein
Spiegel.
Er schneidet so seltsame Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald
zÃgernd, bald blitzschnell, dañ sich meiner ein gespenstiger Trieb
bemÄchtigt ihn nachzuahmen, mit den Augen zu zwinkern, mit den Achseln zu
zucken und die Mundwinkel zu verziehen.
Da stoñen ihn ungeduldig nachdrÄngende Gestalten zur Seite, die alle
vor meine Blicke wollen.
Doch keines der Wesen hat Bestand.
Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen
TÃne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Mund entstrÃmen.
Das war kein Buch mehr, das zu mir sprach. Das war eine Stimme. Eine
Stimme, die etwas von mir wollte, was ich nicht begriff; wie sehr ich mich
auch abmØhte. Die mich quÄlte mit brennenden, unverstÄndlichen Fragen.
Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und
ohne Widerhall.
Jeder Laut, der in der Welt der Gegenwart erklingt, hat viele Echos,
wie jegliches Ding einen groñen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch
diese Stimme hatte keine Echos mehr, - lange, lange schon sind sie wohl
verweht und verklungen. - - -
Und bis zu Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den
HÄnden, da war mir, als hÄtte ich suchend in meinem Gehirn geblÄttert und
nicht in einem Buche! - -
Alles, was mir die Stimme gesagt, hatte ich, seit ich lebte, in mir
getragen, nur verdeckt war es gewesen und vergessen und hatte sich vor
meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. -
Ich blickte auf.
Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte?
Fortgegangen!?
Wird er es holen, wenn es fertig ist?
Oder sollte ich es ihm bringen? -
Aber ich konnte mich nicht erinnern, dañ er gesagt hÄtte, wo er wohne.
Ich wollte mir seine Erscheinung ins GedÄchtnis zurØckrufen, doch es
miñlang.
Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? - Und welche
Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
Nichts, gar nichts mehr konnte ich mir vorstellen. - Alle Bilder, die
ich mir von ihm schuf, zerrannen haltlos, noch ehe ich sie im Geiste
zusammenzusetzen vermochte.
Ich schloñ die Augen und preñte die Hand auf die Lider, um einen
winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.
Nichts, nichts.
Ich stellte mich hin, mitten ins Zimmer, und blickte auf die TØr, wie
ich es getan - vorhin, als er gekommen war, und malte mir aus: jetzt biegt
er um die Ecke, jetzt schreitet er Øber den Ziegelsteinboden, liest jetzt
drauñen mein TØrschild "Athanasius Pernath" und jetzt tritt er herein.
Vergebens.
Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen,
wollte in mir erwachen.
Ich sah das Buch auf dem Tische liegen und wØnschte mir im Geiste die
Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.
Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblÃñt gewesen,
ob jung oder runzlig, mit Ringen geschmØckt oder nicht, konnte ich mich
entsinnen.
Da kam mir ein seltsamer Einfall.
Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.
Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den
Gang und die Treppen hinab. Dann kam ich langsam wieder zurØck in mein
Zimmer.
Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und als ich die
TØr Ãffnete, da sah ich, dañ meine Kammer voll DÄmmerung lag. War es denn
nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?
Wie lange muñte ich da gegrØbelt haben, dañ ich nicht bemerkte, wie
spÄt es ist!
Und ich versuchte den Unbekannten nachzuahmen in Gang und Mienen und
konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. -
Wie sollte es mir auch glØcken, ihn nachzuahmen, wenn ich keinen
Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.
Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.
Meine Haut, meine Muskeln, mein KÃrper erinnerten sich plÃtzlich, ohne
es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht wØnschte
und nicht beabsichtigte.
Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehÃrten!
Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, als ich
ein paar Schritte im Zimmer machte.
Das ist der Gang eines Menschen, der bestÄndig im Begriffe ist,
vornØber zu fallen, sagte ich mir.
Ja, ja, ja, so war sein Gang!
Ganz deutlich wuñte ich: so ist er.
Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden
Backenknochen und schaute aus schrÄgstehenden Augen.
Ich fØhlte es und konnte mich doch nicht sehen.
Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es
betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich in die
Tasche und holte ein Buch hervor.
Ganz so, wie er es vorhin getan hatte. -
Da plÃtzlich sitze ich wieder ohne Hut, ohne Mantel, am Tische und bin
ich. Ich, ich.
Athanasius Pernath.
Grausen und Entsetzen schØttelten mich, mein Herz raste zum
Zerspringen, und ich fØhlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem
Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.
Noch spØrte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer BerØhrung. -
Nun wuñte ich, wie der Fremde war, und ich hÄtte ihn wieder in mir
fØhlen kÃnnen, - jeden Augenblick - wenn ich nur gewollt hÄtte; aber sein
Bild mir vorzustellen, dañ ich es vor mir sehen wØrde Auge in Auge - das
vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie kÃnnen.
Es ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren
Linien ich nicht erfassen kann - in die ich selber hineinschlØpfen muñ, wenn
ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewuñt werden will
- -
In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; - in diese
wollte ich das Buch sperren und erst, wenn der Zustand der geistigen
Krankheit von mir gewichen sein wØrde, wollte ich es wieder hervorholen und
an die Ausbesserung des zerbrochenen Initialen "I" gehen.
Und ich nahm das Buch vom Tisch.
Da war mir, als hÄtte ich es gar nicht angefañt; ich griff die Kassette
an: dasselbe GefØhl. Als mØñte das Tastempfinden eine lange, lange Strecke
voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem Bewuñtsein mØndete, als
seien die Dinge durch eine jahresgroñe Zeitschicht von mir entfernt und
gehÃrten einer Vergangenheit an, die lÄngst an mir vorØbergezogen!
Die Stimme, die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit
dem fettigen Stein zu quÄlen, ist an mir vorbeigekommen und hat mich nicht
gesehen. Und ich weiñ, dañ sie aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was
ich erlebt, das war wirkliches Leben, - darum konnte sie mich nicht sehen
und sucht vergeblich nach mir, fØhle ich.
Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dØnnen,
fadenscheinigen øberziehers aufgeschlagen, und ich hÃrte, wie ihm vor KÄlte
die ZÄhne aufeinanderschlugen.
Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte
ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinØber in meine Wohnung zu kommen.
Er aber lehnte ab.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath," murmelte er frÃstelnd, "leider habe
ich nicht mehr so viel Zeit Øbrig; - ich muñ eilends in die Stadt. - Auch
wØrden wir bis auf die Haut nañ, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten
- schon nach wenigen Schritten! - - Der Platzregen will nicht schwÄcher
werden!"
Die Wasserschauer fegten Øber die DÄcher hin und liefen an den
Gesichtern der HÄuser herunter wie ein TrÄnenstrom.
Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drØben im vierten
Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen Øberrieselt, aussah, als seien
seine Scheiben aufgeweicht, - undurchsichtig und hÃckerig geworden wie
Hausenblase.
Ein gelber Schmutzbach floñ die Gasse herab, und der Torbogen fØllte
sich mit VorØbergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten
wollten.
"Dort schwimmt ein Brautbukett", sagte plÃtzlich Charousek und deutete
auf einen Strauñ aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben
kam.
DarØber lachte jemand hinter uns laut auf.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dañ es ein alter, vornehm gekleideter
Herr mit weiñem Haar und einem aufgedunsenen, krÃtenartigen Gesicht gewesen
war.
Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurØck und brummte etwas
vor sich hin.
Unangenehmes ging von dem Alten aus; - ich wandte meine Aufmerksamkeit
von ihm ab und musterte die miñfarbigen HÄuser, die da vor meinen Augen wie
verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten.
Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!
Ohne øberlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem
Boden dringt.
An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden
øberrest eines frØheren, langgestreckten GebÄudes, hat man sie angelehnt -
vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne RØcksicht auf die
Øbrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit
zurØckspringender Stirn; - ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.
Unter dem trØben Himmel sahen sie aus, als lÄgen sie im Schlaf, und man
spØlte nichts von dem tØckischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen
ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr
leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.
In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in
mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des
Nachts und im frØhesten Morgengrauen fØr sie gÄbe, wo sie erregt eine
lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fÄhrt da ein
schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklÄren lÄñt, GerÄusche
laufen Øber ihre DÄcher und fallen in den Regenrinnen nieder, - und wir
nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu
forschen.
Oft trÄumte mir, ich hÄtte diese HÄuser belauscht in ihrem spukhaften
Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, dañ sie die heimlichen,
eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und FØhlens entÄuñern
und es wieder an sich ziehen kÃnnen, - es tagsØber den Bewohnern, die hier
hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder
zurØckzufordern.
Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen,
wie Wesen - nicht von MØttern geboren, - die in ihrem Denken und Tun wie aus
StØcken wahllos zusammengefØgt scheinen, im Geiste an mir vorØberziehen, so
bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, dañ solche TrÄume in sich dunkle
Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie EindrØcke von farbigen
MÄrchen in der Seele fortglimmen.
Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem
kØnstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein
kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem
gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches
Zahlenwort hinter die ZÄhne schob.
Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte,
in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so
mØñten auch, dØnkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick
zusammenfallen, lÃschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein
nebensÄchliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen,
bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gÄnzlich Unbestimmtes,
Haltloses - in ihrem Hirn aus.
Was ist dabei fØr ein immerwÄhrendes, schreckhaftes Lauern in diesen
GeschÃpfen!
Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie
frØh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem
- wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.
Und hat es wirklich einmal den Anschein, als trÄte jemand in ihren
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern kÃnnten, dann fÄllt
plÃtzlich eine lÄhmende Angst Øber sie her, scheucht sie in ihre Winkel
zurØck und lÄñt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.
Niemand scheint schwach genug, dañ ihnen noch so viel Mut bliebe, sich
seiner zu bemÄchtigen.
"Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe
genommen ist", sagte Charousek zÃgernd und sah mich an. -
Wie konnte er wissen, woran ich dachte? -
So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, dañ sie imstande sind,
auf das Gehirn des Nebenstehenden Øberzuspringen wie sprØhende Funken,
fØhlte ich.
"- - - wovon sie nur leben mÃgen?" sagte ich nach einer Weile.
"Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein MillionÄr!"
Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!
Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.
FØr einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Torbogen
gestockt, und man hÃrte bloñ das Zischen des Regens.
Was er nur damit sagen will: "Mancher unter ihnen ist ein MillionÄr!?"
Wieder war es, als hÄtte Charousek meine Gedanken erraten. Er wies nach
dem TrÃdlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des EisengerØmpels in
flieñenden, braunroten PfØtzen vorbeispØlte.
"Aaron Wassertrum! Er zum Beispiel ist MillionÄr, - fast ein Drittel
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr Pernath?!"
Mir blieb fÃrmlich der Atem im Mund stecken. "Aaron Wassertrum! Der
TrÃdler Aaron Wassertrum MillionÄr?!"
"Oh, ich kenne ihn genau", fuhr Charousek verbissen fort, und als hÄtte
er nur darauf gewartet, dañ ich ihn frage. "Ich kannte auch seinen Sohn, den
Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehÃrt? Von Dr. Wassory, dem - berØhmten
- Augenarzt? - Vor einem Jahr noch hat die ganze Stadt begeistert von ihm
gesprochen, - von dem groñen - - Gelehrten. Niemand wuñte damals, dañ er
seinen Namen abgelegt und frØher Wassertrum geheiñen. - Er spielte sich
gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft hinaus, und wenn einmal
auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tiefbewegt so mit halben
Worten hin, dañ sein Vater noch aus dem Getto stamme, - sich aus den
niedrigsten AnfÄngen heraus unter Kummer aller Art und unsÄglichen Sorgen
empor ans Licht habe arbeiten mØssen.
Ja! Unter Kummer und Sorgen!
Unter wessen Kummer und unsÄglichen Sorgen aber und mit welchen
Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!
Ich aber weiñ, was es mit dem Getto fØr eine Bewandtnis hat!" Charousek
fañte meinen Arm und schØttelte ihn heftig.
"Meister Pernath, ich bin so arm, dañ ich es selbst kaum mehr begreife;
ich muñ halbnackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her, und ich bin doch
Student der Medizin, - bin doch ein gebildeter Mensch!"
Er riñ seinen øberzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen, dañ er
weder Hemd noch Rock anhatte und den Mantel Øber der nackten Haut trug.
"Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmÄchtigen,
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, - und noch heute ahnt keiner, dañ
ich, ich der eigentliche Urheber war.
Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen, der
seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord getrieben
hat. - Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug, sage ich Ihnen. Ich allein
habe den Plan erdacht und das Material zusammengetragen, habe die Beweise
geliefert und leise und unmerklich Stein um Stein in dem GebÄude Dr.
Wassorys gelockert, bis der Zustand erreicht war, wo kein Geld der Erde,
keine List des Gettos mehr vermocht hÄtten, den Zusammenbruch, zu dem es nur
noch eines unmerklichen Anstoñes bedurfte, abzuwenden.
Wissen Sie, so - so wie man Schach spielt.
Gerade so wie man Schach spielt.
Und niemand weiñ, dañ ich es war!
Den TrÃdler Aaron Wassertrum, den lÄñt wohl manchmal eine furchtbare
Ahnung nicht schlafen, dañ einer, den er nicht kennt, der immer in seiner
NÄhe ist und den er doch nicht fassen kann, - ein anderer als Dr. Savioli -
die Hand im Spiele gehabt haben mØsse.
Wiewohl Wassertrum einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu
schauen vermÃgen, so fañt er es doch nicht, dañ es Gehirne gibt, die
auszurechnen imstande sind, wie man mit langen, unsichtbaren, vergifteten
Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold und Edelsteinen
vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen."
Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild.
"Aaron Wassertrum wird es bald erfahren; genau an dem Tage, an dem er
Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!
Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten Zug. -
Diesmal wird es ein KÃnigslÄufergambit sein. Da gibt es keinen einzigen Zug
bis zum bittern Ende, gegen den ich nicht eine verderbliche Entgegnung
wØñte.
Wer sich mit mir in ein solches KÃnigslÄufergambit einlÄñt, der hÄngt
in der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen FÄden, -
an FÄden, die ich zupfe, - hÃren Sie wohl, die ich zupfe, und mit dessen
freiem Willen ist's dahin."
Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht.
"Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, dañ Sie so voll
Hañ sind?"
Charousek wehrte heftig ab:
"Lassen wir das - fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen
hat! - Oder wØnschen Sie, dañ wir ein andres Mal darØber sprechen? - Der
Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?"
Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plÃtzlich ganz ruhig wird. Ich
schØttelte den Kopf.
"Haben Sie jemals gehÃrt, wie man heutzutage den grØnen Star heilt? -
Nicht? - So muñ ich Ihnen das deutlich machen, damit Sie alles genau
verstehen, Meister Pernath!
HÃren Sie zu: Der ›grØne Star‹ also ist eine bÃsartige Erkrankung des
Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein Mittel, dem
Fortschreiten des øbels Einhalt zu tun, nÄmlich die sogenannte Iridektomie,
die darin besteht, dañ man aus der Regenbogenhaut des Auges ein keilfÃrmiges
StØckchen herauszwickt.
Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche
Blendungserscheinungen, die fØrs ganze Leben bleiben; der Prozeñ des
Erblindens jedoch ist meistens aufgehalten.
Mit der Diagnose des grØnen Stars hat es aber eine eigene Bewandtnis.
Es gibt nÄmlich Zeiten, besonders bei Beginn der Krankheit, wo die
deutlichsten Symptome scheinbar ganz zurØcktreten, und in solchen FÄllen
darf ein Arzt, obwohl er keine Spur einer Krankheit finden kann, dennoch
niemals mit Bestimmtheit sagen, dañ sein VorgÄnger, der andrer Meinung
gewesen, sich notwendigerweise geirrt haben mØsse.
Hat aber einmal die erwÄhnte Iridektomie, die sich natØrlich genauso an
einem gesunden Auge wie an einem kranken ausfØhren lÄñt, stattgefunden, so
kann man unmÃglich mehr feststellen, ob frØher wirklich grØner Star
vorgelegen hat oder nicht.
Und auf diese und noch andere UmstÄnde hatte Dr. Wassory einen
scheuñlichen Plan aufgebaut.
UnzÄhlige Male - besonders an Frauen - konstatierte er grØnen Star, wo
harmlose SehstÃrungen vorlagen, nur um zu einer Operation zu kommen, die ihm
keine MØhe machte und viel Geld eintrug.
Da endlich hatte er vollkommen Wehrlose in der Hand; da gehÃrte zum
AusplØndern auch keine Spur von Mut mehr!
Sehen Sie, Meister Pernath, da war das degenerierte Raubtier in jene
Lebensbedingungen versetzt, wo es auch ohne Waffe und Kraft seine Opfer
zerfleischen konnte.
Ohne etwas aufs Spiel zu setzen! - Begreifen Sie?! Ohne das geringste
wagen zu mØssen!
Durch eine Menge fauler VerÃffentlichungen in FachblÄttern hatte sich
Dr. Wassory in den Ruf eines hervorragenden Spezialisten zu setzen
verstanden und sogar seinen Kollegen, die viel zu arglos und anstÄndig
waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu streuen gewuñt.
Ein Strom von Patienten, die alle bei ihm Hilfe suchten, war die
natØrliche Folge.
Kam nun jemand mit geringfØgigen SehstÃrungen zu ihm und lieñ sich
untersuchen, so ging Dr. Wassory sofort mit tØckischer PlanmÄñigkeit zu
Werke.
Zuerst stellte er das Øbliche KrankenverhÃr an, notierte aber geschickt
immer nur, um fØr alle FÄlle gedeckt zu sein, jene Antworten, die eine
Deutung auf grØnen Star zulieñen.
Und vorsichtig sondierte er, ob nicht schon eine frØhere Diagnose
vorlÄge.
GesprÄchsweise lieñ er einflieñen, dañ ein dringender Ruf aus dem
Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher Mañnahmen an ihn ergangen sei
und er daher schon morgen verreisen mØsse. -
Bei der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die er sodann
vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich so viel Schmerzen wie mÃglich.
Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht!
Wenn das VerhÃr vorØber und die Øbliche bange Frage des Patienten, ob
Grund zur BefØrchtung vorhanden sei, erfolgt war, da tat Wassory seinen
ersten Schachzug.
Er setzte sich dem Kranken gegenØber, lieñ eine Minute verstreichen und
sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz:
"Erblindung beider Augen ist bereits in der allernÄchsten Zeit wohl
unvermeidlich!"
Die Szene, die naturgemÄñ folgte, war entsetzlich.
Oft fielen die Leute in Ohnmacht, weinten und schrien und warfen sich
in wilder Verzweiflung zu Boden.
Das Augenlicht verlieren, heiñt alles verlieren.
Und wenn der wiederum Øbliche Moment eintrat, wo das arme Opfer die
Knie Dr. Wassorys umklammerte und flehte, ob es denn auf Gottes Erde gar
keine Hilfe mehr gÄbe, da tat die Bestie den zweiten Schachzug und
verwandelte sich selbst in jenen - Gott, der helfen konnte!
Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachzug, Meister Pernath! -
Schleunigste Operation, sagte Dr. Wassory dann nachdenklich, sei das
einzige, was vielleicht Rettung bringen kÃnne, und mit einer wilden,
gierigen Eitelkeit, die plÃtzlich Øber ihn kam, erging er sich mit einem
Redeschwall in weitschweifigem Ausmalen dieses und jenes Falles, die alle
mit dem vorliegenden eine ungemein groñe ähnlichkeit gehabt hÄtten, - wie
unzÄhlige Kranke ihm allein die Erhaltung des Augenlichts verdankten und
dergleichen mehr.
Er schwelgte fÃrmlich in dem GefØhl, fØr eine Art hÃheren Wesens
gehalten zu werden, in dessen HÄnde das Wohl und Wehe seines Mitmenschen
gelegt ist.
Das hilflose Opfer aber sañ, das Herz voll brennender Fragen, gebrochen
vor ihm, Angstschweiñ auf der Stirne, und wagte ihm nicht einmal in die Rede
zu fallen, aus Furcht: ihn - den einzigen, der noch Hilfe bringen konnte -
zu erzØrnen.
Und mit den Worten, dañ er zur Operation leider erst in einigen Monaten
schreiten kÃnne, wenn er von seiner Reise wieder zurØck sei, schloñ Dr.
Wassory seine Rede.
Hoffentlich - man solle in solchen FÄllen immer das Beste hoffen - sei
es dann nicht zu spÄt, sagte er.
NatØrlich sprangen dann die Kranken entsetzt auf, erklÄrten, dañ sie
unter gar keinen UmstÄnden auch nur einen Tag lÄnger warten wollten, und
baten flehentlich um Rat, wer von den andern AugenÄrzten in der Stadt sonst
wohl als Operateur in Betracht kommen kÃnnte.
Da war der Augenblick gekommen, wo Dr. Wassory den entscheidenden
Schlag fØhrte.
Er ging in tiefem Nachdenken auf und ab, legte seine Stirn in Falten
des Grams und lispelte schlieñlich bekØmmert, ein Eingriff seitens eines
andern Arztes bedinge leider eine abermalige Bespiegelung des Auges mit
elektrischem Licht, und das mØsse - der Patient wisse ja selbst, wie
schmerzhaft es sei - wegen der blendenden Strahlen geradezu verhÄngnisvoll
wirken.
Ein andrer Arzt also, ganz abgesehen davon, dañ so manchem von ihnen
gerade in der Iridektomie die nÃtige øbung fehle - dØrfe, eben weil er
wiederum von neuem untersuchen mØsse, gar nicht vor Ablauf lÄngerer Zeit,
bis sich die Sehnerven wieder erholt hÄtten, zu einem chirurgischen Eingriff
schreiten."
Charousek ballte die FÄuste.
"Das nennen wir in der Schachsprache ›Zugzwang‹, lieber Meister
Pernath! - - Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, - ein erzwungener Zug
nach dem andern.
Halb wahnsinnig vor Verzweiflung beschwor nun der Patient den Dr.
Wassory, er mÃge doch Erbarmen haben, einen Tag nur seine Abreise
verschieben und die Operation selber vornehmen. - Es handle sich doch um
mehr als um schnellen Tod, die grauenhafte, folternde Angst, jeden
Augenblick erblinden zu mØssen, sei ja das Schrecklichste, was es geben
kÃnne.
Und je mehr das Scheusal sich strÄubte und jammerte: ein Aufschub
seiner Reise kÃnne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto hÃhere Summen
boten freiwillig die Kranken.
Schien schlieñlich die Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er nach und
fØgte bereits am selben Tage, ehe noch ein Zufall seinen Plan aufdecken
konnte, den Bedauernswerten an beiden gesunden Augen jenen unheilbaren
Schaden zu, jenes immerwÄhrende GefØhl des Geblendetseins, das das Leben zu
stetiger Qual gestalten muñte, die Spuren des Schurkenstreiches aber ein fØr
allemal verwischte.
Durch solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. Wassory nicht
nur seinen Ruhm und seinen Ruf als unvergleichlicher Arzt, dem es noch
jedesmal gelungen sei, die drohende Erblindung aufzuhalten, - es befriedigte
gleichzeitig seine mañlose Geldgier und frÃnte seiner Eitelkeit, wenn die
ahnungslosen, an KÃrper und VermÃgen geschÄdigten Opfer zu ihm wie zu einem
Helfer aufsahen und ihn als Retter priesen.
Nur ein Mensch, der mit allen Fasern im Getto und seinen zahllosen,
unscheinbaren, jedoch unØberwindlichen Hilfsquellen wurzelte und von
Kindheit an gelernt hat, auf der Lauer zu liegen wie eine Spinne, der jeden
Menschen in der Stadt kannte und bis ins kleinste seine Beziehungen und
VermÃgensverhÄltnisse erriet und durchschaute, - nur ein solcher -
"Halbhellseher" mÃchte man es beinahe nennen, - konnte jahrelang derartige
Scheuñlichkeiten verØben.
Und wÄre ich nicht gewesen, bis heute triebe er sein Handwerk noch,
wØrde es bis ins hohe Alter weiterbetrieben haben, um schlieñlich als
ehrwØrdiger Patriarch im Kreise seiner Lieben, angetan mit hohen Ehren,
kØnftigen Geschlechtern ein leuchtendes Vorbild, seinen Lebensabend zu
genieñen, bis - bis endlich auch Øber ihn das groñe Verrecken hinweggezogen
wÄre.
Ich aber wuchs ebenfalls im Getto auf, und auch mein Blut ist mit jener
AtmosphÄre hÃllischer List gesÄttigt, und so vermochte ich ihn zu Fall zu
bringen, - so wie die Unsichtbaren einen Menschen zu Fall bringen, - wie aus
heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft.
Dr. Savioli, ein junger deutscher Arzt, hat das Verdienst der
Entlarvung, - ihn schob ich vor und hÄufte Beweis auf Beweis, bis der Tag
anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory ausstreckte.
Da beging die Bestie Selbstmord! - Gesegnet sei die Stunde!
Als hÄtte mein DoppelgÄnger neben ihm gestanden und ihm die Hand
gefØhrt, nahm er sich das Leben mit jener Phiole Amylnitrit, die ich
absichtlich in seinem Ordinationszimmer bei der Gelegenheit hatte
stehenlassen, als ich selbst ihn einmal verleitet, auch an mir die falsche
Diagnose des grØnen Stars zu stellen, - absichtlich und mit dem glØhenden
Wunsche, dañ es dieses Amylnitrit sein mÃchte, das ihm den letzten Stoñ
geben sollte.
Der Gehirnschlag hÄtte ihn getroffen, hieñ es in der Stadt.
Amylnitrit tÃtet, eingeatmet, wie Gehirnschlag. Aber lange konnte das
GerØcht nicht aufrechterhalten werden."
Charousek starrte plÃtzlich geistesabwesend, als habe er sich in ein
tiefes Problem verloren, vor sich hin, dann zuckte er mit der Achsel nach
der Richtung, wo Aaron Wassertrums TrÃdlerladen lag.
"Jetzt ist er allein," murmelte er, "ganz allein mit seiner Gier und -
und - und mit der Wachspuppe!"
Mir schlug das Herz bis zum Hals.
Ich sah Charousek voll Entsetzen an.
War er wahnsinnig? Es muñten Fieberphantasien sein, die ihn diese Dinge
erfinden lieñen.
Gewiñ, gewiñ! Er hat alles erfunden, getrÄumt!
Es kann nicht wahr sein, was er da Øber den Augenarzt Grauenhaftes
erzÄhlt hat. Er ist schwindsØchtig, und die Fieber des Todes kreisen in
seinem Hirn.
Und ich wollte ihn mit ein paar scherzenden Worten beruhigen, seine
Gedanken in eine freundliche Richtung lenken.
Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine Erinnerung
das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, wie es damals in mein
Zimmer mit runden Fischaugen durch die aufgerissene TØr hereingeschaut
hatte.
Dr. Savioli! Dr. Savioli! - ja, ja, so war auch der Name des jungen
Mannes gewesen, den mir der Marionettenspieler Zwakh flØsternd anvertraut
als den des vornehmen Zimmerherrn, der von ihm das Atelier gemietet hatte.
Dr. Savioli! - Wie ein Schrei tauchte es in meinem Innern auf. Eine
Reihe nebelhafter Bilder zuckte durch meinen Geist, jagte sich mit
schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstØrmten.
Ich wollte Charousek fragen, ihm voll Angst rasch alles erzÄhlen, was
ich damals erlebt, da sah ich, dañ ein heftiger Hustenanfall sich seiner
bemÄchtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch unterscheiden, wie
er sich mØhsam mit den HÄnden an der Mauer stØtzend in den Regen
hinaustappte und mir einen flØchtigen Gruñ zunickte.
Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, - fØhlte ich, - das
unfañbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese Gassen schleicht
Tag und Nacht und sich zu verkÃrpern sucht.
Es liegt in der Luft, und wir sehen es nicht. PlÃtzlich schlÄgt es sich
nieder in einer Menschenseele, - wir ahnen es nicht, - da, dort, und ehe wir
es fassen kÃnnen, ist es gestaltlos geworden und alles lÄngst vorØber.
Und nur noch dunkle Worte Øber irgendein entsetzliches Geschehnis
kommen an uns heran.
Mit einem Schlage begriff ich diese rÄtselhaften GeschÃpfe, die rings
um mich wohnten, in ihrem innersten Wesen: sie treiben willenlos durchs
Dasein von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt - - so, wie vorhin
das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vorØberschwamm.
Mir war, als starrten die HÄuser alle mit tØckischen Gesichtern voll
namenloser Bosheit auf mich herØber, - die Tore: aufgerissene schwarze
MÄuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, - Rachen, die jeden
Augenblick einen gellenden Schrei ausstoñen konnten, so gellend und
hañerfØllt, dañ es uns bis ins Innerste erschrecken mØñte.
Was hatte zum Schluñ noch der Student Øber den TrÃdler gesagt? - Ich
flØsterte mir seine Worte vor: - Aaron Wassertrum sei jetzt allein mit
seiner Gier und - - seiner Wachspuppe.
Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben?
Es muñ ein Gleichnis gewesen sein, beschwichtigte ich mich, - eines
jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen zu Øberfallen pflegt, die
man nicht versteht, und die einen, wenn sie spÄter unerwartet sichtbar
werden, so tieferschrecken kÃnnen wie die Dinge von ungewohnter Form, auf
die plÃtzlich ein greller Lichtstreif fÄllt.
Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen und den furchtbaren Eindruck,
den mir Charouseks ErzÄhlung verursacht hatte, abzuschØtteln.
Ich sah die Leute genauer an, die mit mir in dem Hausflur warteten:
Neben mir stand jetzt der dicke Alte. Derselbe, der vorhin so widerlich
gelacht hatte.
Er hatte einen schwarzen Gehrock an und Handschuhe und starrte mit
vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegenØber.
Sein glattrasiertes Gesicht mit den breiten, gemeinen ZØgen zuckte vor
Erregung.
UnwillkØrlich folgte ich seinen Blicken und bemerkte, dañ sie wie
gebannt an der rothaarigen Rosina hingen, die drØben jenseits der Gasse
stand, ihr immerwÄhrendes LÄcheln um die Lippen.
Der Alte war bemØht, ihr Zeichen zu geben, und ich sah, dañ sie es wohl
wuñte, aber sich benahm, als verstØnde sie nicht.
Endlich hielt es der Alte nicht lÄnger aus, watete auf den Fuñspitzen
hinØber und hØpfte mit lÄcherlicher ElastizitÄt wie ein groñer schwarzer
Gummiball Øber die PfØtzen.
Man schien ihn zu kennen, denn ich hÃrte allerhand Glossen fallen, die
darauf hinzielten. Ein Strolch hinter mir, ein rotes, gestricktes Tuch um
den Hals, mit blauer MilitÄrmØtze, die Virginia hinter dem Ohr, machte mit
grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht verstand.
Ich begriff nur, dañ sie den Alten in der Judenstadt den "Freimaurer"
nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemand bezeichnen
wollten, der sich an halbwØchsigen MÄdchen zu vergehen pflegt, aber durch
intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe sicher ist. - - -
Dann waren das Gesicht Rosinas und der Alte drØben im Dunkel des
Hausflures verschwunden.
Wir hatten das Fenster geÃffnet, um den Tabakrauch aus meinem kleinen
Zimmer strÃmen zu lassen.
Der kalte Nachtwind blies herein und wehte an die zottigen MÄntel, die
an der TØre hingen, dañ sie leise hin und her schwankten.
"Prokops wØrdige Haupteszierde mÃchte am liebsten davonfliegen", sagte
Zwakh und deutete auf des Musikers groñen Schlapphut, der die breite Krempe
bewegte wie schwarze FlØgel.
Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.
"Er will," sagte er, "er will wahrscheinlich - - -"
"Er will zum ›Loisitschek‹ zur Tanzmusik", nahm ihm Vrieslander das
Wort vorweg.
Prokop lachte und schlug mit der Hand den Takt zu den KlÄngen, die die
dØnne Winterluft her Øber die DÄcher trug.
Dann nahm er meine alte, zerbrochene Gitarre von der Wand, tat, als
zupfe er die zerbrochenen Saiten und sang mit kreischendem Falsett und
gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:
"An Bein-del von Ei-sen
recht alt
"An Stran-zen net gar
a so kalt
"Messinung, a' RÄucherl
und Rohn
"und immerrr nurr putz-en - - -
"Wie groñartig er mit einem Mal die Gaunersprache beherrscht!" und
Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:
"Und stok-en sich Aufzug
und Pfiff
"Und schmallern an eisernes
G'sØff.
"Juch, -
"Und Handschuhkren, Harom net san - -
"Dieses kuriose Lied schnarrt jeden Abend beim ›Loisitschek‹ der
meschuggene Nephtali Schaffranek mit dem grØnen Augenschirm, und ein
geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und grÃlt den Text dazu", erklÄrte
mir Zwakh. "Sie sollten auch einmal mit uns in diese Schenke gehen, Meister
Pernath. SpÄter vielleicht, wenn wir mit dem Punsch zu Ende sind, - was
meinen Sie? Zur Feier Ihres heutigen Geburtstages?"
"Ja, ja, kommen Sie nachher mit uns", sagte Prokop und klinkte das
Fenster zu, - "man muñ so etwas gesehen haben."
Dann tranken wir den heiñen Punsch und hingen unsern Gedanken nach.
Vrieslander schnitzte an einer Marionette.
"Sie haben uns fÃrmlich von der Auñenwelt abgeschnitten, Josua,"
unterbrach Zwakh die Stille, "seit Sie das Fenster geschlossen haben, hat
niemand mehr ein Wort gesprochen."
"Ich dachte nur darØber nach, als vorhin die MÄntel so flogen, wie
seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt," antwortete Prokop
schnell, wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: "Es sieht gar
so wunderlich aus, wenn GegenstÄnde plÃtzlich zu flattern anheben, die sonst
immer tot daliegen. Nicht? - Ich sah einmal auf einem menschenleeren Platz
zu, wie groñe Papierfetzen, - ohne dañ ich vom Winde etwas spØrte, denn ich
stand durch ein Haus gedeckt, - in toller Wut im Kreise herumjagten und
einander verfolgten, als hÄtten sie sich den Tod geschworen. Einen
Augenblick spÄter schienen sie sich beruhigt zu haben, aber plÃtzlich kam
wieder eine wahnwitzige Erbitterung Øber sie, und in sinnlosem Grimm rasten
sie umher, drÄngten sich in einen Winkel zusammen, um von neuem besessen
auseinander zu stieben und schlieñlich hinter einer Ecke zu verschwinden.
Nur eine dicke Zeitung konnte nicht mitkommen; sie blieb auf dem
Pflaster liegen und klappte hañerfØllt auf und zu, als sei ihr der Atem
ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was, wenn am Ende wir
Lebewesen auch so etwas ähnliches wÄren wie solche Papierfetzen? - Ob nicht
vielleicht ein unsichtbarer, unbegreiflicher "Wind" auch uns hin und her
treibt und unsre Handlungen bestimmt, wÄhrend wir in unserer Einfalt glauben
unter eigenem, freiem Willen zu stehen?
Wie, wenn das Leben in uns nichts anderes wÄre als ein rÄtselhafter
Wirbelwind? Jener Wind, von dem die Bibel sagt: Weiñt du, von wannen er
kommt und wohin er geht? - - - TrÄumen wir nicht auch zuweilen, wir griffen
in tiefes Wasser und fingen silberne Fische, und nichts anderes ist
geschehen, als dañ ein kalter Luftzug unsere HÄnde traf?"
"Prokop, Sie sprechen in Worten wie Pernath, was ist's mit Ihnen?"
sagte Zwakh und sah den Musiker miñtrauisch an.
"Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erzÄhlt wurde, - schade, dañ
Sie so spÄt kamen und sie nicht mit anhÃrten, - hat ihn so nachdenklich
gestimmt", meinte Vrieslander.
"Eine Geschichte von einem Buche?"
"Eigentlich von einem Menschen, der ein Buch brachte und seltsam
aussah. - Pernath weiñ nicht, wie er heiñt, wo er wohnt, was er wollte, und
obwohl sein Aussehen sehr auffallend gewesen sein soll, lasse es sich doch
nicht recht schildern."
Zwakh horchte auf.
*"Das ist sehr merkwØrdig," sagte er nach einer Pause, "war der Fremde
vielleicht bartlos, und hatte er schrÄgstehende Augen?"
"Ich glaube," antwortete ich, "das heiñt, ich - ich - weiñ es ganz
bestimmt. Kennen Sie ihn denn?"
Der Marionettenspieler schØttelte den Kopf. "Er erinnerte mich nur an
den ›Golem‹."
Der Maler Vrieslander lieñ sein Schnitzmesser sinken:
"Golem? - Ich habe schon so viel davon reden hÃren. Wissen Sie etwas
Øber den Golem, Zwakh?"
"Wer kann sagen, dañ er Øber den Golem etwas wisse?", antwortete Zwakh
und zuckte die Achseln. "Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines
Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plÃtzlich wieder
aufleben lÄñt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die
GerØchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so Øbertrieben und aufgebauscht,
dañ sie schlieñlich an der eigenen UnglaubwØrdigkeit zugrunde gehen. Der
Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurØck, sagt
man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da
einen kØnstlichen Menschen - den sogenannten Golem - verfertigt haben, damit
er ihm als Diener helfe die Glocken in der Synagoge lÄuten, und allerhand
grobe Arbeit tue.
Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein
dumpfes, halbbewuñtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heiñt, auch das nur
tagsØber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm hinter
den ZÄhnen stak und die freien siderischen KrÄfte des Weltalls herabzog.
Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem
Munde des Golem zu nehmen versÄumt, da wÄre dieser in Tobsucht verfallen, in
der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hÄtte zerschlagen, was ihm in den
Weg gekommen.
Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
Und da sei das GeschÃpf leblos niedergestØrzt. Nichts blieb von ihm
Øbrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drØben in der
Altneusynagoge gezeigt wird."
"Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Kaiser auf die Burg berufen
worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sichtbar gemacht
haben," warf Prokop ein, "moderne Forscher behaupten, er habe sich dazu
einer Laterna magica bedient."
"Jawohl, keine ErklÄrung ist abgeschmackt genug, dañ sie bei den
Heutigen nicht Beifall fÄnde," fuhr Zwakh unbeirrt fort. - "Eine Laterna
magica!! Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben solchen Dingen
nachging, einen so plumpen Schwindel nicht auf den ersten Blick hÄtte
durchschauen mØssen!
Ich kann freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zurØckfØhren
lÄñt, dañ aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel
sein Wesen treibt und damit zusammenhÄngt, dessen bin ich sicher. Von
Geschlecht zu Geschlecht haben meine Vorfahren hier gewohnt, und niemand
kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das periodische
Auftauchen des Golem zurØckblicken als gerade ich!"
Zwakh hatte plÃtzlich aufgehÃrt zu reden, und man fØhlte mit ihm, wie
seine Gedanken in vergangene Zeiten zurØckwanderten.
Wie er, den Kopf aufgestØtzt, dort am Tische sañ und beim Scheine der
Lampe seine roten, jugendlichen BÄckchen fremdartig von dem weiñen Haar
abstachen, verglich ich unwillkØrlich im Geiste seine ZØge mit den
maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.
Seltsam, wie Ähnlich ihnen der alte Mann doch sah!
Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
Manche Dinge der Erde kÃnnen nicht loskommen voneinander, fØhlte ich,
und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorØberziehen lieñ, da schien
es mir mit einemmal gespenstisch und ungeheuerlich, dañ ein Mensch wie er,
obschon er eine bessere Erziehung als seine Vorfahren genossen hatte und
Schauspieler hÄtte werden sollen, plÃtzlich wieder zu dem schÄbigen
Marionettenkasten zurØckkehren konnte, um nun abermals auf die JahrmÄrkte zu
ziehen und dieselben Puppen, die schon seiner VorvÄter kØmmerliches
Erwerbsmittel gewesen, von neuem ihre ungelenken Verbeugungen machen und
schlÄfrigen Erlebnisse vorfØhren zu lassen.
Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich; sie leben
mit von seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da haben sie sich in
Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und ruhelos
gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum hÄlt er sie jetzt so liebevoll und
kleidet sie stolz in Flitter.
"Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzÄhlen?" forderte Prokop den Alten
auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob auch wir gleichen
Wunsches seien.
"Ich weiñ nicht, wo ich anfangen soll," meinte der Alte zÃgernd, "die
Geschichte mit dem Golem lÄñt sich schwer fassen. So wie Pernath vorhin
sagte: er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch kÃnne
er ihn nicht schildern. UngefÄhr alle dreiunddreiñig Jahre wiederholt sich
ein Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders Aufregendes an sich
trÄgt und dennoch ein Entsetzen verbreitet, fØr das weder eine ErklÄrung
noch eine Rechtfertigung ausreicht:
Immer wieder begibt es sich nÄmlich, dañ ein vollkommen fremder Mensch,
bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus, aus der Richtung
der Altschulgasse her, in altmodische, verschossene Kleider gehØllt,
gleichmÄñigen und eigentØmlich stolpernden Ganges, so, als wolle er jeden
Augenblick vornØber fallen, durch die Judenstadt schreitet und plÃtzlich -
unsichtbar wird.
GewÃhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
Ein andermal heiñt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben
und sei zu dem Punkte zurØckgekehrt, von dem er ausgegangen: einem uralten
Hause in der NÄhe der Synagoge.
Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie hÄtten ihn um eine Ecke auf
sich zukommen sehen. Wiewohl er ihnen aber ganz deutlich
entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Gestalt sich
in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner geworden und -
schlieñlich ganz verschwunden.
Vor Sechsundsechzig Jahren nun muñ der Eindruck, den er hervorgebracht,
besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich - ich war noch ein ganz
kleiner Junge -, dañ man das GebÄude in der Altschulgasse damals von oben
bis unten durchsuchte.
Es wurde auch festgestellt, dañ wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit
Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
Aus allen Fenstern hatte man WÄsche gehÄngt, um von der Gasse aus einen
Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache auf die Spur
gekommen.
Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem
Strick vom Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum aber war er in die
NÄhe des Fensters gelangt, da riñ das Seil, und der UnglØckliche
zerschmetterte sich auf dem Pflaster den SchÄdel. Und als spÄter der Versuch
nochmals wiederholt werden sollte, gingen die Ansichten Øber die Lage des
Fensters derart auseinander, dañ man davon abstand.
Ich selber begegnete dem ›Golem‹ das erste Mal in meinem Leben vor
ungefÄhr dreiunddreiñig Jahren.
Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu, und wir rannten
fast aneinander.
Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein
muñ. Man trÄgt doch um Gottes willen nicht immerwÄhrend, tagaus tagein die
Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen.
In jenem Augenblick aber, bestimmt - ganz bestimmt, noch ehe ich seiner
ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der Golem! Und im
selben Moment stolperte jemand aus dem Dunkel des Torflures hervor, und
jener Unbekannte ging an mir vorØber. Eine Sekunde spÄter drang eine Flut
bleicher, aufgeregter Gesichter mir entgegen, die mich mit Fragen
bestØrmten, ob ich ihn gesehen hÄtte.
Und als ich antwortete, da fØhlte ich, dañ sich meine Zunge wie aus
einem Krampfe lÃste, von dem ich vorher nichts gespØrt hatte.
Ich war fÃrmlich Øberrascht, dañ ich mich bewegen konnte, und deutlich
kam mir zum Bewuñtsein, dañ ich mich, wenn auch nur den Bruchteil eines
Herzschlags lang - in einer Art Starrkrampf befunden haben muñte.
øber all das habe ich oft und lange nachgedacht, und mich dØnkt, ich
komme der Wahrheit am nÄchsten, wenn ich sage: Immer einmal in der Zeit
eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie durch die
Judenstadt, befÄllt die Seelen der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der uns
verhØllt bleibt, und lÄñt wie eine Luftspiegelung die Umrisse eines
charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht vorjahrhunderten hier
gelebt hat und nach Form und Gestaltung dØrstet.
Vielleicht ist es mitten unter uns, Stunde fØr Stunde, und wir nehmen
es nicht wahr. HÃren wir doch auch den Ton einer schwirrenden Stimmgabel
nicht, bevor sie das Holz berØhrt und es mitschwingen macht.
Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne
innewohnendes Bewuñtsein, - ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein Kristall
nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herauswÄchst.
Wer weiñ das?
Wie in schwØlen Tagen die elektrische Spannung sich bis zur
UnertrÄglichkeit steigert und endlich den Blitz gebiert, kÃnnte es da nicht
sein, dañ auch auf die stetige AnhÄufung jener niemals wechselnden Gedanken,
die hier im Getto die Luft vergiften, eine plÃtzliche, ruckweise Entladung
folgen muñ? - eine seelische Explosion, die unser Traumbewuñtsein ans
Tageslicht peitscht, um - dort den Blitz der Natur - hier ein Gespenst zu
schaffen, das in Mienen, Gang und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der
Massenseele unfehlbar offenbaren mØñte, wenn man die geheime Sprache der
Formen nur richtig zu deuten verstØnde?
Und wie mancherlei Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes ankØnden,
so verraten auch hier gewisse grauenhafte Vorzeichen das drohende
Hereinbrechen jenes Phantoms ins Reich der Tat. Der abblÄtternde Bewurf
einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die einem schreitenden Menschen
gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich ZØge starrer Gesichter. Der
Sand vom Dache scheint anders zu fallen als sonst und drÄngt dem
argwÃhnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die
sich lichtscheu verborgen hÄlt, werfe ihn herab und Øbe sich in heimlichen
Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen. - Ruht das Auge auf
eintÃnigem Geflecht oder den Unebenheiten der Haut, bemÄchtigt sich unser
die unerfreuliche Gabe, Øberall mahnende, bedeutsame Formen zu sehen, die in
unsern TrÄumen ins Riesengroñe auswachsen. Und immer zieht sich durch solche
schemenhaften Versuche der angesammelten Gedankenherden, die WÄlle der
AlltÄglichkeit zu durchnagen, fØr uns wie ein roter Faden die qualvolle
Gewiñheit, dañ unser eigenstes Inneres mit Vorbedacht und gegen unsern
Willen ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms plastisch werden
kÃnne.
Wie ich nun vorhin Pernath bestÄtigen hÃrte, dañ ihm ein Mensch
begegnet sei, bartlos, mit schiefgestellten Augen, da stand der "Golem" vor
mir, wie ich ihn damals gesehen.
Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.
Und eine gewisse dumpfe Furcht, es stehe wieder etwas UnerklÄrliches
nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang; dieselbe Angst, die ich schon
einmal in meinen Kinderjahren verspØrt, als die ersten spukhaften äuñerungen
des Golem ihre Schatten vorauswarfen.
Sechsundsechzig Jahre ist das wohl jetzt her und knØpft sich an einen
Abend, an dem der BrÄutigam meiner Schwester zu Besuch gekommen war, und in
der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt werden sollte.
Es wurde damals Blei gegossen - zum Scherz - und ich stand mit offenem
Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten habe, - in meiner wirren,
kindlichen Vorstellung brachte ich es in Zusammenhang mit dem Golem, von dem
ich meinen Groñvater oft hatte erzÄhlen hÃren, und bildete mir ein, jeden
Augenblick mØsse die TØr aufgehen und der Unbekannte eintreten.
Meine Schwester leerte dann den LÃffel mit dem flØssigen Metall in das
Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, lustig an.
Mit welken, zitternden HÄnden holte mein Groñvater den blitzenden
Bleiklumpen heraus und hielt ihn ans Licht. Gleich darauf entstand eine
allgemeine Erregung. Man redete laut durcheinander; ich wollte mich
hinzudrÄngen, aber man wehrte mich ab.
SpÄter, als ich Älter geworden, erzÄhlte mir mein Vater, es wÄre damals
das geschmolzene Metall zu einem kleinen, ganz deutlichen Kopf erstarrt
gewesen, - glatt und rund, wie nach einer Form gegossen, und von
unheimlicher ähnlichkeit mit den ZØgen des "Golem", dañ sich alle entsetzt
hÄtten.
Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah Hillel, der die Requisiten
der Altneusynagoge in Verwahrung hat und auch die gewisse Lehmfigur aus
Kaiser Rudolfs Zeiten, darØber. Er hat sich mit Kabbala befañt und meint,
jener Erdklumpen mit den menschlichen Gliedmañen sei vielleicht nichts
anderes als ein ehemaliges Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall der
bleierne Kopf. Und der Unbekannte, der da umgehe, mØsse das Phantasie- oder
Gedankenbild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig
gedacht habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in
regelmÄñigen Zeitabschnitten, bei den gleichen astrologischen
Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden - wiederkehre, vom Triebe
nach stofflichem Leben gequÄlt.
Auch Hillels verstorbene Frau hatte den "Golem" von Angesicht zu
Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefØhlt, dañ man sich im Starrkrampf
befindet, solange das rÄtselhafte Wesen in der NÄhe weilt.
Sie sagte, sie sei felsenfest Øberzeugt gewesen, dañ es damals nur ihre
eigene Seele habe sein kÃnnen, die - aus dem KÃrper getreten - ihr einen
Augenblick gegenØbergestanden und mit den ZØgen eines fremden GeschÃpfes ins
Gesicht gestarrt hÄtte.
Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemÄchtigt, habe
sie doch keine Sekunde die Gewiñheit verlassen, dañ jener andere nur ein
StØck ihres eignen Innern sein konnte." -
"Es ist unglaublich", murmelte Prokop in Gedanken verloren.
Auch der Maler Vrieslander schien ganz in GrØbeln versunken.
Da klopfte es an die TØre und das alte Weib, das mir des Abends Wasser
bringt und was ich sonst noch nÃtig habe, trat ein, stellte den tÃnernen
Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.
Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber
noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
Als sei ein neuer Einfluñ mit der Alten zur TØr hereingeschlØpft, an
den man sich erst gewÃhnen muñte.
"Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht
loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen sieht",
sagte plÃtzlich Zwakh ganz unvermittelt. "Dieses erstarrte, grinsende
LÄcheln kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die Groñmutter,
dann die Mutter! - Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug anders! Derselbe
Name Rosina; - es ist immer eine die Auferstehung der andern."
"Ist Rosina nicht die Tochter des TrÃdlers Aaron Wassertrum?" fragte
ich.
"Man spricht so", meinte Zwakh, - - "Aaron Wassertrum aber hat manchen
Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiñ. Auch bei Rosinas Mutter
wuñte man nicht, wer ihr Vater gewesen, - auch nicht, was aus ihr geworden
ist. - Mit fØnfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren und war seitdem nicht
mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen, soweit ich
mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause begangen wurde.
Wie jetzt ihre Tochter, spukte damals sie den halbwØchsigen Jungen im
Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, - ich sehe ihn Ãfter, - doch sein Name ist
mir entfallen. Die andern sind bald gestorben, und ich meine, sie hat sie
alle frØhzeitig under die Erde gebracht. Ich erinnere mich aus jener Zeit
Øberhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene Bilder durch mein
GedÄchtnis treiben. So hat es damals einen halbblÃdsinnigen Menschen
gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und den GÄsten gegen ein paar
Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken
machte, geriet er in eine unsÄgliche Traurigkeit, und unter TrÄnen und
Schluchzen schnitzelte er, ohne aufzuhÃren, immer das gleiche scharfe
MÄdchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
Aus ZusammenhÄngen zu schlieñen, die ich lÄngst vergessen, hatte er -
fast ein Kind noch - eine gewisse Rosina, wohl die Groñmutter der heutigen,
so heftig geliebt, dañ er den Verstand darØber verlor.
Wenn ich die Jahre zurØckzÄhle, kann es keine andere als die Groñmutter
der jetzigen Rosina gewesen sein." - - -
Zwakh schwieg und lehnte sich zurØck.
Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer
wieder zum selben Punkt zurØck, fuhr es mir durch den Sinn, und ein
hÄñliches Bild, das ich einmal mit angesehen - eine Katze mit verletzter
GehirnhÄlfte im Kreise herumtaumelnd - trat vor mein Auge.
"Jetzt kommt der Kopf", hÃrte ich plÃtzlich den Maler Vrieslander mit
heller Stimme sagen.
Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann an ihm zu
schnitzen.
Eine schwere MØdigkeit legte sich mir Øber die Augen, und ich rØckte
meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
Das Wasser fØr den Punsch brodelte im Kessel, und Josua Prokop fØllte
wiederum die GlÄser. Leise, ganz leise klangen die KlÄnge der Tanzmusik
durch das geschlossene Fenster; - manchmal verstummten sie vollends, dann
wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder
zu uns von der Gasse emportrug.
Ob ich denn nicht anstoñen wolle, fragte mich nach einer Weile der
Musiker.
Ich aber gab keine Antwort, - so vollkommen war mir der Wille, mich zu
bewegen, abhanden gekommen, dañ ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund zu
Ãffnen, verfiel.
Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich
meiner bemÄchtigt hatte. Und ich muñte hinØber auf Vrieslanders funkelndes
Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine SpÄne biñ, - um die
Gewiñheit zu erlangen, dañ ich wach sei.
In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzÄhlte wieder allerlei
wunderliche Geschichten Øber Marionetten und krause MÄrchen, die er fØr
seine Puppenspiele erdacht.
Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der
Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu
Besuch komme.
Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums hÃhnische,
triumphierende Miene. -
Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte,
Øberlegte ich, - dann hielt ich es nicht der MØhe fØr wert und fØr
belanglos. Auch wuñte ich, dañ mein Wille versagen wØrde, wollte ich jetzt
den Versuch machen zu sprechen.
PlÃtzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herØber, und Prokop
sagte ganz laut: "Er ist eingeschlafen", - so laut, dañ es fast klang, als
ob es eine Frage sein sollte.
Sie redeten mit gedÄmpfter Stimme weiter, und ich erkannte, dañ sie von
mir sprachen.
Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf,
das von der Lampe niederfloñ, und der spiegelnde Schein brannte mir in den
Augen.
Es fiel ein Wort wie: "irr sein", und ich horchte auf die Rede, die in
der Runde ging.
"Gebiete, wie das vom ›Golem‹ sollte man vor Pernath nie berØhren,"
sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, "als er vorhin von dem Buche Ibbur
erzÄhlte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich mÃchte wetten,
er hat alles nur getrÄumt."
Zwakh nickte: "Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem
Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche TØcher Decke
und WÄnde bespannen und der dØrre Zunder der Vergangenheit fuñhoch den Boden
bedeckt; ein flØchtiges BerØhren nur und schon schlÄgt das Feuer aus allen
Ecken."
"War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst
vierzig sein", sagte Vrieslander.
"Ich weiñ es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen
mag und was frØher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein
altfranzÃsischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart.
Vor vielen vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich
mÃchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in
diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kØmmern und mit Fragen nach frØheren
Zeiten beunruhigen wØrde, aussuchen." - Wieder sah Zwakh bewegt zu mir
herØber. - "Seit jener Zeit lebt er hier, bessert AntiquitÄten aus und
schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegrØndet. Es
ist ein GlØck fØr ihn, dañ er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhÄngt,
vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen,
die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen kÃnnten, - wie oft hat
mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer,
wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler MØhe
eingemauert, mÃchte ich's nennen, - so wie man eine UnglØcksstÄtte
einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knØpft." - - -
Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein
SchlÄchter auf ein wehrloses Tier und preñte mir mit rohen, grausamen HÄnden
das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, - ein Ahnen, als wÄre
mir etwas genommen worden und als hÄtte ich in meinem Leben eine lange
Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und
nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergrØnden.
Jetzt lag des RÄtsels LÃsung offen vor mir und brannte mich
unertrÄglich wie eine bloñgelegte Wunde.
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse
nachzuhÄngen, - dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende
Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzugÄnglicher GemÄcher
gesperrt, - das beÄngstigende Versagen meines GedÄchtnisses in Dingen, die
meine Jugendzeit betrafen, - alles das fand mit einem Male seine furchtbare
ErklÄrung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte
das - "Zimmer" verschlossen, das die Verbindung zu jenen GemÄchern meines
Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden
Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern,
vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, - nie wØrde ich sie erkennen
kÃnnen: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden
Wurzel sproñt. GelÄnge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene
"Zimmer" zu erzwingen, mØñte ich nicht abermals den Gespenstern, die man
darein gebannt, in die HÄnde fallen?!
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erzÄhlte, zog
mir durch den Sinn, und plÃtzlich erkannte ich einen riesengroñen,
geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in
dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle "wØrde der Strick reiñen", wollte ich
versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas
unbeschreiblich Erschreckendes fØr mich an.
Ich fØhlte: es sind da Dinge - unfañbare - zusammengeschmiedet und
laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg fØhrt,
nebeneinander her.
Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden
kann, - ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die
Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! - - -
Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte
unter der Klinge des Messers.
Es tat mir fast weh, wie ich es hÃrte, und ich sah hin, ob es denn
nicht bald zu Ende sei.
Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als
habe er Bewuñtsein und spÄhe von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine Augen
lange auf mir, befriedigt, dañ sie mich endlich gefunden.
Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte
unverwandt auf das hÃlzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zÃgernd etwas zu suchen, dann
ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plÃtzlich gewannen die ZØge des
Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch
gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine
Sekunde gedauert, und ich spØrte, dañ mein Herz zu schlagen aufhÃrte und
Ängstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir - wie damals - des Gesichtes bewuñt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders Schoñ und spÄhte
umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte
meinen SchÄdel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hÃrte seine
Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt
das Schnitzwerk entreiñen, doch der wehrte sich und rief lachend:
"Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar miñlungen." Und er wand sich
los, Ãffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein Bewuñtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis,
die von schimmernden GoldfÄden durchzogen war, und als ich, wie es mir
schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hÃrte ich das Holz
klappernd auf das Pflaster fallen. - - -
"Sie haben so fest geschlafen, dañ Sie nicht merkten, wie wir Sie
schØttelten," - sagte Josua Prokop zu mir, "der Punsch ist aus, und Sie
haben alles versÄumt."
Der heiñe Schmerz Øber das, was ich vorhin mitangehÃrt, Øbermannte mich
wieder, und ich wollte aufschreien, dañ ich nicht getrÄumt habe, als ich
ihnen von dem Buche Ibbur erzÄhlte - und es aus der Kassette nehmen und
ihnen zeigen kÃnne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung
allgemeinen Aufbruches, die meine GÄste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh hÄngte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
"Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre
Lebensgeister erfrischen."
Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterfØhren lassen.
Ich spØrte den Geruch des Nebels, der von der Strañe ins Haus drang,
deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige
Schritte vorausgegangen, und man hÃrte, wie sie drauñen vor dem Torweg
mitsammen sprachen.
"Er muñ rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum
Teufelholen."
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bØckte
und die Marionette suchte.
"Freut mich, dañ du den dummen Kopf nicht finden kannst", brummte
Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete
grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen - wie er das Feuer eines
Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte
sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
"Still doch! HÃrt ihr denn nichts?"
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte
horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten
in den Schacht hinab.
Nichts.
"Was war's denn?" flØsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch
sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
Einen Augenblick - kaum einen Herzschlag lang - hatte es mir
geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte - fast
unhÃrbar. Wie ich eine Sekunde spÄter darØber nachdachte, war alles vorbei;
nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und lÃste sich
langsam in ein unbestimmtes GefØhl des Grauens auf.
Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
"Gehen wir; was stehen wir da herum!" mahnte Vrieslander.
Wir schritten die HÄuserreihe entlang.
Prokop folgte nur widerwillig.
"Meinen Hals mÃcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in
Todesangst."
Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fØhlte, dañ etwas wie leise
dÄmmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
Bald darauf standen wir vor einem rotverhÄngten Schenkenfenster.
"Heinte groñes Konzehr"
stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen
Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, Ãffnete sich die
EingangstØr nach innen, und ein vierschrÃtiger Kerl mit gewichstem schwarzem
Haar, ohne Kragen - eine grØnseidene Krawatte um den bloñen Hals geschlungen
und die Frackweste mit einem Klumpen aus SchweinszÄhnen geschmØckt - empfing
uns mit BØcklingen.
"JÄ, jÄ, das sin mir GÄstÄh. - - - Pane Schaffranek, rasch einen
Tusch!" setzte er, Øber die Schulter in das von Menschen ØberfØllte Lokal
gewendet, hastig seinem Willkommensgruñ hinzu.
Ein klimperndes GerÄusch, wie wenn eine Ratte Øber Klaviersaiten liefe,
war die Antwort.
"JÄ, jÄ, das sin mir GÄstÄh, das sin mir GÄstÄh. Da schaut man",
murmelte der VierschrÃtige immerwÄhrend eifrig vor sich hin, wÄhrend er uns
aus den MÄnteln half.
"Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir
versammelt", beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als
im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch GelÄnder und eine
zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar
vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
Schwaden beiñenden Tabakrauches lagerten Øber den Tischen, hinter denen
die langen HolzbÄnke an den WÄnden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten
waren: Dirnen von den Schanzen, ungekÄmmt, schmutzig, barfuñ, die festen
BrØste kaum verhØllt von miñfarbigen UmhÄngetØchern, ZuhÄlter daneben mit
blauen MilitÄrmØtzen und Zigaretten hinter dem Ohr, ViehhÄndler mit haarigen
FÄusten und schwerfÄlligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme
Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und
blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
"Ich stell' ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schÃn
ungestÃrt sein", krÄchzte die feiste Stimme des VierschrÃtigen, und eine
Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor
den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
Schnarrende KlÄnge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer
verlÃschen.
Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
Totenstille, als hielte alles den Atem an.
Mit erschreckender Deutlichkeit hÃrte man plÃtzlich wie die eisernen
GasstÄbe fauchend die flachen herzfÃrmigen Flammen aus ihren MØndern in die
Luft bliesen - - dann fiel die Musik Øber das GerÄusch her und verschlang
es.
Als wÄren sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
Mit langem, wallendem, weiñen Prophetenbart, ein schwarzseidenes
KÄppchen - wie es die alten jØdischen FamilienvÄter tragen - auf dem
Kahlkopf, die blinden Augen milchblÄulich und glÄsern - starr zur Decke
gerichtet - sañ dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit
dØrren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in
speckglÄnzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals
und Armen - ein Sinnbild erheuchelter BØrgermoral - ein schwammiges
Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem Schoñ.
Ein wildes Gestolper von KlÄngen drÄngte sich aus den Instrumenten,
dann sank die Melodie ermattet zur bloñen Begleitung herab.
Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riñ den Mund weit
auf, dañ man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust
herauf rang sich ihm, von seltsamen hebrÄischen RÃchellauten begleitet, ein
wilder Bañ:
"Roo - n - te, blau - we Stern - -"
"Rititit" (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die
keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
"Roonte blaue Steern
HÃrndlach ess i' ach geern";
"Rititit"
"Rotboart, Grienboart
allerlaj Stern" - -
"Rititit, rititit."
Die Paare traten zum Tanze an.
"Es ist das Lied vom ›chomezigen Borchu‹", erklÄrte uns lÄchelnd der
Marionettenspieler und schlug leise mit dem ZinnlÃffel, der sonderbarerweise
mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. "Vor wohl hundert Jahren
oder mehr noch hatten zwei BÄckergesellen, Rotbart und GrØnbart, am Abend
des ›Schabbes Hagodel‹ das Brot - Sterne und HÃrnchen - vergiftet, um ein
ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der ›Meschores‹ -
der Gemeindediener - war infolge gÃttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig
draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei Øberliefern.
Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals
die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als
Bordellquadrille hÃren."
"Rititit - Rititit"
"Roote blaue Steern - - - -" immer hohler und fanatischer erscholl das
Gebell des Greises.
PlÃtzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmÄhlich in den
Rhythmus des bÃhmischen "Schlapak" - eines schleifenden Schiebetanzes -
Øber, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preñten.
"So recht. Bravo. äh da! fang, hep, hep!" rief von der Estrade ein
schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten
zu, griff in die Westentasche und warf ein SilberstØck in der Richtung. Es
erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es Øber das TanzgewØhl
hinblitzte; da war es plÃtzlich verschwunden. Ein Strolch - sein Gesicht kam
mir so bekannt vor; ich glaube, es muñ derselbe gewesen sein, der neulich
bei dem Regenguñ neben Charousek gestanden - hatte seine Hand hinter dem
Busentuch seiner TÄnzerin, wo er sie bisher hartnÄckig ruhen gehabt,
hervorgezogen - ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne
auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die MØnze war geschnappt.
Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in
der NÄhe grinsten leise.
"Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹, nach der Geschicklichkeit zu
schlieñen", sagte Zwakh lachend.
"Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehÃrt",
fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem
Marionettenspieler zu, dañ ich es nicht sehen sollte. - Ich verstand gar
wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich fØr krank.
Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzÄhlen. Irgend etwas.
Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiñ vom Herzen
in die Augen. Wenn er wØñte, wie weh mir sein Mitleid tat!
Ich ØberhÃrte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine
Worte einleitete, - ich weiñ nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir
wurde immer kÄlter und starrer, wie vorhin, als ich als hÃlzernes Gesicht
auf Vrieslanders Schoñ gelegen hatte. Dann war ich plÃtzlich mitten drin in
der ErzÄhlung, die mich fremdartig umfing, - einhØllte, wie ein lebloses
StØck aus einem Lesebuch.
Zwakh begann:
"Die ErzÄhlung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
- - - No, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen
und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als JØngling kannte er nichts als
Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er sich durch
Stundengeben mØhsam erwarb, muñte er noch seine kranke Mutter erhalten. Wie
grØne Wiesen aussehen und Hecken und HØgel voll Blumen und WÄlder, erfuhr
er, glaube ich, nur aus BØchern. Und wie wenig von Sonnenschein in Prags
schwarze Gassen fÄllt, wissen Sie ja selbst.
Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich
selbstverstÄndlich.
Nun, und mit der Zeit wurde er ein berØhmter Rechtsgelehrter. So
berØhmt, dañ alle Leute - Richter und alte Advokaten - zu ihm fragen kamen,
wenn sie irgend etwas nicht wuñten. Dabei lebte er Ärmlich wie ein Bettler
in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner
Wissenschaft wurde allmÄhlich Sprichwort im ganzen Lande. Dañ ein Mann wie
er weichen Herzensempfindungen zugÄnglich sein konnte, zumal sein Haar schon
anfing weiñ zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem
als von Jurisprudenz sprechen gehort zu haben, hatte wohl keiner geglaubt.
Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen glØht die Sehnsucht am
heiñesten.
An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als
HÃchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: - als nÄmlich Seine
MajestÄt der Kaiser von Wien aus ihn zum Rector magnificus an unserer
UniversitÄt ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem
jungen, bildschÃnen FrÄulein aus zwar armer, aber adliger Familie verlobt.
Und wirklich schien von da an das Gluck bei Dr. Hulbert eingezogen zu
sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge
Gattin auf HÄnden, und jeden Wunsch zu erfØllen, den er ihr nur irgend von
den Augen abzulesen vermochte, war seine hÃchste Freude.
In seinem Gluck vergañ er jedoch keineswegs, wie es wohl so mancher
andere getan hatte, seine leidenden Mitmenschen. "Mir hat Gott meine
Sehnsucht gestillt," soll er einmal gesagt haben, - "er hat mir ein
Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir
hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir das lieblichste Wesen zu eigen
gegeben, das die Erde tragt. Und so will ich, dañ ein Schimmer von diesem
Gluck, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fallt." - - -
Und so kam es, dañ er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm
wie seines eigenen Sohnes. Vermutlich in der ErwÄgung, wie wohl ihm selbst
ein solch gutes Werk getan hatte, wÄre es ihm am eigenen Leib und Leben in
den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun auf Erden
manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht
gleich der einer fluchwØrdigen, weil wir wohl doch nicht richtig
unterscheiden kÃnnen zwischen dem, was giftigen Samen in sich tragt und was
heilsamen, so begab es sich auch hier, dañ aus Dr. Hulberts mitleidsvollem
Werk das bitterste Leid fØr ihn selbst sproñ.
Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem
Studenten, und ein erbarmungsloses Schicksal wollte, dañ sie der Rektor
gerade in dem Augenblicke, als er unerwartet nach Hause kam, um sie zum
Zeichen seiner Liebe mit einem Strauñ Rosen als GeburtstagsprÄsent zu
Øberraschen, in den Armen dessen antraf, auf den er Wohltat Øber Wohltat
gehÄuft hatte.
Man sagt, dañ die blaue Muttergottesblume fØr immer ihre Farbe
verlieren kann, wenn der fahle, schweflige Schein eines Blitzes, der ein
Hagelwetter verkØndet, plÃtzlich auf sie fÄllt; gewiñ ist, dañ die Seele des
alten Mannes fØr immer erblindete an dem Tage, wo sein Gluck in Scherben
ging. Am selben Abend noch sañ er, er, der bis dahin nicht gewuñt, was
UnmÄñigkeit ist, hier beim "Loisitschek" - fast bewuñtlos vom Fusel - bis
zum Morgengrauen. Und der "Loisitschek" wurde seine HeimstÄtte fØr den Rest
seines zerstÃrten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines
Neubaus, im Winter hier auf den hÃlzernen BÄnken.
Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte belieñ man ihm
stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berØhmten
Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, dañ man ärgernis nÄhme an seinem Wandel.
AllmÄhlich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der
Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur GrØndung jener seltsamen
Gemeinschaft, die man noch heutigentags "das Bataillon" nennt.
Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk fØr alle
die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War irgendein
entlassener StrÄfling daran zu verhungern, schickte ihn Dr. Hulbert
splitternackt hinaus auf den Altstadter Ring - und das Amt auf der
sogenannten "Fischbanka" sah sich genÃtigt, einen Anzug beizustellen. Sollte
eine unterstandslose Dirne aus der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie
schnell einen Strolch, der bezirkszustÄndig war, und wurde dadurch ansÄssig.
Hundert solcher Auswege wuñte Dr. Hulbert, und seinem Rate gegenØber
stand die Polizei machtlos da. - Was diese Ausgestoñenen der menschlichen
Gesellschaft "verdienten", Øbergaben sie getreulich auf Heller und Kreuzer
der gemeinsamen Kassa, aus der der nÃtige Lebensunterhalt bestritten wurde.
Niemals lieñ sich auch nur einer die geringste Unehrlichkeit zuschulden
kommen. Mag sein, dañ angesichts dieser eisernen Disziplin der Name "das
Bataillon" entstand.
PØnktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des UnglØcks jÄhrte, das
den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim "Loisitschek" eine
seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrÄngt standen sie hier: Bettler,
Vagabunden, ZuhÄlter und Dirnen, Trunkenbolde und Lumpensammler, und eine
lautlose Stille herrschte wie beim Gottesdienst. - Und dann erzÄhlte ihnen
Dr. Hulbert dort von der Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen,
gerade unter dem KrÃnungsbilde Seiner MajestÄt des Kaisers, seine
Lebensgeschichte: - wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und
spÄter Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er mit
dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner jungen Frau trat, - zur Feier
ihres Geburtstages und zugleich zum GedÄchtnis jener Stunde, da er dereinst
um sie anhalten gekommen und sie seine liebe Braut geworden war, - da
versagte ihm jedesmal die Stimme, und weinend sank er am Tisch zusammen.
Dann geschah es wohl zuweilen, dañ irgendein liederliches Frauenzimmer ihm
verschÄmt und heimlich, damit es keiner sehen sollte, eine halbwelke Blume
in die Hand legte.
Von den ZuhÃrern rØhrte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum Weinen
sind diese Menschen zu hart, aber an ihren Kleidern blickten sie herunter
und drehten unsicher die Finger.
Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten an der
Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein.
Sein LeichenbegÄngnis sehe ich noch heute vor mir. Das "Bataillon"
hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie mÃglich zu gestalten.
Voran ging der Pedell der UniversitÄt in vollem Ornat: in den HÄnden
das purpurne Kissenpolster mit der gØldenen Kette darauf und hinter dem
Leichenwagen in unabsehbarer Reihe - - das "Bataillon" barfuñ,
schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. Einer von ihnen hatte sein Letztes
verkauft und ging daher: Leib, Beine und Arme mit Lagen aus altem
Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
Auf seinem Grabe, drauñen im Friedhof, steht ein weiñer Stein, darein
sind drei Figuren gemeiñelt: Der Heiland gekreuzigt zwischen zwei RÄubern.
Von unbekannter Hand gestiftet. Man munkelt, Dr. Hulberts Frau habe das
Denkmal errichtet. - - -
Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vorgesehen,
danach bekommt jeder vom "Bataillon" mittags "beim Loisitschek" umsonst eine
Suppe; zu diesem Zwecke hÄngen hier am Tisch die LÃffel an den Ketten, und
die ausgehÃhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller. Um 12 Uhr kommt
die Kellnerin und spritzt mit einer groñen, blechernen Spritze die BrØhe
hinein und, wenn sich einer nicht ausweisen kann als "vom Bataillon", so
zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurØck.
Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz die Runde durch
die ganze Welt."
Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner Lethargie.
Die letzten SÄtze, die Zwakh gesprochen, wehten Øber mein Bewuñtsein hinweg.
Ich sah noch, wie er seine HÄnde bewegte, um das Vor- und ZurØckschieben
eines Spritzenkolbens klarzumachen, dann jagten die Bilder, die sich rings
um uns abrollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so
gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorØber, dañ ich in Momenten ganz
mich selbst vergañ und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
Das Zimmer war ein einziges MenschengewØhl geworden. Oben auf der
Estrade: dutzende Herren in schwarzen FrÄcken. Weiñe Manschetten, blitzende
Ringe. Eine Dragoneruniform mit RittmeisterschnØren. Im Hintergrund ein
Damenhut mit lachsfarbigen Strauñenfedern.
Durch die StÄbe des GelÄnders stierte das verzerrte Gesicht Loisas
hinauf. Ich sah: er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war da
und schaute unverwandt hinauf, mit dem RØcken dicht, ganz dicht, an der
Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
Die Gestalten hielten plÃtzlich im Tanzen inne: der Wirt muñte ihnen
etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch,
aber leise; sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte; man fØhlte es
deutlich. Und doch lag der Ausdruck hÄmischer wilder Freude in dem Gesicht
des Wirtes.
- - - - In der EingangstØr steht mit einem Mal der PolizeikommissÄr in
Uniform. Er hatte die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter
ihm ein Kriminalschutzmann.
"Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes? Ich sperre die Spelunke.
Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!"
Es klingt wie Kommandos.
Der VierschrÃtige gibt keine Antwort, aber das hÄmische Grinsen bleibt
in seinen ZØgen.
Bloñ starrer ist es geworden.
Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.
Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
Die Gesichter sind plÃtzlich alle im Profil zu sehen: sie glotzen
erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
Und da kommt eine vornehme schwarze Gestalt gelassen die paar Stufen
herab und geht langsam auf den KommissÄr zu.
Die Augen des Kriminalschutzmannes hÄngen gebannt an den
heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben
und lÄñt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den FØñen und wieder
zurØck schweifen.
Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich Øber das
GelÄnder gebeugt und verbeiñen das Lachen hinter ihren grauseidenen
TaschentØchern.
Der Dragonerrittmeister klemmt ein GoldstØck ins Auge und spuckt einem
MÄdchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
Der PolizeikommissÄr hat sich verfÄrbt und starrt in der Verlegenheit
immerwÄhrend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
Er kann den gleichgØltigen, glanzlosen Blick dieses glattrasierten,
unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
Die Totenstille im Lokal wird immer quÄlender.
"So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten HÄnden auf den
SteinsÄrgen liegen in den gotischen Kirchen", flØstert der Maler Vrieslander
mit einem Blick auf den Kavalier.
Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: "äh - Hm." - - - er
kopiert die Stimme des Wirtes: "JÄ, jÄ, das sin mir GÄstÄh - da schaut man."
Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, dañ die GlÄser klirren; die
Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand
und zerschellt. Der vierschrÃtige Wirt meckert uns erlÄuternd und
ehrfurchtsvoll zu: "Seine Durchlaucht Exzellenz FØrst Ferri AthenstÄdt."
Der FØrst hat dem Beamten eine Visitkarte hingehalten. Der ärmste nimmt
sie, salutiert wiederholt und schlÄgt die Hacken zusammen.
Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter
geschehen wird.
Der Kavalier spricht wieder:
"Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, - Äh - sind meine
lieben GÄste." Seine Durchlaucht deutet mit einer nachlÄssigen Armbewegung
auf das Gesindel, "wØnschen Sie, Herr KommissÄr, - Äh - vielleicht
vorgestellt zu werden?"
Der KommissÄr verneint mit erzwungenem LÄcheln, stottert verlegen etwas
von "leidiger PflichterfØllung" und rafft sich schlieñlich zu den Worten
auf: "Ich sehe ja, dañ es hier anstÄndig zugeht."
Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund
auf den Damenhut mit der Strauñenfeder zu und zerrt im nÄchsten Augenblick
unter dem Jubel der jungen Adligen - Rosina am Arm herunter in den Saal.
Sie schwankt vor Trunkenheit und hÄlt die Augen geschlossen. Der groñe,
kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa StrØmpfe
und - einen Herrenfrack auf dem bloñen KÃrper.
Ein Zeichen: Die Musik fallt ein wie rasend - - - "Rititit - Rititit" -
- - und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als
er Rosina gesehen, an der Wand drØben ausgestoñen hat. - -
Wir wollen gehen.
Zwakh ruft nach der Kellnerin.
Der allgemeine LÄrm verschlingt seine Worte.
Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
Der Rittmeister hÄlt die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich
langsam mit ihr im Takt.
Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
Dann murmelt es von den BÄnken: "Der Loisitschek, der Loisitschek", die
HÄlse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites noch
seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit langem
blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt wie eine
Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung, - hÄngt
schmachtend an der Brust des FØrsten AthenstÄdt.
Ein sØñlicher Walzer quillt aus der Harfe.
Wilder Ekel vor dem Leben schnØrt mir die Kehle zusammen.
Mein Blick sucht voll Angst die Ture: der KommissÄr steht dort
abgewendet, um nichts zu sehen, und flØstert hastig mit dem
Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.
Die beiden spÄhen hinØber auf den blatternarbigen Loisa, der einen
Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelÄhmt - das Gesicht kalkweiñ
und verzerrt vor Entsetzen - stehen bleibt.
Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: Das
Bild, wie "Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen, - Øber das
Kanalgitter gebeugt - und ein Todesschrei gellt aus der Erde empor."
Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und
biegen mir die Zunge nach unten gegen die VorderzÄhne, dañ es wie ein
Klumpen meinen Gaumen erfØllt und ich kein Wort hervorbringen kann.
Ich kann die Finger nicht sehen, weiñ, dañ sie unsichtbar sind, und
doch empfinde ich sie wie etwas KÃrperliches.
Und klar steht es in meinem Bewuñtsein: sie gehÃren zu der
gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der Hahnpañgasse das Buch
"Ibbur" gegeben hat.
"Wasser, Wasser!" schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und
leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
"In seine Wohnung schaffen, Arzt holen - der Archivar Hillel kennt sich
aus in solchen Dingen - - zu ihm bringen!" beraten sie murmelnd.
Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop und
Vrieslander tragen mich hinaus.
Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen, und ich hÃrte, wie
Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn Ängstlich ausfragte und er sie
zu beruhigen trachtete.
Ich gab mir keine MØhe hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, und
erriet mehr, als ich es in Worten verstand, dañ Zwakh erzÄhlte, mir sei ein
Unfall zugestoñen und sie kÄmen bitten, mir die erste Hilfe zu leisten und
mich wieder zu Bewuñtsein zu bringen.
Noch immer konnte ich kein Glied rØhren, und die unsichtbaren Finger
hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das GefØhl des
Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wuñte genau, wo ich war und was mit
mir geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, dañ man mich wie
einen Toten hinauftrug, samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hillels
niedersetzte und - allein lieñ.
Eine ruhige, natØrliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach
einer langen Wanderung genieñt, erfØllte mich.
Es war finster in der Stube, und mit verschwimmenden Umrissen hoben
sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem mattleuchtenden Dunst ab,
der von der Gasse heraufschimmerte.
Alles kam mir selbstverstÄndlich vor und ich wunderte mich weder
darØber, dañ Hillel mit einem jØdischen siebenflammigen Sabbatleuchter
eintrat, noch, dañ er mir gelassen "guten Abend" wØnschte wie jemandem,
dessen Kommen er erwartet hatte.
Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas
Besonderes bemerkt hatte, - trotzdem wir einander oft drei- bis viermal in
der Woche auf den Stiegen begegnet waren, - fiel mir plÃtzlich stark an ihm
auf, wie er so hin und her ging, einige GegenstÄnde auf der Kommode
zurechtrØckte und schlieñlich mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls
siebenflammigen anzØndete.
NÄmlich: sein Ebenmañ an Leib und Gliedern und der schmale, feine
Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.
Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht Älter sein
als ich: hÃchstens 45 Jahre zÄhlen.
"Du bist um einige Minuten frØher gekommen", - begann er nach einer
Weile - "als anzunehmen war, sonst hÄtte ich die Lichter schon vorher
angezØndet." - Er deutete auf die beiden Leuchter, trat an die Bahre und
richtete seine dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der
mir zu HÄupten stand oder kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte.
Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.
Sofort lieñen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und der
Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte hinter mich:
Niemand auñer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.
Sein "Du" und die Bemerkung, dañ er mich erwartet habe, hatten also mir
gegolten!?
Viel befremdender als diese beiden UmstÄnde an sich wirkte es auf mich,
dañ ich nicht imstande war, auch nur die geringste Verwunderung darØber zu
empfinden.
Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lÄchelte freundlich,
wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel
wies, und sagte:
"Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die
gespenstischen Dinge - die Kischuph - auf den Menschen; das Leben kratzt und
brennt wie ein hÄrener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt
sind mild und erwÄrmend."
Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hÄtte erwidern sollen.
Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegenØber
und fuhr gelassen fort: "Auch ein silberner Spiegel, hÄtte er Empfindung,
litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glÄnzend geworden, gibt
er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung."
"Wohl dem Menschen", setzte er leise hinzu, "der von sich sagen kann:
Ich bin geschliffen." - Einen Augenblick versank er in Nachdenken, und ich
hÃrte ihn einen hebrÄischen Satz murmeln: "LischuosÉcho Kiwisi Adoschem."
Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:
"Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich wach
gemacht. Im Psalm David heiñt es:
"Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist
es, welche diese VerÄnderung gemacht hat."
Wenn die Menschen aufstehen von ihren LagerstÄtten, so wÄhnen sie, sie
hÄtten den Schlaf abgeschØttelt, und wissen nicht, dañ sie ihren Sinnen zum
Opfer fallen und die Beute eines neuen viel tieferen Schlafes werden, als
der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und
das ist das, dem Du dich jetzt nÄherst. Sprich den Menschen davon und sie
werden sagen, Du seist krank, denn sie kÃnnen dich nicht verstehen. Darum
ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.
Sie fahren dahin wie ein Strom -
Und sind wie ein Schlaf,
Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird -
Das des Abends abgehauen wird und verdorret."
"Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir
das Buch "Ibbur" gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?", wollte
ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte
fassen konnte:
"Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute
die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf
Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!
Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem
Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst."
Ich fØhlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen,
sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein
uferloses Meer.
Ruhevoll fuhr Hillel fort:
"Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben; Schlaf und Tod
sind dasselbe."
"- - kann nicht mehr sterben?" - Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.
"Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg
des Todes. Du hast das Buch "Ibbur" genommen und darin gelesen. Deine Seele
ist schwanger geworden vom Geist des Lebens", hÃrte ich ihn reden.
"Hillel, Hillel, lañ mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den
des Sterbens!", schrie alles wild in mir auf.
Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.
"Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des
Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: "Ehe Gott die
Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die
geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen
die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese
strich Gott aus dem Buche der Lebenden." Du aber gehst einen Weg und hast
ihn aus freiem Willen beschritten, - wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr
weiñt: Du bist berufen von dir selbst. GrÄm' dich nicht: allmÄhlich, wenn
das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind
dasselbe."
Der freundliche, fast liebenswØrdige Ton, in den Hillels Rede
ausgeklungen war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich fØhlte mich geborgen
wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiñ.
Ich blickte auf und sah, dañ mit einemmal viele Gestalten im Zimmer
waren und uns im Kreis umstanden: einige in weiñen SterbegewÄndern, wie sie
die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an
den Schuhen - aber Hillel fuhr mir mit der Hand Øber die Augen, und die
Stube war wieder leer.
Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende
Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten kÃnne in mein Zimmer.
Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam
nicht, und ich geriet stattdessen in einen sonderbaren Zustand, der weder
TrÄumen war, noch Wachen, noch Schlafen.
Das Licht hatte ich ausgelÃscht, aber trotzdem war alles in der Stube
so deutlich, dañ ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei
fØhlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen qualvollen
Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in Ähnlicher Verfassung befindet.
Nie vorher in meinem Leben wÄre ich imstande gewesen, so scharf und
prÄzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchstrÃmte
meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee,
die nur auf meine Befehle wartete.
Ich brauchte bloñ zu rufen, und sie traten vor mich und erfØllten, was
ich wØnschte.
Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu
schneiden versucht hatte, - ohne damit zurechtzukommen, da sich die vielen
zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den GesichtszØgen decken
wollten, die ich mir vorgestellt, - fiel mir ein, und im Nu sah ich die
LÃsung vor mir und wuñte genau, wie ich den Stichel zu fØhren hatte, um der
Struktur der Masse gerecht zu werden.
Ehedem Sklave einer Horde phantastischer EindrØcke und Traumgesichter,
von denen ich oft nicht gewuñt: waren es Ideen oder GefØhle, sah ich mich
jetzt plÃtzlich als Herr und KÃnig im eigenen Reich.
Rechenexempel, die ich frØher nur mit ächzen und auf dem Papier hÄtte
bewÄltigen kÃnnen, fØgten sich mir mit einem Mal im Kopf spielend zum
Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten FÄhigkeit, das zu
sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen,
GegenstÄnde oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch
derlei Werkzeuge nicht zu lÃsen waren: - philosophische Probleme und
Ähnliches -, so trat an Stelle des inneren Sehens das GehÃr, wobei die
Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers Øbernahm.
Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloñes Wort an meinem Ohr hatte
vorØbergehen lassen, stand wertgetrÄnkt bis in die tiefste Faser vor mir;
was ich "auswendig" gelernt, "erfañte" ich mit einem Schlag als mein
"Eigen"tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor
mir.
Die "hohen" Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienrÄtlich
biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab
behandelt hatten, - demØtig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze und
entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin KrØcken
fØr - einen noch frecheren Schwindel.
TrÄumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel
gesprochen?
Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und
selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich Øberzeugt hat,
dañ der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wØhlte
ich mich wieder in die Kissen.
Und wie ein SpØrhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen
RÄtsel, die mich rings umgaben.
Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurØckzugelangen, bis
zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus - glaubte ich - kÃnnte es
mir mÃglich sein, jenen Teil meines Daseins zu Øberblicken, der fØr mich,
durch eine seltsame FØgung des Schicksals in Finsternis gehØllt lag.
Aber wie sehr ich mich auch bemØhte, ich kam nicht weiter, als dañ ich
mich wie einst in dem dØsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den
Torbogen den TrÃdlerladen des Aaron Wassertrum unterschied - als ob ich ein
Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt hÄtte, immer
gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiter zu schØrfen in
den SchÄchten der Vergangenheit, da begriff ich plÃtzlich mit leuchtender
Klarheit, dañ in meiner Erinnerung wohl die breite Heerstrañe der
Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig
schmaler Fuñsteige, die wohl bisher den Hauptpfad stÄndig begleitet hatten,
von mir jedoch nicht beachtet worden waren. "Woher", schrie es mir fast in
die Ohren, "hast du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben
fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt - und Gravieren und all das
andere? Lesen, schreiben, sprechen - und essen - und gehen, atmen, denken
und fØhlen?"
Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein
Leben zurØck.
Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge zu
Øberlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag
vor diesem und so weiter?
Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt - - jetzt! Jetzt!
Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen
trennte, muñte Øberflogen sein - da trat ein Bild vor mich, das ich auf der
RØckwanderung meiner Gedanken Øbersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit
der Hand Øber die Augen - genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.
Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die Reihe
der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch
zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind's, die in die
verlorene Heimat zurØckfØhren: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift
in unserem KÃrper eingraviert ist, und nicht die scheuñliche Narbe, die die
Raspel des Äuñeren Lebens hinterlañt, - birgt die LÃsung der letzten
Geheimnisse.
So, wie ich zurØckfinden kÃnnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in
der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornÄhme von Z bis A, um dort
anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen, - so, begriff ich,
muñte ich auch wandern kÃnnen in die andere ferne Heimat, die jenseits allen
Denkens liegt.
Eine Weltkugel an Arbeit wÄlzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules
trug eine Zeitlang das GewÃlbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein,
und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und wie
Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: "Lañ
mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit mir die
entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt", so gÄbe es vielleicht einen
dunklen Weg - dÄmmerte mir - von dieser Klippe weg.
Ein tiefer Argwohn, der FØhrerschaft meiner Gedanken weiter blind zu
vertrauen, beschlich mich plÃtzlich. Ich legte mich gerade und verschloñ mit
den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die Sinne.
Um jeden Gedanken zu tÃten.
Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur
einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon
mÄstete sich der nÄchste an seinem Fleische. Ich flØchtete in den brausenden
Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem Fuñ; ich verbarg
mich im HÄmmerwerk meines Herzens: nur eine kleine Weile, und sie hatten
mich entdeckt.
Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte:
"Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der SchlØssel zur Kunst des
Vergessens gehÃrt unseren BrØdern, die den Pfad des Todes wandeln; du aber
bist geschwÄngert vom Geiste des - Lebens."
Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin
auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, mÄchtig,
gleich einem Erdbeben, - der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit
auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand Øber meine
Augen, und ich schlummerte ein.
"Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und hÃchster Angst.
Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, - oder
besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. - Ich hÄtte keine Ruhe
sonst.
Sagen Sie keiner Menschenseele, dañ ich Ihnen geschrieben habe. Auch
nicht, wohin Sie heute gehen werden!
Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir - "neulich" - (Sie werden durch
diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie waren, erraten,
wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fØrchte mich, meinen Namen
darunter zu setzen) - so viel Vertrauen eingeflÃñt, und weiter, dañ Ihr
lieber, seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat, - alles das gibt mir
den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen
kann, zu wenden.
Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche
auf dem Hradschin."
Eine Ihnen bekannte Dame.
Wohl eine Viertelstunde lang sañ ich da und hielt den Brief in der
Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern nacht her
umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen, - weggeweht von dem
frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. Ein junges Schicksal kam
lÄchelnd und verheiñungsvoll - ein FrØhlingskind - auf mich zu. Ein
Menschenherz suchte Hilfe bei mir. - Bei mir! Wie sah meine Stube plÃtzlich
so anders aus! Der wurmstichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden
drein, und die vier Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch
herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.
Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum
und Glanz.
So sollte der morsche Baum noch FrØchte tragen?
Ich fØhlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher
schlafen gelegen in mir - verborgen gewesen in den Tiefen meiner Seele,
verschØttet von dem GerÃll, das der Alltag hÄuft, wie eine Quelle losbricht
aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.
Und ich wuñte so gewiñ, wie ich den Brief in der Hand hielt, dañ ich
wØrde helfen kÃnnen, um was es auch ginge. Der Jubel in meinem Herzen gab
mir die Sicherheit.
Wieder und wieder las ich die Stelle: "und weiter, dañ Ihr lieber
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat - - -"; - mir stand der Atem
still. Klang das nicht wie Verheiñung: "Heute noch wirst du mit mir im
Paradiese sein?" Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt
mir das Geschenk entgegen: die RØckerinnerung, nach der ich dØrstete, -
wØrde mir das Geheimnis offenbaren, den Vorhang heben helfen, der sich
hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!
"Ihr lieber seliger Vater" - -, wie fremdartig die Worte klangen, als
ich sie mir vorsagte! - Vater! - Einen Augenblick sah ich das mØde Gesicht
eines alten Mannes mit weiñem Haar in dem Lehnstuhl neben meiner Truhe
auftauchen - fremd, ganz fremd und doch so schauerlich bekannt; - - dann
kamen meine Augen wieder zu sich, und die Hammerlaute meines Herzens
schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.
Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit vertrÄumt? Ich blickte auf
die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fØnf.
Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel und
schritt die Treppen hinab. Was kØmmerte mich heute das Geraune der dunklen
Winkel, die bÃsartigen, engherzigen, verdrossenen Bedenken, die immer von
ihnen aufstiegen: "Wir lassen dich nicht, - du bist unser, - wir wollen
nicht, dañ du dich freust - das wÄre noch schÃner, Freude hier im Haus!"
Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen GÄngen und
Ecken her um mich gelegt mit wØrgenden HÄnden: heute wich er vor dem
lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels
TØr.
Sollte ich eintreten?
Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz anders
heute, - so, als dØrfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die
Hand des Lebens vorwÄrts, die Stiegen hinab. - -
Die Gasse lag weiñ im Schnee.
Ich glaube, dañ viele Leute mich gegrØñt haben; ich erinnere mich
nicht, ob ich ihnen gedankt. Immer wieder fØhlte ich an die Brust, ob ich
den Brief auch bei mir trØge:
Es ging eine WÄrme von der Stelle aus. - -
Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten LaubengÄnge auf dem
AltstÄdter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes Gitter voll
Eiszapfen hing, hinØber Øber die steinerne BrØcke mit ihren Heiligenstatuen
und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.
Unten schÄumte der Fluñ voll Hañ gegen die Fundamente.
Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehÃhlten Sandstein der heiligen
Luitgard mit "den Qualen der Verdammten" darin: dicht lag der Schnee auf den
Lidern der BØñenden und den Ketten an ihren betend erhobenen HÄnden.
Torbogen nahmen mich auf und entlieñen mich, PalÄste zogen langsam an
mir vorØber, mit geschnitzten, hochmØtigen Portalen, darinnen LÃwenkÃpfe in
bronzene Ringe bissen.
Auch hier Øberall Schnee, Schnee. Weich, weiñ wie das Fell eines
riesigen EisbÄren.
Hohe, stolze Fenster, die Simse beglitzert und vereist, schauten
teilnahmslos zu den Wolken empor.
Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender VÃgel war.
Als ich die unzÄhligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, jede so
breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank Schritt um Schritt
die Stadt mit ihren DÄchern und Giebeln vor meinem Sinn. - - -
Schon schlich die DÄmmerung die HÄuserreihen entlang, da trat ich auf
den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel.
Fuñstapfen - die RÄnder mit Krusten aus Eis - fØhrten hin zum Nebentor.
Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene TÃne
eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. Wie TrÄnentropfen der Schwermut
fielen sie in die Verlassenheit.
Ich hÃrte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die
KirchentØre mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel, und der goldene Altar
blinkte in starrer Ruhe herØber zu mir durch den grØnen und blauen Schimmer
sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster auf die BetstØhle
niedersank. Funken sprØhten aus roten, glÄsernen Ampeln.
Welker Duft von Wachs und Weihrauch.
Ich lehnte mich in eine Bank. Mein Blut ward seltsam still in diesem
Reich der Regungslosigkeit.
Ein Leben ohne Herzschlag erfØllte den Raum - ein heimliches,
geduldiges Warten.
Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.
Da! - Aus weiter, weiter Ferne drang das GerÄusch von Pferdehufen
gedÄmpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte nÄher kommen und verstummte.
Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufÄllt. - - -
Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen, und eine
zarte, schmale Damenhand hatte leicht meinen Arm berØhrt.
"Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler; es widerstrebt
mir, hier in den BetstØhlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen
muñ."
Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nØchterner Klarheit. Der
Tag hatte mich plÃtzlich angefañt.
"Ich weiñ gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, dañ
Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht
haben."
Ich stotterte ein paar banale Worte.
"- - Aber ich wuñte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor
Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiñ
niemand nachgegangen."
Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.
Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang
ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die damals voll
Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der Hahnpañgasse flØchtete. Ich
war auch nicht erstaunt darØber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.
Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der DÄmmerung der
Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein mochte.
Ihre SchÃnheit benahm mir fast den Atem, und ich stand wie gebannt. Am
liebsten wÄre ich vor ihr niedergefallen und hÄtte ihre FØñe gekØñt, dañ sie
es war, der ich helfen sollte, dañ sie mich dazu erwÄhlt hatte.
"Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, - wenigstens solange
wir hier sind - die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben", sprach
sie gepreñt weiter, "ich weiñ auch gar nicht, wie Sie Øber solche Dinge
denken - -"
"Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in meinem
Leben war ich so vermessen, dañ ich mich Richter gedØnkt hÄtte Øber meine
Mitmenschen", war das einzige, was ich hervorbrachte.
"Ich danke Ihnen, Meister Pernath", sagte sie warm und schlicht. "Und
jetzt hÃren Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Verzweiflung nicht
helfen oder wenigstens einen Rat geben kÃnnen." - Ich fØhlte, wie eine wilde
Angst sie packte, und hÃrte ihre Stimme zittern. - "Damals - - im Atelier -
- - damals brach die schreckliche Gewiñheit Øber mich herein, dañ jener
grauenhafte Oger mir mit Vorbedacht nachgespØrt hat. - Schon durch Monate
war mir aufgefallen, dañ, wohin ich auch immer ging, - ob allein, oder mit
meinem Gatten, oder mit - - - mit - mit Dr. Savioli, - stets das
entsetzliche Verbrechergesicht dieses TrÃdlers irgendwo in der NÄhe
auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielenden Augen.
Noch macht sich ja kein Zeichen bemerkbar, was er vorhat, aber um so
qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir die Schlinge um
den Hals!
Anfangs wollte mich Dr. Savioli damit beruhigen, was denn so ein
armseliger TrÃdler wie dieser Aaron Wassertrum Øberhaupt vermÃchte -
schlimmsten Falles kÃnnte es sich nur um eine geringfØgige Erpressung oder
dergleichen handeln, aber jedesmal wurden seine Lippen weiñ, wenn der Name
Wassertrum fiel. Ich ahne: Dr. Savioli hÄlt mir etwas geheim, um mich zu
beruhigen, - irgend etwas Furchtbares, was ihn oder mich das Leben kosten
kann.
Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte: dañ ihn
der TrÃdler mehrere Male des Nachts in seiner Wohnung besucht hat! - Ich
weiñ es, ich spØre es in jeder Faser meines KÃrpers: es geht etwas vor, das
sich langsam um uns zusammenzieht wie die Ringe einer Schlange. - Was hat
dieser MÃrder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn nicht abschØtteln?
Nein, nein, ich sehe das nicht lÄnger mit an; ich muñ etwas tun. Irgend
etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt."
Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie lieñ mich
nicht zu Ende sprechen.
"Und in den letzten Tagen nahm der Alp, der mich zu erwØrgen droht,
immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plÃtzlich erkrankt, - ich kann
mich nicht mehr mit ihm verstÄndigen - darf ihn nicht besuchen, wenn ich
nicht stØndlich gewÄrtigen soll, dañ meine Liebe zu ihm entdeckt wird -; er
liegt in Delirien, und das einzige, was ich erkunden konnte, ist, dañ er
sich im Fieber von einem Scheusal verfolgt wÄhnt, dessen Lippen von einer
Hasenscharte gespalten sind: - Aaron Wassertrum!
Ich weiñ, wie mutig Dr. Savioli ist; um so entsetzlicher - kÃnnen Sie
sich das vorstellen? - wirkt es auf mich, ihn jetzt gelÄhmt vor einer
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle NÄhe eines grauenhaften WØrgengels
empfinde, zusammengebrochen zu sehen.
Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu
Dr. Savioli bekenne, alles von mir wØrfe, wenn ich ihn doch so liebe -:
alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber -" sie schrie es fÃrmlich
heraus, dañ es widerhallte von den Chorgalerien, - "ich kann nicht! - Ich
hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines MÄdel! Ich kann doch mein
Kind nicht hergeben! - Glauben Sie denn, mein Mann lieñe es mir?! Da, da,
nehmen Sie das, Meister Pernath" - sie riñ im Wahnwitz ein TÄschchen auf,
das vollgestopft war mit PerlenschnØren und Edelsteinen - "und bringen Sie
es dem Verbrecher; - ich weiñ, er ist habsØchtig - er soll sich alles holen,
was ich besitze, aber mein Kind soll er mir lassen. - Nicht wahr, er wird
schweigen? - So reden Sie doch um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein
Wort, dañ Sie mir helfen wollen!"
Es gelang mir mit grÃñter MØhe, die Rasende wenigstens so weit zu
beruhigen, dañ sie sich auf eine Bank niederlieñ.
Ich sprach zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre,
zusammenhanglose SÄtze.
Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so dañ ich selbst kaum verstand,
was mein Mund redete, - Ideen phantastischer Art, die zusammenbrachen, kaum
dañ sie geboren waren.
Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten MÃnchsstatue in
der Wandnische. Ich redete und redete. AllmÄhlich verwandelten sich die ZØge
der Statue, die Kutte wurde ein fadenscheiniger øberzieher mit
hochgeklapptem Kragen, und ein jugendliches Gesicht mit abgezehrten Wangen
und hektischen Flecken wuchs daraus empor.
Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der MÃnch wieder da. Meine
Pulse schlugen zu laut.
Die unglØckliche Frau hatte sich Øber meine Hand gebeugt und weinte
still.
Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der Stunde,
als ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals ØbermÄchtig
erfØllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.
"Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet habe,
Meister Pernath", fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. "Es waren
ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben - und die ich nie vergessen
konnte die vielen Jahre hindurch - -"
Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.
"- - Sie nahmen Abschied von mir - ich weiñ nicht mehr, weshalb und
wieso, ich war ja noch ein Kind, - und Sie sagten so freundlich und doch so
traurig:
›Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn Sie
je im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir Gott der Herr,
dañ ich es dann sein darf, der Ihnen hilft.‹ - Ich habe mich damals
abgewendet und rasch meinen Ball in den Springbrunnen fallen lassen, damit
Sie meine TrÄnen nicht sehen sollten. Und dann wollte ich Ihnen das rote
Korallenherz schenken, das ich an einem Seidenband um den Hals trug, aber
ich schÄmte mich, weil das gar so lÄcherlich gewesen wÄre." - - -
Erinnerung!
- Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer
wie aus einem vergessenen, fernen Land der Sehnsucht trat vor mich -
unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines MÄdchen in weiñem Kleid und
ringsum die dunkle Wiese eines Schloñparks, von alten Ulmen umsÄumt.
Deutlich sah ich es wieder vor mir. - -
Ich muñte mich verfÄrbt haben; ich merkte es an der Hast, mit der sie
fortfuhr: "Ich weiñ ja, dañ Ihre Worte damals nur der Stimmung des Abschieds
entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und - und ich danke Ihnen
dafØr."
Mit aller Kraft biñ ich die ZÄhne zusammen und jagte den heulenden
Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurØck.
Ich verstand: Eine gnÄdige Hand war es gewesen, die die Riegel vor
meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem Bewuñtsein
geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen herØbergetragen: Eine
Liebe, die fØr mein Herz zu stark gewesen, hatte fØr Jahre mein Denken
zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam fØr meinen wunden
Geist geworden.
AllmÄhlich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins Øber mich und kØhlte
die TrÄnen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog ernst und
stolz durch den Dom, und ich konnte freudig lÄchelnd der in die Augen sehen,
die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.
Wieder hÃrte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der
Hufe. - - -
Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.
Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen, und aus
geschichteten Bergen von TannenbÄumen raunte es von Flitter und silbernen
NØssen und vom kommenden Christfest.
Auf dem Rathausplatz an der MariensÄule murmelten bei Kerzenglanz die
alten Bettelweiber mit den grauen KopftØchern der Muttergottes ihren
Rosenkranz.
Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des
Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete grell,
von schwelenden Fackeln beschienen, die offene BØhne eines
Marionettentheaters.
Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und
daran an der Schnur einen TotenschÄdel, ritt klappernd auf hÃlzernem
Schimmel Øber die Bretter.
In Reihen fest aneinander gedrÄngt starrten die Kleinen - die
PelzmØtzen tief Øber die Ohren gezogen - mit offenem Munde hinauf und
lauschten gebannt den Versen des Prager Dichters Oskar Wiener, die mein
Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:
"Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
Der Kerl war mager wie ein Dichter
Und hatte bunte Lappen an
Und torkelte und schnitt Gesichter." - - -
Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz
mØndete. Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da in der
Finsternis vor einem Anschlagzettel.
Ein Mann hatte ein Streichholz angezØndet, und ich konnte einige Zeilen
bruchstØckweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein Bewuñtsein ein paar
Worte auf:
Vermiñt!
1000 fl Belohnung
älterer Herr... schwarz gekleidet...
......... Signalement:
... fleischiges, glattrasiertes Gesicht......
...... Haarfarbe: weiñ.........
.. Polizeidirektion... Zimmer Nr....
Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein
in die lichtlosen HÄuserreihen.
Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen
Himmelsweg Øber den Giebeln.
Friedvoll schweiften meine Gedanken zurØck in den Dom, und die Ruhe
meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz herØber,
schneidend klar - als stØnde sie dicht an meinem Ohr - die Stimme des
Marionettenspielers durch die Winterluft:
"Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Es hing an einem Seidenbande
Und funkelte im FrØhrotschein." - - -
Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir
das Gehirn zermartert, wie ich "ihr" Hilfe bringen kÃnnte.
Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu gehen,
ihm zu erzÄhlen, was mir anvertraut worden, und ihn um Rat zu bitten. Aber
jedesmal verwarf ich den Entschluñ.
Er stand im Geist so riesengroñ vor mir, dañ es eine Entweihung schien,
ihn mit Dingen, die das Äuñere Leben betrafen, zu behelligen, dann wieder
kamen Momente, wo mich brennende Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit
alles das erlebt hÄtte, was nur eine kurze Spanne Zeit zurØcklag und doch so
seltsam verblañt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des
verflossenen Tages.
Hatte ich nicht doch getrÄumt? Durfte ich - ein Mensch, dem das
UnerhÃrte geschehen war, dañ er seine Vergangenheit vergessen hatte, - auch
nur eine Sekunde lang als Gewiñheit annehmen, wofØr als einziger Zeuge bloñ
meine Erinnerung die Hand aufhob?
Mein Blick fiel auf die Kerze Hillels, die immer noch auf dem Sessel
lag. Gott sei Dank, wenigstens das eine stand fest: ich war mit ihm in
persÃnlicher BerØhrung gewesen!
Sollte ich nicht ohne Besinnen hinunterlaufen zu ihm, seine Knie
umfassen und wie Mensch zu Mensch ihm klagen, dañ ein unsÄgliches Weh an
meinem Herzen frañ?
Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da lieñ ich wieder los; ich sah
voraus, was kommen wØrde: Hillel wØrde mir mild Øber die Augen fahren und -
- - nein, nein, nur das nicht! Ich hatte kein Recht, Linderung zu begehren.
"Sie" vertraute auf mich und meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der sie
sich fØhlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, - sie
empfand sie sicherlich als riesengroñ!
Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit - ich zwang mich, kalt und
nØchtern zu denken; - ihn jetzt - mitten in der Nacht zu stÃren? - es ging
nicht an. So wØrde nur ein VerrØckter handeln.
Ich wollte die Lampe anzØnden; dann lieñ ich es wieder sein: der
Abglanz des Mondlichts fiel von den DÄchern gegenØber herein in mein Zimmer
und gab mehr Helle, als ich brauchte. Und ich fØrchtete, die Nacht kÃnnte
noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.
Es lag so viel Hoffnungslosigkeit in dem Gedanken, die Lampe
anzuzØnden, nur um den Tag zu erwarten, - eine leise Angst sagte mir, der
Morgen rØcke dadurch in unerlebbare Ferne.
Ich trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft schwebender
Friedhof lagen die Reihen verschnÃrkelter Giebel dort oben - Leichensteine
mit verwitterten Jahreszahlen, getØrmt Øber die dunklen ModergrØfte, diese
"WohnstÄtten", darein sich das Gewimmel der Lebenden HÃhlen und GÄnge
genagt.
Lange stand ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise
zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschrÄke, wo doch ein GerÄusch von
verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang.
Ich horchte hin: Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch. Das kurze
ächzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zÃgernd schlich.
Mit einem Schlage war ich ganz bei mir. Ich wurde fÃrmlich kleiner, so
preñte sich alles in mir zusammen unter dem Druck des Willens, zu hÃren.
Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.
Noch ein rasches Knistern, das vor sich selbst erschrak und hastig
abbrach. Dann Totenstille. Jene lauernde, grauenhafte Stille, die ihr
eigener VerrÄter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.
Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrØckt, das drohende GefØhl
in der Kehle, dañ drØben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat.
Ich lauschte und lauschte:
Nichts.
Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.
Lautlos - auf den Zehenspitzen - stahl ich mich an den Sessel bei
meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zØndete sie an.
Dann Øberlegte ich: Die eiserne SpeichertØre drauñen auf dem Gang, die
zum Atelier Saviolis fØhrte, ging nur von drØben aufzuklinken.
Aufs Geratewohl ergriff ich ein hakenfÃrmiges StØck Draht, das unter
meinen Graviersticheln auf dem Tische lag: derlei SchlÃsser springen leicht
auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!
Und was wØrde dann geschehen?
Nur Aaron Wassertrum konnte es sein, der da nebenan spionierte, -
vielleicht in KÄsten wØhlte, um neue Waffen und Beweise in die Hand zu
bekommen, legte ich mir zurecht.
Ob es viel nØtzen wØrde, wenn ich dazwischen trat?
Ich besann mich nicht lang: handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare
Warten auf den Morgen zerfetzen!
Und schon stand ich vor der eisernen BodentØre, drØckte dagegen, schob
vorsichtig den Haken ins Schloñ und horchte. Richtig: Ein schleifendes
GerÄuch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.
Im nÄchsten Augenblick schnellte der Riegel zurØck.
Ich konnte das Zimmer Øberblicken und sah, obwohl es fast finster war
und meine Kerze mich nur blendete, wie ein Mann in langem schwarzem Mantel
entsetzt vor einem Schreibtisch aufsprang, - eine Sekunde lang unschlØssig,
wohin sich wenden, - eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losstØrzen,
sich dann den Hut vom Kopf riñ und hastig damit sein Gesicht bedeckte.
"Was suchen Sie hier!" wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:
"Pernath! Sie sind's? Gotteswillen! Das Licht weg!" Die Stimme kam mir
bekannt vor, war aber keinesfalls die des TrÃdlers Wassertrum.
Automatisch blies ich die Kerze aus.
Das Zimmer lag halbdunkel da - nur von dem schimmrigen Dunst, der aus
der Fensternische hereindrang, matt erhellt - genau wie meines, und ich
muñte meine Augen aufs Äuñerste anstrengen, ehe ich in dem abgezehrten,
hektischen Gesicht, das plÃtzlich Øber dem Mantel auftauchte, die ZØge des
Studenten Charousek erkennen konnte.
"Der MÃnch!" drÄngte es sich mir auf die Zunge und ich verstand mit
einem Mal die Vision, die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der
Mann, an den ich mich wenden sollte! - Und ich hÃrte seine Worte wieder, die
er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt hatte: "Aaron Wassertrum wird
es schon erfahren, dañ man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern
stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will."
Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen? Wuñte er ebenfalls, was
sich zugetragen? Sein Hiersein zu so ungewÃhnlicher Stunde lieñ fast darauf
schlieñen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten.
Er war ans Fenster geeilt und spÄhte hinter dem Vorhang hinunter auf
die Gasse.
Ich erriet: er fØrchtete, Wassertrum kÃnne den Lichtschein meiner Kerze
wahrgenommen haben.
"Sie denken gewiñ, ich sei ein Dieb, dañ ich nachts hier in einer
fremden Wohnung herumsuche, Meister Pernath," fing er nach langem Schweigen
mit unsicherer Stimme an, "aber ich schwÃre Ihnen - -"
Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.
Und um ihm zu zeigen, dañ ich keinerlei Miñtrauen gegen ihn hegte, in
ihm vielmehr einen Bundesgenossen sah, erzÄhlte ich ihm mit kleinen
EinschrÄnkungen, die ich fØr nÃtig hielt, welche Bewandtnis es mit dem
Atelier habe, und dañ ich fØrchte, eine Frau, die mir nahestehe, sei in
Gefahr, den erpresserischen GelØsten des TrÃdlers in irgendwelcher Art zum
Opfer zu fallen.
Aus der hÃflichen Weise, mit der er mir zuhÃrte, ohne mich mit Fragen
zu unterbrechen, entnahm ich, dañ er das meiste bereits wuñte, wenn auch
vielleicht nicht in Einzelheiten.
"Es stimmt schon", sagte er grØbelnd, als ich zu Ende gekommen war.
"Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl will Savioli an die Gurgel
fahren, das ist klar, aber offenbar hat er noch nicht genug Material
beisammen. Weshalb wØrde er sich sonst noch hier immerwÄhrend herumdrØcken!
Ich ging nÄmlich gestern, sagen wir mal: ›zufÄllig‹ durch die Hahnpañgasse,"
erklarte er, als er meine fragende Miene bemerkte, "da fiel mir auf, dañ
Wassertrum erst lange - scheinbar unbefangen - vor dem Tor unten auf und ab
schlenderte, dann aber, als er sich unbeobachtet glaubte, rasch ins Haus
bog. Ich ging ihm sofort nach und tat so, als wollte ich Sie besuchen, das
heiñt, ich klopfte bei Ihnen an, und dabei Øberraschte ich ihn, wie er
drauñen an der eisernen BodentØr mit einem SchlØssel herumhantierte.
NatØrlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und klopfte ebenfalls
als Vorwand bei Ihnen an. Sie schienen Øbrigens nicht zu Hause gewesen zu
sein, denn es Ãffnete niemand.
Als ich mich dann vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich,
dañ jemand, der nach den Schilderungen nur Dr. Savioli sein konnte, hier
heimlich ein Absteigequartier besÄñe. Da Dr. Savioli schwerkrank liegt,
reimte ich mir das Øbrige zurecht.
Sehen Sie: und das da habe ich aus den Schubladen zusammengesucht, um
Wassertrum fØr alle FÄlle zuvorzukommen", schloñ Charousek und deutete auf
ein Paket Briefe auf dem Schreibtisch; "es ist alles, was ich an
SchriftstØcken finden konnte. Hoffentlich ist sonst nichts mehr vorhanden.
Wenigstens habe ich in sÄmtlichen Truhen und SchrÄnken gestÃbert, so gut das
in der Finsternis ging."
Meine Augen durchforschten bei seiner Rede das Zimmer und blieben
unwillkØrlich auf einer FalltØre am Boden haften. Ich entsann mich dabei
dunkel, dañ Zwakh mir irgendwann erzÄhlt hatte, ein geheimer Zugang fØhre
von unten herauf ins Atelier.
Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.
"Wo sollen wir die Briefe aufheben?", fing Charousek wieder an. "Sie,
Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Getto, die Wassertrum
harmlos vorkommen, - warum gerade ich, das - hat - seine - besonderen -
GrØnde", - (ich sah, dañ sich seine ZØge in wildem Hañ verzerrten, wie er so
den letzten Satz fÃrmlich zerbiñ -) "und Sie halt er fØr - -" Charousek
erstickte das Wort "verrØckt" mit einem raschen, erkØnstelten Husten, aber
ich erriet, was er hatte sagen wollen. Es tat mir nicht weh; das GefØhl,
"ihr" helfen zu kÃnnen, machte mich so glØckselig, dañ jede Empfindlichkeit
ausgelÃscht war.
Wir kamen schlieñlich Øberein, das Paket bei mir zu verstecken, und
gingen hinØber in meine Kammer.
Charousek war lÄngst fort, aber immer noch konnte ich mich nicht
entschlieñen, zu Bette zu gehen. Eine gewisse innere Unzufriedenheit nagte
an mir und hielt mich davon ab. Irgend etwas sollte ich noch tun, fØhlte
ich, aber was? was?
Einen Plan fØr den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen hÄtte?
Das allein konnte es nicht sein. Charousek lieñ den TrÃdler sowieso
nicht aus den Augen, darØber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich
an den Hañ dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.
Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?
Die seltsame innere Unruhe in mir wuchs und brachte mich fast zur
Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und ich verstand
nicht.
Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das Reiñen am ZØgel
spØrt und nicht weiñ, welches KunststØck er machen soll, den Willen seines
Herrn nicht erfañt.
Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?
Jede Faser in mir verneinte.
Die Vision des MÃnchs in der Domkirche, auf dessen Schultern gestern
der Kopf Charouseks aufgetaucht war als Antwort auf eine stumme Bitte um
Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe GefØhle nicht ohne weiteres
zu verachten. Geheime KrÄfte keimten in mir auf seit geraumer Zeit, das war
gewiñ: ich empfand es zu ØbermÄchtig, als dañ ich auch nur den Versuch
gemacht hÄtte, es wegzuleugnen.
Buchstaben zu empfinden, sie nicht nur mit den Augen in BØchern zu
lesen, - einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir Øbersetzt, was
die Instinkte ohne Worte raunen, darin muñ der SchlØssel liegen, sich mit
dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verstÄndigen, begriff ich.
"Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hÃren nicht",
fiel mir eine Bibelstelle wie eine ErklÄrung dazu ein.
"SchlØssel, SchlØssel, SchlØssel", wiederholten mechanisch meine
Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte
ich plÃtzlich.
"SchlØssel, SchlØssel - -?" Mein Blick fiel auf den krummen Draht in
meiner Hand, der mir vorhin zum ãffnen der SpeichertØre gedient hatte, und
eine heiñe Neugier, wohin wohl die viereckige FalltØr aus dem Atelier fØhren
kÃnnte, peitschte mich auf.
Und ohne zu Øberlegen, ging ich nochmals hinØber in Saviolis Atelier
und zog an dem Griffring der FalltØre, bis es mir schlieñlich gelang, die
Platte zu heben.
Zuerst nichts als Dunkelheit.
Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste
Finsternis.
Ich stieg hinunter.
Eine Zeitlang tastete ich mich mit den HÄnden die Mauern entlang, aber
es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, -
Windungen, Ecken und Winkel, - GÄnge geradeaus, nach links und nach rechts,
Reste einer alten HolztØre, Wegteilungen und dann wieder Stufen, Stufen,
Stufen hinauf und hinab.
Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde Øberall.
Und noch immer kein Lichtstrahl. -
Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hÄtte!
Endlich flacher, ebener Weg.
Aus dem Knirschen unter meinen FØñen schloñ ich, dañ ich auf trockenem
Sand dahinschritt.
Es konnte nur einer jener zahllosen GÄnge sein, die scheinbar ohne
Zweck und Ziel unter dem Getto hinfØhren bis zum Fluñ.
Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit
unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen LÄuften, und die Bewohner
Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.
Das Fehlen jeglichen GerÄuschs zu meinen HÄupten sagte mir, dañ ich
mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben
ist, befinden muñte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere
Strañen oder PlÄtze Øber mir hÄtten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.
Eine Sekunde lang wØrgte mich die Furcht: was, wenn ich im Kreise
herumging!? In ein Loch stØrzte, mich verletzte, ein Bein brach und nicht
mehr weiter gehen konnte?!
Was geschah dann mit ihren Briefen in meiner Kammer? Sie muñten
unfehlbar Wassertrum in die HÄnde fallen.
Der Gedanke an Schemajah Hillel, mit dem ich vag den Begriff eines
Helfers und FØhrers verknØpfte, beruhigte mich unwillkØrlich.
Vorsichtshalber ging ich aber doch langsamer und tastenden Schrittes
und hielt den Arm in die HÃhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen,
falls der Gang niedriger wØrde.
Von Zeit zu Zeit, dann immer Ãfter stieñ ich oben mit der Hand an, und
endlich senkte sich das Gestein so tief herab, dañ ich mich bØcken muñte, um
durchzukommen.
PÃtzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.
Ich blieb stehen und starrte hinauf.
Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum
merklicher Schimmer von Licht.
MØndete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?
Ich richtete mich auf und tastete mit beiden HÄnden in KopfeshÃhe um
mich herum: die ãffnung war genau viereckig und ausgemauert.
AllmÄhlich konnte ich darin als Abschluñ die schattenhaften Umrisse
eines wagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir, seine
StÄbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwÄngen.
Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.
Offenbar endeten hier die øberbleibsel einer eisernen Wendeltreppe,
wenn mich das GefØhl meiner Finger nicht tÄuschte?
Lang, unsagbar lang muñte ich tappen, bis ich die zweite Stufe finden
konnte, dann klomm ich empor.
Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in MannshÃhe Øber der
andern.
Sonderbar: die Treppe stieñ oben gegen eine Art horizontalen GetÄfels,
das aus regelmÄñigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein
herabschimmern lieñ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!
Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung
besser unterscheiden zu kÃnnen, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem
Erstaunen, dañ sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf den
Synagogen findet, bildeten.
Was mochte das nur sein?
PlÃtzlich kam ich dahinter: es war eine FalltØr, die an den Kanten
Licht durchlieñ! Eine FalltØr aus Holz in Gestalt eines Sternes.
Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, drØckte sie
aufwÄrts und stand im nÄchsten Moment in einem Gemach, das von grellem
Mondschein erfØllt war.
Es war ziemlich klein, vollstÄndig leer bis auf einen Haufen Gerumpel
in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.
Eine TØre oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben
benØtzt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern
immer wieder von neuem absuchte.
Die GitterstÄbe des Fensters standen zu eng, als dañ ich den Kopf hÄtte
durchstecken kÃnnen, so viel aber sah ich:
Das Zimmer befand sich ungefÄhr in der HÃhe eines dritten Stockwerks,
denn die HÄuser gegenØber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich
tiefer.
Das eine Ufer der Strañe unten war fØr mich noch knapp sichtbar, aber
infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe
Schlagschatten getaucht, die es mir unmÃglich machten, Einzelheiten zu
unterscheiden.
Zum Judenviertel muñte die Gasse unbedingt gehÃren, denn die Fenster
drØben waren sÄmtlich vermauert oder aus Simsen im Bau angedeutet, und nur
im Getto kehren die HÄuser einander so seltsam den RØcken.
Vergebens quÄlte ich mich ab herauszubringen was das wohl fØr ein
sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand.
Sollte es vielleicht ein aufgelassenes SeitentØrmchen der griechischen
Kirche sein? Oder gehÃrte es irgendwie zur Altneusynagoge?
Die Umgebung stimmte nicht.
Wieder sah ich mich im Zimmer um: nichts, was mir auch nur den
kleinsten Aufschluñ gegeben hÄtte. - Die WÄnde und die Decke waren kahl,
Bewurf und Kalk lÄngst abgefallen und weder NagellÃcher, noch NÄgel, die
verraten hÄtten, dañ der Raum einst bewohnt gewesen.
Der Boden lag fuñhoch bedeckt mit Staub, als hÄtte ihn seit Jahrzehnten
kein lebendes Wesen betreten.
Das GerØmpel in der Ecke zu durchsuchen, ekelte ich mich. Es lag in
tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand.
Dem Äuñeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem KnÄuel geballt.
Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?
Ich tastete mit dem Fuñ hin, und es gelang mir, mit dem Absatz einen
Teil davon in die NÄhe des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer Øbers
Zimmer warf. Es schien wie ein breites, dunkles Band, das sich da langsam
aufrollte.
Ein blitzender Punkt wie ein Auge!
Ein Metallknopf vielleicht?
AllmÄhlich wurde mir klar: ein ärmel von sonderbarem, altmodischem
Schnitt hing da aus dem BØndel heraus.
Und eine kleine weiñe Schachtel, oder dergleichen lag darunter,
lockerte sich unter meinem Fuñ und zerfiel in eine Menge fleckiger
Schichten.
Ich gab ihr einen leichten Stoñ: Ein Blatt flog ins Helle.
Ein Bild?
Ich bØckte mich: ein Pagad!
Was mir eine weiñe Schachtel geschienen, war ein Tarockspiel.
Ich hob es auf.
Konnte es etwas LÄcherlicheres geben: Ein Kartenspiel hier an diesem
gespenstischen Ort!
MerkwØrdig, dañ ich mich zum LÄcheln zwingen muñte. Ein leises GefØhl
von Grauen beschlich mich.
Ich suchte nach einer banalen ErklÄrung, wie die Karten wohl
hierhergekommen sein kÃnnten, und zÄhlte dabei mechanisch das Spiel. Es war
vollstÄndig: 78 StØck. Aber schon wÄhrend des ZÄhlens fiel mir etwas auf:
Die BlÄtter waren wie aus Eis.
Eine lÄhmende KÄlte ging von ihnen aus, und wie ich das Paket
geschlossen in der Hand hielt, konnte ich es kaum mehr loslassen: so
erstarrt waren meine Finger. Wieder haschte ich nach einer nØchternen
ErklÄrung:
Mein dØnner Anzug, die lange Wanderung ohne Mantel und Hut in den
unterirdischen GÄngen, die grimmige Winternacht, die SteinwÄnde, der
entsetzliche Frost, der mit dem Mondlicht durchs Fenster hereinfloñ: -
sonderbar genug, dañ ich erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in der
ich mich die ganze Zeit befunden, muñte mich darØber hinweggetÄuscht haben.
-
Ein Schauer nach dem andern jagte mir Øber die Haut. Schicht um Schicht
drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen KÃrper ein.
Ich fØhlte mein Skelett zu Eis werden und wurde mir jedes einzelnen
Knochens bewuñt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror.
Kein Umherlaufen half, kein Stampfen mit den FØñen und nicht das
Schlagen mit den Armen. Ich biñ die ZÄhne zusammen, um ihr Klappern nicht zu
hÃren.
Das ist der Tod, sagte ich mir, der dir die kalten HÄnde auf den
Scheitel legt.
Und ich wehrte mich wie ein Rasender gegen den betÄubenden Schlaf des
Erfrierens, der, wollig und erstickend, mich wie mit einem Mantel einhØllen
kam.
Die Briefe, in meiner Kammer - ihre Briefe! brØllte es in mir auf: man
wird sie finden, wenn ich hier sterbe. Und sie hofft auf mich! Hat ihre
Rettung in meine HÄnde gelegt! - Hilfe! - Hilfe! Hilfe! -
Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die Ãde Gasse, dañ
es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe!
Warf mich zu Boden und sprang wieder auf. Ich durfte nicht sterben,
durfte nicht! ihretwegen, nur ihretwegen! Und wenn ich Funken aus meinen
Knochen schlagen sollte, um mich zu erwÄrmen.
Da fiel mein Blick auf die Lumpen in der Ecke, und ich stØrzte darauf
zu und zog sie mit schlotternden HÄnden Øber meine Kleider.
Es war ein zerschlissener Anzug aus dickem, dunklem Tuch von
uraltmodischem, seltsamem Schnitt.
Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus.
Dann kauerte ich mich in dem gegenØberliegenden Mauerwinkel zusammen
und spØrte meine Haut langsam, langsam wÄrmer werden. Nur das schauerliche
GefØhl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos
sañ ich da und lieñ meine Augen wandern: die Karte, die ich zuerst gesehen,
- der Pagad, - lag noch immer inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen.
Unverwandt muñte ich sie anstarren.
Sie schien, soweit ich auf die Entfernung hin erkennen konnte, in
Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und stellte den hebrÄischen
Buchstaben Aleph dar, in Form eines Mannes, altfrÄnkisch gekleidet, den
grauen Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm erhoben, wÄhrend der
andere abwÄrts deutete.
Hatte das Gesicht des Mannes nicht eine seltsame ähnlichkeit mit
meinem, dÄmmerte mir ein Verdacht auf? - Der Bart - er pañte so gar nicht zu
einem Pagad, - - ich kroch auf die Karte zu und warf sie in die Ecke zu dem
Rest des GerØmpels, um den quÄlenden Anblick los zu sein.
Dort lag sie jetzt und schimmerte - ein grauweiñer, unbestimmter Fleck
- zu mir herØber aus dem Dunkel.
Mit Gewalt zwang ich mich zu Øberlegen, was ich zu beginnen hÄtte, um
wieder in meine Wohnung zu kommen:
Den Morgen abwarten! Unten die VorØbergehenden vom Fenster aus anrufen,
damit sie mir von auñen mit einer Leiter Kerzen oder eine Laterne
heraufbrÄchten! - Ohne Licht die endlosen, sich ewig kreuzenden GÄnge
zurØckzufinden, wØrde mir nie gelingen, empfand ich als beklemmende
Gewiñheit. - Oder, falls das Fenster zu hoch lÄge, dañ sich jemand vom Dach
mit einem Strick - -? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich:
jetzt wuñte ich, wo ich war: Ein Zimmer ohne Zugang - nur mit einem
vergitterten Fenster - das altertØmliche Haus in der Altschulgasse, das
jeder mied! - schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an einem
Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster zu schauen, und der Strick
war gerissen und - Ja: ich war in dem Haus, in dem der gespenstische Golem
jedesmal verschwand!
Ein tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht
einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederkÄmpfen konnte, lÄhmte
jedes Weiterdenken und mein Herz fing an, sich zu krampfen.
Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der
da so eisig aus der Ecke herØberwehte, sagte es mir vor, schneller und
schneller, mit pfeifendem Atem - es half nicht mehr: dort drØben der
weiñliche Fleck - die Karte - sie quoll auf zu blasigem Klumpen, tastete
sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zurØck in die
Finsternis. - Tropfende Laute - halb gedacht, geahnt, halb wirklich - im
Raum und doch auñerhalb um mich herum und doch anderswo, - tief im eigenen
Herzen und wieder mitten im Zimmer - erwachten: GerÄusche, wie wenn ein
Zirkel fÄllt und mit der Spitze im Holz stecken bleibt!
Immer wieder: Der weiñliche Fleck - - - der weiñliche Fleck - -! Eine
Karte, eine erbÄrmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir
ins Hirn hinein - - - umsonst - - jetzt hat er sich dennoch - dennoch
Gestalt erzwungen - der Pagad - und hockt in der Ecke und stiert herØber zu
mir mit meinem eigenen Gesicht.
Stunden und Stunden kauerte ich da - unbeweglich - in meinem Winkel,
ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! - Und er drØben:
ich selbst.
Stumm und regungslos.
So starrten wir uns in die Augen, - einer das grÄñliche Spiegelbild des
andern. - - -
Ob er es auch sieht, wie sich die Mondstrahlen mit schneckenhafter
TrÄgheit Øber den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren Uhrwerks
in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und fahler werden? -
Ich bannte ihn fest mit meinem Blick und es half ihm nichts, dañ er
sich auflÃsen wollte in dem MorgendÄmmerschein, der ihm vom Fenster her zu
Hilfe kam.
Ich hielt ihn fest.
Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen um mein Leben - um das
Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehÃrt. - -
Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in
sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hinØber zu ihm und steckte
ihn in die Tasche - den Pagad.
Immer noch war die Gasse unten Ãd und menschenleer.
Ich durchstÃberte die Zimmerecke, die jetzt im stumpfen Morgenlichte
lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne, morsche Fetzen, ein Flaschenhals.
Tote Dinge und doch so merkwØrdig bekannt.
Und auch die Mauern - wie die Risse und SprØnge dann deutlich wurden! -
wo hatte ich sie nur gesehen?
Ich nahm das KartenpÄckchen zur Hand - es dÄmmerte mir auf: hatte ich
die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit?
Es war ein uraltes Tarockspiel. Mit hebrÄischen Zeichen. - Nummer 12
muñ der "Gehenkte" sein, Øberkam's mich wie halbe Erinnerung. - Mit dem Kopf
abwÄrts? Die Arme auf dem RØcken? - Ich blÄtterte nach: Da! Da war er.
Dann wieder, halb Traum, halb Gewiñheit, tauchte ein Bild vor mir auf:
Ein geschwÄrztes Schulhaus, bucklig, schief, ein mØrrisches HexengebÄude,
die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem Nebenhaus verwachsen. -
- - Wir sind mehrere halbwØchsige Jungen - ein verlassener Keller ist
irgendwo - - -
Dann sah ich an meinem KÃrper herab und wurde wieder irre: Der
altmodische Anzug war mir vÃllig fremd.
Der LÄrm eines holpernden Karrens schreckte mich auf, doch als ich
hinabblickte: Keine Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen an
einem Eckstein.
Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen!
Zwei alte Weiber kamen langsam die Strañe dahergetrottet, und ich
zwÄngte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an.
Mit offenem Mund glotzten sie in die HÃhe und berieten sich. Aber als
sie mich sahen, stieñen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon.
Sie haben mich fØr den Golem gehalten, begriff ich.
Und ich erwartete, dañ ein Zusammenlauf von Menschen entstehen wØrde,
denen ich mich verstÄndlich machen kÃnnte, aber wohl eine Stunde verging,
und nur hie und da spÄhte unten vorsichtig ein blasses Gesicht herauf zu
mir, um sofort in Todesschreck wieder zurØckzufahren.
Sollte ich warten, bis vielleicht nach Stunden oder gar erst morgen
Polizisten kamen - die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte?
Nein, lieber wollte ich einen Versuch machen, die unterirdischen GÄnge
ein StØck weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen.
Vielleicht fiel jetzt bei Tag durch Ritzen im Gestein eine Spur von
Licht hinab?
Ich kletterte die Leiter hinunter, setzte den Weg, den ich gestern
gekommen war, fort - Øber ganze Halden zerbrochener Ziegelsteine und durch
versunkene Keller - erklomm eine Treppenruine und stand plÃtzlich - - im
Hausflur des schwarzen Schulhauses, das ich vorhin wie im Traum gesehen.
Sofort stØrzte eine Flutwelle von Erinnerungen auf mich ein: BÄnke,
bespritzt mit Tinte von oben bis unten, Rechenhefte, plÄrrender Gesang, ein
Junge, der MaikÄfer in der Klasse loslÄñt, LesebØcher mit zerquetschten
Butterbroten darin und der Geruch nach Orangenschalen. Jetzt wuñte ich mit
Gewiñheit: Ich war einst als Knabe hier gewesen. - Aber ich lieñ mir keine
Zeit nachzudenken und eilte heim.
Der erste Mensch, der mir in der Salnitergasse begegnete, war ein
verwachsener alter Jude mit weiñen SchlÄfenlocken. Kaum hatte er mich
erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den HÄnden und heulte laut hebrÄische
Gebete herunter.
Auf den LÄrm hin muñten wahrscheinlich viele Leute aus ihren HÃhlen
gestØrzt sein, denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir los.
Ich drehte mich um und sah ein wimmelndes Heer totenblasser,
entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachwÄlzen.
Erstaunt blickte ich an mir herunter und verstand: - ich trug noch
immer die seltsam mittelalterlichen Kleider von nachts her Øber meinem
Anzug, und die Leute glaubten, den "Golem" vor sich zu haben.
Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riñ mir die modrigen
Fetzen vom Leibe.
Gleich darauf raste die Menge mit geschwungenen StÃcken und geifernden
MÄulern schreiend an mir vorØber.
Einigemal im Lauf des Tages hatte ich an Hillels TØre geklopft; - es
lieñ mir keine Ruhe: ich muñte ihn sprechen und fragen, was alle diese
seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieñ es, er sei noch nicht zu
Hause.
Sowie er heimkÄme vom jØdischen Rathaus, wollte mich seine Tochter
sofort verstÄndigen. -
Ein sonderbares MÄdchen Øbrigens, diese Mirjam!
Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
Eine SchÃnheit, so fremdartig, dañ man sie im ersten Moment gar nicht
fassen kann, - eine SchÃnheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht,
und ein unerklÄrliches GefØhl, so etwas, wie leise Mutlosigkeit in einem
erweckt.
Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden verlorengegangen sein
mØssen, ist dieses Gesicht geformt, grØbelte ich mir zurecht, wie ich es so
im Geiste wieder vor mir sah.
Und ich dachte nach, welchen Edelstein ich wÄhlen mØñte, um es als
Gemme festzuhalten und dabei den kØnstlerischen Ausdruck richtig zu wahren:
Schon an dem rein äuñerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und der
Augen, der alles Øbertraf, worauf ich auch riet, scheiterte es. - Wie erst
die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und visionsgemÄñ in eine Kamee
bannen, ohne sich in die stumpfsinnige ähnlichkeitsmacherei der kanonischen
"Kunst"richtung festzurennen!
Nur durch ein Mosaik lieñ es sich lÃsen, erkannte ich klar, aber was
fØr Material wÄhlen? Ein Menschenleben gehÃrte dazu, das passende zusammen
zu finden. - -
Wo nur Hillel blieb!
Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.
MerkwØrdig, wie er mir in den wenigen Tagen - und ich hatte ihn doch,
genaugenommen, nur ein einziges Mal im Leben gesprochen, - ins Herz
gewachsen war.
Ja, richtig: die Briefe - ihre Briefe - wollte ich doch besser
verstecken. Zu meiner Beruhigung, falls ich wieder einmal lÄnger von zu
Hause fort sein sollte.
Ich nahm sie aus der Truhe: - in der Kassette wØrden sie sicherer
aufbewahrt sein.
Eine Photographie glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte nicht
hinschauen, aber es war zu spÄt.
Den Brokatstoff um die bloñen Schultern gelegt - so wie ich ›sie‹ das
erste Mal gesehen, als sie in mein Zimmer flØchtete aus Saviolis Atelier -
blickte sie mir in die Augen.
Ein wahnsinniger Schmerz bohrte sich in mich ein. Ich las die Widmung
unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:
Deine Angelina.
Angelina!!!
Wie ich den Namen aussprach, zerriñ der Vorhang, der meine Jugendjahre
vor mir verbarg, von oben bis unten.
Vor Jammer glaubte ich zusammenbrechen zu mØssen. Ich krallte die
Finger in die Luft und winselte, - biñ mich in die Hand: - - nur wieder
blind sein, Gott im Himmel, - den Scheintot weiterleben, wie bisher, flehte
ich.
Das Weh stieg mir in den Mund. - Quoll. - Schmeckte seltsam sØñ, - wie
Blut. - -
Angelina!!
Der Name kreiste in meinen Adern und wurde - zu unertrÄglicher
gespenstischer Liebkosung.
Mit einem gewaltsamen Ruck riñ ich mich zusammen und zwang mich - mit
knirschenden ZÄhnen - das Bild anzustarren, bis ich langsam Herr darØber
wurde!
Herr darØber!
Wie heute nacht Øber das Kartenblatt.
Endlich: Schritte! MÄnnertritte.
Er kam!
Voll Jubel eilte ich zur TØr und riñ sie auf.
Schemajah Hillel stand Strauñen und hinter ihm - ich machte mir leise
VorwØrfe, dañ ich es als EnttÄuschung empfand - mit roten BÄckchen und
runden Kinderaugen: der alte Zwakh.
"Wie ich zu meiner Freude sehe, sind Sie wohlauf, Meister Pernath",
fing Hillel an.
Ein kaltes "Sie"?
Frost. Schneidender, ertÃtender Frost lag plÃtzlich im Zimmer.
BetÄubt, mit halbem Ohr, hÃrte ich hin, was Zwakh, atemlos vor
Aufregung, auf mich losplapperte:
"Wissen Sie schon, der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir
davon, wissen Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist auf. Vrieslander
hat ihn selbst gesehen, den Golem. Und wieder hat es, wie immer, mit einem
Mord begonnen" - Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?
Zwakh schØttelte mich: "Ja, wissen Sie denn von gar nichts, Pernath?
Unten hÄngt doch groñmÄchtig ein Polizeiaufruf an den Ecken: den dicken
Zottmann, den ›Freimaurer‹ - na, ich meine doch den
Lebensversicherungsdirektor Zottmann, - soll man ermordet haben. Der Loisa -
hier im Haus - ist bereits verhaftet. Und die rote Rosina: spurlos
verschwunden. - Der Golem - der Golem - es ist ja haarstrÄubend."
Ich gab keine Antwort und suchte in Hillels Augen: warum blickte er
mich so unverwandt an?
Ein verhaltenes LÄcheln zuckte plÃtzlich um seine Mundwinkel.
Ich verstand. Es galt mir.
Am liebsten wÄre ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.
Auñer mir in meinem EntzØcken, lief ich planlos im Zimmer umher. Was
zuerst bringen? GlÄser? Eine Flasche Burgunder? (Ich hatte doch nur eine.)
Zigarren? - Endlich fand ich Worte: "Aber warum setzt ihr euch denn nicht?!"
- Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. - - -
Zwakh fing an, sich zu Ärgern: "Warum lÄcheln Sie denn immerwÄhrend,
Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, dañ der Golem spukt? Mir scheint. Sie
glauben Øberhaupt nicht an den Golem?"
"Ich wØrde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor
mir sÄhe", antwortete Hillel gelassen mit einem Blick auf mich. - Ich
verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.
Zwakh hielt erstaunt im Trinken inne: "Das Zeugnis von Hunderten von
Menschen gilt Ihnen nichts, Hillel? - Aber warten Sie nur, Hillel, denken
Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich
kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her."
"Die HÄufung gleichartiger Ereignisse ist nichts Wunderbares",
erwiderte Hillel. Er sprach im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die
Scheiben hinab auf den TrÃdlerladen - "Wenn der Tauwind weht, rØhrt sich's
in den Wurzeln. In den sØñen wie, in den giftigen."
Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.
"Wenn der Rabbi nur reden wollte, der kÃnnte uns Dinge erzÄhlen, dañ
einem die Haare zu Berge stØnden", warf er halblaut hin.
Schemajah drehte sich um.
"Ich bin nicht ›Rabbi‹, wenn ich auch den Titel tragen darf. Ich bin
nur ein armseliger Archivar im jØdischen Rathaus und fØhre die Register Øber
die Lebendigen und die Toten."
Eine verborgene Bedeutung lag in seiner Rede, fØhlte ich. Auch der
Marionettenspieler schien es unterbewuñt zu empfinden, - er wurde still, und
eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.
"HÃren Sie mal, Rabbi -, verzeihen Sie: ›Herr Hillel‹, wollte ich
sagen", - fing Zwakh nach einer Weile wieder an, und seine Stimme klang
auffallend ernst, "ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen mir
ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mÃgen, oder nicht dØrfen - - -"
Schemajah trat an den Tisch und spielte mit dem Weinglas - er trank
nicht; vielleicht verbot es ihm das jØdische Ritual.
"Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh."
"- - Wissen Sie etwas Øber die jØdische Geheimlehre, die Kabbala,
Hillel?"
"Nur wenig."
"Ich habe gehÃrt, es soll ein Dokument geben, aus dem man die Kabbala
lernen kann: den ›Sohar‹ - -"
"Ja, den Sohar - das Buch des Glanzes."
"Sehen Sie, da hat man's", schimpfte Zwakh los. "Ist es nicht eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit, dañ eine Schrift, die angeblich die
SchlØssel zum VerstÄndnis der Bibel und zur GlØckseligkeit enthÄlt -"
Hillel unterbrach ihn: "- nur einige SchlØssel."
"Gut, immerhin einige! - also, dañ diese Schrift infolge ihres hohen
Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den Reichen zugÄnglich ist? In einem
einzigen Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie ich mir habe
erzÄhlen lassen? Und Øberdies chaldÄisch, aramÄisch, hebrÄisch - oder was
weiñ ich wie - geschrieben? - Habe ich zum Beispiel je im Leben Gelegenheit
gehabt, diese Sprachen zu lernen oder nach London zu kommen?"
"Haben Sie denn alle Ihre WØnsche so heiñ auf dieses Ziel gerichtet?"
fragte Hillel mit leisem Spott.
"Offen gestanden - nein", gab Zwakh einigermañen verwirrt zu.
"Dann sollten Sie sich nicht beklagen", sagte Hillel trocken, "wer
nicht nach dem Geist schreit mit allen Atomen seines Leibes, - wie ein
Erstickender nach Luft, - der kann die Geheimnisse Gottes nicht schauen."
"Es sollte trotzdem ein Buch geben, in dem sÄmtliche SchlØssel zu den
RÄtseln der anderen Welt stehen, nicht nur einige", schoñ es mir durch den
Kopf, und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich immer noch
in der Tasche trug, aber ehe ich die Frage in Worte kleiden konnte, hatte
Zwakh sie bereits ausgesprochen.
Hillel lÄchelte wieder sphinxhaft: "Jede Frage, die ein Mensch tun
kann, ist im selben Augenblick beantwortet, in dem er sie geistig gestellt
hat."
"Verstehen Sie, was er damit meint?", wandte sich Zwakh an mich.
Ich gab keine Antwort und hielt den Atem an, um kein Wort von Hillels
Rede zu verlieren.
Schemajah fuhr fort:
"Das ganze Leben ist nichts anderes als formgewordene Fragen, die den
Keim der Antwort in sich tragen - und Antworten, die schwanger gehen mit
Fragen. Wer irgend etwas anderes drin sieht, ist ein Narr."
Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:
"Jawohl: Fragen, die jedesmal anders lauten, und Antworten, die jeder
anders versteht."
"Gerade darauf kommt es an", sagte Hillel freundlich. "Alle Menschen
Øber einen LÃffel zu - kurieren, ist lediglich Vorrecht der ärzte. Der
Fragende erhÄlt die Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht die Kreatur
den Weg ihrer Sehnsucht. Glauben Sie denn, unsere jØdischen Schriften sind
bloñ aus WillkØr nur in Konsonanten geschrieben? - Jeder hat sich selbst die
geheimen Vokale dazu zu finden, die ihm den nur fØr ihn allein bestimmten
Sinn erschlieñen, - soll nicht das lebendige Wort zum toten Dogma
erstarren."
Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:
"Das sind Worte, Rabbi, Worte! Pagad Ultimo will ich heiñen, wenn ich
daraus klug werde."
Pagad!! - Das Wort schlug in mich ein wie der Blitz. Ich fiel vor
Entsetzen beinahe vom Stuhl.
Hillel wich meinen Augen aus.
"Pagad ultimo? Wer weiñ, ob Sie nicht wirklich so heiñen, Herr Zwakh!"
- schlug Hillels Rede wie aus weiter Ferne an mein Ohr. "Man soll seiner
Sache niemals allzu sicher sein. - øbrigens, da wir gerade von Karten
sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarock?"
"Tarock? NatØrlich. Von Kindheit an."
"Dann wundert's mich, wieso Sie nach einem Buche fragen kÃnnen, in dem
die ganze Kabbala steht, wo Sie es doch selbst Tausende Male in der Hand
gehabt haben."
"Ich? In der Hand gehabt? Ich?" - Zwakh griff sich an den Kopf.
"Jawohl, Sie! Ist es Ihnen niemals aufgefallen, dañ das Tarockspiel 22
TrØmpfe hat, - genausoviel, wie das hebrÄische Alphabet Buchstaben? Zeigen
unsere bÃhmischen Karten nicht zum øberfluñ noch Bilder dazu, die
offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der Teufel, das Letzte Gericht?
- Wie laut, lieber Freund, wollen Sie eigentlich, dañ Ihnen das Leben die
Antworten in die Ohren schreien soll? - - Was Sie allerdings nicht zu wissen
brauchen, ist, dañ ›Tarok‹ oder ›Tarot‹ soviel bedeutet wie die jØdische
›Tora‹ = das Gesetz, oder das altÄgyptische ›Tarut‹ = ›die Befragte‹, und in
der uralten Zendsprache das Wort: ›tarisk‹ = ›ich verlange die Antwort‹. -
Aber die Gelehrten sollten es wissen, bevor sie die Behauptung aufstellen,
das Tarock stamme aus der Zeit Karls des Sechsten. - Und so, wie der Pagad
die erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch die erste Figur in seinem
eignen Bilderbuch, sein eigner DoppelgÄnger: - - der hebrÄische Buchstabe
Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit der einen Hand zum Himmel
zeigt und mit der andern abwÄrts: das heiñt also: ›So wie es oben ist, ist
es auch unten; so wie es unten ist, ist es auch oben.‹ - Darum sagte ich
vorhin: Wer weiñ, ob Sie wirklich Zwakh heiñen und nicht: ›Pagad‹ - berufen
Sie's nicht," - Hillel blickte mich dabei unverwandt an, und ich ahnte, wie
sich unter seinen Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutung auftat - "berufen
Sie's nicht, Herr Zwakh! Man kann da in finstere GÄnge geraten, aus denen
noch keiner zurØckfand, der nicht - einen Talisman bei sich trug. Die
øberlieferung erzÄhlt, dañ einmal drei MÄnner hinabgestiegen seien ins Reich
der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur der dritte,
Rabbi ben Akiba, kam heil wieder heim und sagte, er sei sich selbst
begegnet. Schon so mancher, werden Sie sagen, ist sich selbst begegnet, z.
B. Goethe, gewÃhnlich auf einer BrØcke, oder sonst einem Steig, der von
einem Ufer eines Flusses zum andern fØhrt, - hat sich selbst ins Auge
geblickt und ist nicht wahnsinnig geworden. Aber dann war's eben nur eine
Spiegelung des eigenen Bewuñtseins und nicht der wahre DoppelgÄnger: nicht
das, was man ›den Hauch der Knochen‹, den ›Habal Garmin‹ nennt, von dem es
heiñt: Wie er in die Grube fuhr, unverweslich, im Gebein, so wird er
auferstehn am Tage des Letzten Gerichts." - Hillels Blick bohrte sich immer
tiefer in meine Augen - "Unsere GroñmØtter sagen von ihm: ›er wohnt hoch
Øber der Erde in einem Zimmer ohne TØre, nur mit einem Fenster, von dem aus
eine VerstÄndigung mit den Menschen unmÃglich ist. Wer ihn zu bannen und zu
- - verfeinern versteht, der wird gut Freund mit sich selbst." - - - Was
schlieñlich das Tarock betrifft, so wissen Sie so gut wie ich: FØr jeden
Spieler liegen die Karten anders, wer aber die TrØmpfe richtig verwendet,
der gewinnt die Partie - - -. Aber kommen Sie jetzt, Herr Zwakh! Gehen wir,
Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen Wein aus, und es bleibt nichts
mehr Øbrig fØr ihn selbst."
Eine Flockenschlacht tobte vor meinem Fenster. Regimenterweise jagten
die Schneesterne - winzige Soldaten in weiñen, zottigen MÄntelchen -
hintereinander her an den Scheiben vorØber - minutenlang - immer in
derselben Richtung, wie auf gemeinsamer Flucht vor einem ganz besonders
bÃsartigen Gegner. Dann hatten sie das Davonlaufen mit einemmal dick satt,
schienen aus rÄtselhaften GrØnden einen Wutanfall zu bekommen und sausten
wieder zurØck, bis ihnen von oben und unten neue feindliche Armeen in die
Flanken fielen und alles in ein heilloses Gewirbel auflÃsten.
Monate schien mir zurØckzuliegen, was ich an Seltsamem erst vor kurzem
erlebt hatte, und wÄren nicht tÄglich einigemal immer neue krause GerØchte
Øber den Golem zu mir gedrungen, die alles wieder frisch aufleben lieñen,
ich glaube, ich hÄtte mich in Augenblicken des Zweifels verdÄchtigen kÃnnen,
das Opfer eines seelischen DÄmmerzustandes gewesen zu sein.
Aus den bunten Arabesken, die die Ereignisse um mich gewoben, stach in
schreienden Farben hervor, was mir Zwakh Øber den noch immer unaufgeklÄrten
Mord an dem sogenannten "Freimaurer" erzÄhlt hatte.
Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte mir
nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht abschØtteln
konnte, - fast unmittelbar darauf, als Prokop in jener Nacht aus dem
Kanalgitter ein unheimliches GerÄusch gehÃrt zu haben geglaubt, hatten wir
den Burschen beim "Loisitschek" gesehen. Allerdings lag kein Anlañ vor, den
Schrei unter der Erde, der Øberdies geradesogut eine SinnestÄuschung gewesen
sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu deuten. - - -
Das SchneegestÃber vor meinen Augen blendete mich und ich fing an,
alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder
auf die Gemme vor mir. Das Wachsmodell, das ich von Mirjams Gesicht
entworfen hatte, muñte sich vortrefflich auf den blÄulich leuchtenden
Mondstein da Øbertragen lassen. - Ich freute mich: es war ein angenehmer
Zufall, dañ sich etwas so Geeignetes unter meinem Mineralienvorrat gefunden
hatte. Die tiefschwarze Matrix von Hornblende gab dem Stein gerade das
richtige Licht und die Konturen pañten so genau, als habe ihn die Natur
eigens geschaffen, ein bleibendes Abbild von Mirjams feinem Profil zu
werden.
Anfangs war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die
den Ägyptischen Gott Osiris darstellen sollte, und die Vision des
Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die ich mir jederzeit mit auffallender
Deutlichkeit ins GedÄchtnis zurØckrufen konnte, regte mich kØnstlerisch
stark an, aber allmÄhlich entdeckte ich nach den ersten Schnitten eine
solche ähnlichkeit mit der Tochter Schemajah Hillels, dañ ich meinen Plan
umstieñ. - - -
- Das Buch Ibbur! -
ErschØttert legte ich den Stahlgriffel weg. Unfañbar, was in der kurzen
Spanne Zeit in mein Leben getreten war!
Wie jemand, der sich plÃtzlich in eine unabsehbare SandwØste versetzt
sieht, wurde ich mir mit einem Schlage der tiefen, riesengroñen Einsamkeit
bewuñt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.
Konnte ich je mit einem Freund - Hillel ausgenommen - davon reden, was
ich erlebt?
Wohl war mir in den stillen Stunden der verflossenen NÄchte die
Erinnerung wiedergekehrt, dañ mich all meine Jugendjahre - von frØher
Kindheit angefangen - ein unsagbarer Durst nach dem Wunderbaren, dem
jenseits aller Sterblichkeit Liegenden, bis zur Todespein gefoltert hatte,
aber die ErfØllung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm gekommen und
erdrØckte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.
Ich zitterte vor dem Augenblick, wo ich zu mir selbst kommen und das
Geschehene in seiner vollen markverbrennenden Lebendigkeit als Gegenwart
empfinden muñte.
Nur jetzt sollte es noch nicht kommen! Erst den Genuñ auskosten:
Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!
Ich hatte es doch in meiner Macht! Brauchte nur hinØber zu gehen in
mein Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das
Geschenk der Unsichtbaren, lag!
Wie lang war's her, da hatte es meine Hand berØhrt, als ich Angelinas
Briefe dazuschloñ!
Dumpfes DrÃhnen drauñen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angehÄuften
Schneemassen von den DÄchern hinab vor die HÄuser warf, gefolgt von Pausen
tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut verschlang.
Ich wollte weiterarbeiten, - da plÃtzlich stahlscharfe HufschlÄge unten
die Gasse entlang, dañ man's fÃrmlich Funken sprØhen sah.
Das Fenster zu Ãffnen und hinauszuschauen, war unmÃglich: Muskeln aus
Eis verbanden seine RÄnder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur
HÄlfte weiñ verweht. Ich sah nur, dañ Charousek scheinbar ganz friedlich
neben dem TrÃdler Wassertrum stand - sie muñten soeben ein GesprÄch
mitsammen gefØhrt haben - sah, wie die VerblØffung, die sich in ihrer beider
Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der meinen Blicken
entzogen war, anstarrten.
Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. - Sie selbst konnte
es nicht sein! Mit ihrer Equipage hier bei mir vorzufahren - in der
Hahnpañgasse! - vor aller Leute Augen! Es wÄre hellichter Wahnsinn gewesen.
- Aber was sollte ich zu ihrem Gatten sagen, wenn er's wÄre und mich auf den
Kopf zu fragte?
Leugnen, natØrlich leugnen.
Hastig legte ich mir die MÃglichkeiten zurecht: es kann nur ihr Gatte
sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, - von Wassertrum - dañ sie hier
gewesen sei zu einem Rendezvous, und sie hat eine Ausrede gebraucht:
wahrscheinlich, dañ sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir bestellt habe. -
- - Da! wØtendes Klopfen an meiner TØr und - Angelina stand vor mir.
Sie konnte kein Wort hervorbringen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes
verriet mir alles: sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Das Lied war
aus.
Dennoch lehnte sich irgend etwas in mir auf gegen diese Annahme. Ich
brachte es nicht fertig, zu glauben, dañ das GefØhl, ihr helfen zu kÃnnen,
mich belogen haben sollte.
Ich fØhrte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und
sie verbarg, todmØde wie ein Kind, ihren Kopf an meiner Brust.
Wir hÃrten das Knistern der brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie
der rote Schein Øber die Dielen huschte, aufflammte und erlosch - aufflammte
und erlosch - aufflammte und erlosch - - -
"Wo ist das Herz aus rotem Stein - - -" klang es in meinem Innern. Ich
fuhr auf: Wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?
Und ich forschte sie aus, - vorsichtig, leise, ganz leise, dañ sie
nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht berØhre.
BruchstØckweise erfuhr ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte es
mir zusammen wie ein Mosaik:
"Ihr Gatte weiñ - -?"
"Nein, noch nicht; er ist verreist."
Also um Dr. Saviolis Leben drehte sich's; - Charousek hatte es richtig
erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war sie
hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff ich.
Wassertrum war abermals bei Dr. Savioli gewesen. Hatte sich mit
Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.
Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?
Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, dañ
- - dañ - er wollte, dañ sich Dr. Savioli - - ein Leid antue.
Sie kenne jetzt auch die GrØnde von Wassertrums wildem besinnungslosem
Hañ: "Dr. Savioli habe einst seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den Tod
getrieben."
Sofort schlug ein Gedanke in mich ein wie der Blitz: hinunterlaufen,
dem TrÃdler alles verraten: dañ Charousek den Schlag gefØhrt hatte - aus dem
Hinterhalt - und nicht Savioli, der nur das Werkzeug war - - -. "Verrat!
Verrat!" heulte es mir ins Hirn, "du willst also den armen schwindsØchtigen
Charousek, der dir helfen wollte und ihr, der Rachsucht dieses Halunken
preisgeben?" - Und es zerriñ mich in blutende HÄlften. - Dann sprach ein
Gedanke eiskalt und gelassen die Losung aus: "Narr! Du hast es doch in der
Hand! Brauchst ja nur die Feile dort auf dem Tisch zu nehmen, hinunter zu
laufen und sie dem TrÃdler durch die Gurgel zu jagen, dañ die Spitze hinten
zum Genick herausschaut."
Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.
Ich forschte weiter:
"Und Dr. Savioli?"
Kein Zweifel, dañ er Hand an sich legen wird, wenn sie ihn nicht
rettete. Die Krankenschwestern lieñen ihn nicht aus den Augen, hatten ihn
mit Morphium betÄubt, aber vielleicht erwacht er plÃtzlich - vielleicht
gerade jetzt - und - und - nein, nein, sie mØsse fort, dØrfe keine Sekunde
Zeit mehr versÄumen, - sie wolle ihrem Gatten schreiben, ihm alles
eingestehen, - solle er ihr das Kind nehmen, aber Savioli sei gerettet, denn
sie hÄtte Wassertrum damit die einzige Waffe aus der Hand geschlagen, die er
besÄñe und mit der er drohe.
Sie wolle das Geheimnis selbst enthØllen, ehe er es verraten kÃnne.
"Das werden Sie nicht tun, Angelina!" schrie ich und dachte an die
Feile und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude Øber meine Macht.
Angelina wollte sich losreiñen: ich hielt sie fest.
"Nur noch eins: øberlegen Sie, wird Ihr Gatte denn dem TrÃdler so ohne
weiteres glauben?"
"Aber Wassertrum hat doch Beweise, offenbar meine Briefe, vielleicht
auch ein Bild von mir, - alles, was im Schreibtisch nebenan im Atelier
versteckt war."
Briefe? Bild? Schreibtisch? - ich wuñte nicht mehr, was ich tat: ich
riñ Angelina an meine Brust und kØñte sie. Auf den Mund, auf die Stirn, auf
die Augen.
Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.
Dann hielt ich sie an ihren schmalen HÄnden und erzÄhlte ihr mit
fliegenden Worten, dañ der Todfeind Wassertrums - ein armer bÃhmischer
Student - die Briefe und alles in Sicherheit gebracht hÄtte und sie in
meinem Besitz seien und fest verwahrt.
Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. KØñte
mich. Rannte zur TØr. Kehrte wieder um und kØñte mich wieder.
Dann war sie verschwunden.
Ich stand wie betÄubt und fØhlte noch immer den Atem ihres Mundes an
meinem Gesicht.
Ich hÃrte wie die WagenrÄder Øber das Pflaster donnerten und den
rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute spÄter war alles still. Wie ein Grab.
Auch in mir.
PlÃtzlich knarrte die TØr leise hinter mir, und Charousek stand im
Zimmer:
"Verzeihen Sie, Herr Pernath, ich habe lange geklopft, aber Sie
schienen es nicht zu hÃren."
Ich nickte nur stumm.
"Hoffentlich nehmen Sie nicht an, dañ ich mich mit Wassertrum versÃhnt
habe, weil Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?" - Charouseks hohnisches
LÄcheln sagte mir, dañ er nur einen grimmigen Spañ machte. - "Sie mØssen
nÄmlich wissen: Das Gluck ist mir hold; die Kanaille da unten fÄngt an, mich
in ihr Herz zu schlieñen, Meister Pernath. - - Es ist eine seltsame Sache,
das mit der Stimme des Blutes", setzte er leise - halb fØr sich - hinzu.
Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich hÄtte
etwas ØberhÃrt. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in mir.
"Er wollte mir einen Mantel schenken", fuhr Charousek laut fort. "Ich
habe natØrlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut genug.
- Und dann hat er mir Geld aufgedrÄngt."
"Sie haben es angenommen?!", wollte es mir herausfahren, aber ich hielt
noch rasch meine Zunge im Zaum.
Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:
"Das Geld habe ich selbstverstÄndlich angenommen."
Mir wurde ganz wirr im Kopf!
"- an - genommen?", stammelte ich.
"Ich hÄtte nie gedacht, dañ man auf Erden eine so reine Freude
empfinden kann!" - Charousek hielt einen Augenblick inne und schnitt eine
Fratze. - "Ist es nicht ein erhebendes GefØhl, im Haushalt der Natur
›MØtterchens Vorsehung‹ Ãkonomischen Finger allenthalben in Weisheit und
Umsicht walten zu sehen!?" - Er sprach wie ein Pastor und klimperte dabei
mit dem Geld in seiner Tasche, - "wahrlich, als hehre Pflicht empfinde ich
es, den Schatz, mir anvertraut von milder Hand, auf Heller und Pfennig
dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzufØhren."
War er betrunken? Oder wahnsinnig?
Charousek Änderte plÃtzlich den Ton:
"Es liegt eine satanische Komik darin, dañ Wassertrum sich die - Arznei
selber bezahlt. Finden Sie nicht?"
Eine Ahnung dÄmmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg,
und mir graute vor seinen fiebernden Augen.
"øbrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die
laufenden GeschÄfte. Vorhin, die Dame, das war ›sie‹ doch? Was ist ihr denn
eingefallen, hier Ãffentlich vorzufahren?"
Ich erzÄhlte Charousek, was geschehen war.
"Wassertrum hat bestimmt keine Beweise in den HÄnden", unterbrach er
mich freudig, "sonst hÄtte er nicht heute morgen abermals das Atelier
durchsucht. - MerkwØrdig, dañ Sie ihn nicht gehÃrt haben!? Eine volle Stunde
lang war er drØben."
Ich staunte, woher er alles so genau wissen kÃnne, und sagte es ihm.
"Darf ich?" - als ErklÄrung nahm er sich eine Zigarette vom Tisch,
zØndete sie an und erlÄuterte: "Sehen Sie, wenn Sie jetzt die TØr Ãffnen,
bringt die Zugluft, die vom Stiegenhaus hereinweht, den Tabakrauch aus der
Richtung. Es ist das vielleicht das einzige Naturgesetz, das Herr Wassertrum
genau kennt, und fØr alle FÄlle hat er in der Strañenmauer des Ateliers -
das Haus gehÃrt ihm, wie Sie wissen - eine kleine, versteckte, offene Nische
anbringen lassen: eine Art Ventilation, und darin ein rotes FÄhnchen. Wenn
nun jemand das Zimmer betritt oder verlÄñt, das heiñt: die ZugtØr Ãffnet, so
merkt es Wassertrum unten an dem heftigen Flattern des FÄhnchens. Allerdings
weiñ ich es ebenfalls," setzte Charousek trocken hinzu, "wenn's mir drum zu
tun ist, und kann es von dem Kellerloch vis-Á-vis, in dem zu hausen ein
gnÄdiges Schicksal mir huldreichst gestattet, genau beobachten. - Der
niedliche Scherz mit der Ventilation ist zwar ein Patent des wØrdigen
Patriarchen, aber auch mir seit Jahren gelÄufig."
"Was fØr einen Øbermenschlichen Hañ Sie gegen ihn haben mØssen, dañ Sie
so jeden seiner Schritte belauern. Und noch dazu seit langem, wie Sie
sagen!" warf ich ein.
"Hañ?" Charousek lÄchelte krampfhaft. "Hañ? - Hañ ist kein Ausdruck.
Das Wort, das meine GefØhle gegen ihn bezeichnen kÃnnte, muñ erst geschaffen
werden. - Ich hasse, genaugenommen, auch gar nicht ihn. Ich hasse sein Blut.
Verstehen Sie das? Ich wittere wie ein wildes Tier, wenn auch nur ein
Tropfen von seinem Blut in den Adern eines Menschen flieñt, - und" - er biñ
die ZÄhne zusammen - "das kommt ›zuweilen‹ vor hier im Getto." UnfÄhig
weiter zu sprechen vor Aufregung lief er ans Fenster und starrte hinaus. -
Ich hÃrte wie er sein Keuchen unterdrØckte. Wir schwiegen beide eine Weile.
"Hallo, was ist denn das?" fuhr er plÃtzlich auf und winkte mir hastig:
"Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?"
Wir spÄhten vorsichtig hinter den VorhÄngen hinunter:
Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des TrÃdlerladens und bot,
soviel wir aus seiner Zeichensprache erraten konnten, Wassertrum einen
kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf an.
Wassertrum fuhr danach wie ein Geier und zog sich damit in seine HÃhle
zurØck.
Gleich darauf stØrzte er wieder hervor - totenblañ - und packte Jaromir
an der Brust: Es entspann sich ein heftiges Ringen. - Mit einem Mal lieñ
Wassertrum los und schien zu Øberlegen. Nagte wØtend an seiner gespaltenen
Oberlippe. Warf einen grØbelnden Blick zu uns herauf und zog dann Jaromir am
Arm friedlich in seinen Laden.
Wir warteten wohl eine Viertelstunde lang: sie schienen nicht fertig
werden zu kÃnnen mit ihrem Handel.
Endlich kam der Taubstumme mit befriedigter Miene wieder heraus und
ging seines Weges.
"Was halten Sie davon?", fragte ich. "Es scheint nichts Wichtiges zu
sein? Vermutlich hat der arme Bursche irgendeinen erbettelten Gegenstand
versilbert."
Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder an den
Tisch.
Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr
nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:
"Ja. Also ich sagte, ich hasse sein Blut. - Unterbrechen Sie mich,
Meister Pernath, wenn ich wieder heftig werde. Ich will kalt bleiben. Ich
darf meine besten Empfindungen nicht so vergeuden. Es packt mich sonst
nachher wie ErnØchterung. Ein Mensch mit SchamgefØhl soll in kØhlen Worten
reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder - oder ein Dichter. -
Seit die Welt steht, wÄr's niemand eingefallen, vor Leid die ›HÄnde zu
ringen‹, wenn nicht die Schauspieler diese Geste als besonders ›plastisch‹
ausgetØftelt hÄtten."
Ich begriff, dañ er mit Absicht blind drauflos redete, um innerlich
Ruhe zu bekommen.
Es wollte ihm nicht recht gelingen. NervÃs lief er im Zimmer auf und
ab, fañte alle mÃglichen GegenstÄnde an und stellte sie zerstreut zurØck an
ihren Platz.
Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:
"Aus den kleinsten unwillkØrlichen Bewegungen eines Menschen verrÄt
sich mir dieses Blut. Ich kenne Kinder, die ›ihm‹ Ähnlich sehen und als
seine gelten, aber doch sind sie nicht vom selben Stamme - man kann mich
nicht tÄuschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, dañ Dr. Wassory sein Sohn ist,
aber ich habe es - ich mÃchte sagen - gerochen.
Schon als kleiner Junge, als ich noch nicht ahnen konnte, in welchen
Beziehungen Wassertrum zu mir steht," - sein Blick ruhte eine Sekunde
forschend auf mir, - "besañ ich diese Gabe. Man hat mich mit FØñen getreten,
mich geschlagen, dañ es wohl keine Stelle an meinem KÃrper gibt, die nicht
wØñte, was rasender Schmerz ist, - hat mich hungern und dursten lassen, bis
ich halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde gefressen habe, aber niemals
konnte ich diejenigen hassen, die mich peinigten. Ich konnte einfach nicht.
Es war kein Platz mehr in mir fØr Hañ. - Verstehen Sie? Und doch war mein
ganzes Wesen getrÄnkt damit.
Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan - ich will damit
sagen, dañ er mich jemals weder geschlagen oder beworfen, noch auch
irgendwie beschimpft hat, wenn ich mich als Gassenjunge unten herumtrieb:
ich weiñ das genau, - und doch richtete sich alles, was an Rachsucht und Wut
in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!
MerkwØrdig ist, dañ ich ihm trotzdem nie als Kind einen Schabernack
gespielt habe. Wenn's die andern taten, zog ich mich sofort zurØck. Aber
stundenlang konnte ich im Torweg stehen und, hinter der HaustØr versteckt,
durch die Angelritzen sein Gesicht unverwandt anstieren, bis mir vor
unerklÄrlichem HañgefØhl schwarz vor den Augen wurde.
Damals, glaube ich, habe ich den Grundstein zu dem Hellsehen gelegt,
das sofort in mir aufwacht, wenn ich mit Wesen, ja sogar mit Dingen in
BerØhrung komme, die in Verbindung mit ihm stehen. Ich muñ wohl jede seiner
Bewegungen: seine Art, den Rock zu tragen und wie er Sachen anfañt, hustet
und trinkt, und all das Tausenderlei damals unbewuñt auswendig gelernt
haben, bis sich's mir in die Seele frañ, dañ ich Øberall die Spuren davon
auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit als seine ErbstØcke erkennen
kann.
SpÄter wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose GegenstÄnde
von mir, bloñ weil mich der Gedanke quÄlte, seine Hand kÃnne sie berØhrt
haben, - andere wieder waren mir ans Herz gewachsen; ich liebte sie wie
Freunde, die ihm BÃses wØnschten."
Charousek schwieg einen Moment. Ich sah, wie er geistesabwesend ins
Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem Tisch.
"Als dann ein paar mitleidige Lehrer fØr mich gesammelt hatten und ich
Philosophie und Medizin studierte - auch nebenbei selbst denken lernte -, da
kam mir langsam die Erkenntnis, was Hañ ist:
Wir kÃnnen nur etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil von
uns selbst ist.
Und wie ich spÄter dahinter kam, - nach und nach alles erfuhr: was
meine Mutter war - und - und noch sein muñ, wenn - wenn sie noch lebt, - und
dañ mein eigener Leib" - er wendete sich ab, damit ich sein Gesicht nicht
sehen sollte, - "voll ist von seinem eklen Blut - nun ja, Pernath, - warum
sollen Sie's nicht wissen: er ist mein Vater! - da wurde mir klar, wo die
Wurzel lag. - - - Zuweilen kommt's mir sogar wie ein geheimnisvoller
Zusammenhang vor, dañ ich schwindsØchtig bin und Blut spucken muñ: mein
KÃrper wehrt sich gegen alles, was von ›ihm‹ ist, und stÃñt es mit Abscheu
von sich.
Oft hat mich mein Hañ bis in den Traum begleitet und zu trÃsten gesucht
mit Geschichten von allen nur erdenklichen Foltern, die ich ›ihm‹ zufØgen
durfte, aber immer verscheuchte ich sie selber, weil sie den faden
Beigeschmack des - Unbefriedigtseins in mir hinterlieñen.
Wenn ich Øber mich selbst nachdenke und mich wundern muñ, dañ es so gar
niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, - ja nicht einmal
als antipathisch zu empfinden imstande wÄre, auñer ›ihn‹ und seinen Stamm, -
beschleicht mich oft das widerliche GefØhl: ich kÃnnte das sein, was man
einen ›guten Menschen‹ nennt. Aber zum GlØck ist es nicht so. - Ich sagte
Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.
Und glauben Sie nur ja nicht, dañ ein trauriges Schicksal mich
verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat, erfuhr ich Øberdies erst
in spÄteren Jahren) - ich habe einen Freudentag erlebt, der weit in den
Schatten stellt, was sonst einem Sterblichen vergÃnnt ist. Ich weiñ nicht,
ob Sie kennen, was innere, echte, heiñe FrÃmmigkeit ist, - ich hatte es bis
dahin auch nicht gekannt - als ich aber an jenem Tage, an dem Wassory sich
selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und sah, wie ›er‹ die Nachricht
bekam, - sie ›stumpfsinnig‹, wie ein Laie, der die echte BØhne des Lebens
nicht kennt, hÄtte glauben mØssen, - hinnahm, wohl eine Stunde lang
teilnahmslos stehen blieb, seine blutrote Hasenscharte nur ein ganz klein
biñchen hÃher Øber die ZÄhne gezogen als sonst und den Blick so gewiñ - - so
- so - so eigenartig nach innen gekehrt, - - - - da fØhlte ich den
Weihrauchduft von den Schwingen des Erzengels. - - Kennen Sie das Gnadenbild
der schwarzen Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder und
die Finsternis des Paradieses hØllte meine Seele ein." -
- - - Wie ich Charousek so dastehen sah, die groñen, trÄumerischen
Augen voll TrÄnen, da fielen mir Hillels Worte ein von der Unbegreiflichkeit
des dunklen Pfades, den die BrØder des Todes gehen.
Charousek fuhr fort:
"Die Äuñeren Umstande, die meinen Hañ ›rechtfertigen‹ oder in den
Gehirnen der amtlich besoldeten Richter begreiflich erscheinen lassen
kÃnnten, werden Sie vielleicht gar nicht interessieren: - Tatsachen sehen
sich an wie Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie sind das
aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den Tafeln der Protzen, das
nur der Schwachsinnige fØr das Wesentliche eines Gelages hÄlt. - Wassertrum
hat meine Mutter mit all den infernalischen Mitteln, die seinesgleichen
Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu Willen zu sein, - wenn es nicht noch viel
schlimmer war. Und dann - - nun ja - und dann hat er sie an - ein
Freudenhaus verkauft, - - - so etwas ist nicht schwer, wenn man PolizeirÄte
zu GeschÄftsfreunden hat, - aber nicht etwa, weil er ihrer ØberdrØssig
gewesen wÄre, o nein! Ich kenne die Schlupfwinkel seines Herzens: an dem
Tage hat er sie verkauft, wo er sich voll Schrecken bewuñt wurde, wie heiñ
er sie in Wirklichkeit liebte. So einer wie er handelt da scheinbar
widersinnig, aber immer gleich. Das Hamsterhafte in seinem Wesen quietscht
auf, sowie jemand kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner TrÃdlerbude
gegen noch so teures Geld: er empfindet nur den Zwang des ›HergebenmØssens‹.
Er mÃchte den Begriff ›haben‹ am liebsten in sich hineinfressen und kÃnnte
er sich Øberhaupt ein Ideal ausdenken, so wÄr's das, sich dereinst in den
abstrakten Begriff ›Besitz‹ aufzulÃsen. - -
Und da ist es damals riesengroñ in ihm gewachsen bis zu einem Berg von
Angst: "seiner selbst nicht mehr sicher" zu sein, - nicht: etwas an Liebe
geben zu wollen, sondern geben zu mØssen: die Gegenwart eines Unsichtbaren
in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er mÃchte, dañ es sein
Wille sein sollte, heimlich in Fesseln schlug. - So war der Anfang. Was dann
folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht mechanisch zubeiñen muñ, - ob er
will oder nicht - wenn ein blitzender Gegenstand zu rechter Zeit
vorØberschwimmt.
Das Verschachern meiner Mutter ergab sich fØr Wassertrum als natØrliche
Folge. Es befriedigte den Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften: die
Gier nach Gold und die perverse Wonne an der Selbstqual. - - - Verzeihen
Sie, Meister Pernath," - Charouseks Stimme klang plÃtzlich so hart und
nØchtern, dañ ich erschrak, - "verzeihen Sie, dañ ich so furchtbar gescheit
daherrede, aber wenn man an der UniversitÄt ist, kommt einem eine Menge
vertrottelter BØcher unter die HÄnde; unwillkØrlich verfÄllt man dann in
eine teppenhafte Ausdrucksweise." -
Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem LÄcheln; innerlich verstand ich
gar wohl, dañ er mit dem Weinen kÄmpfte.
Irgendwie muñ ich ihm helfen, Øberlegte ich, wenigstens seine bitterste
Not zu lindern versuchen, soweit das in meiner Macht steht. Ich nahm
unauffÄllig die Hundertguldennote, die ich noch zu Hause hatte, aus der
Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.
"Wenn Sie spÄter einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf
als Arzt ausØben, wird Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek"; sagte
ich, um dem GesprÄch eine versÃhnliche Richtung zu geben, - "machen Sie bald
Ihr Doktorat?"
"DemnÄchst. Ich bin es meinen WohltÄtern schuldig. Zweck hat's ja
keinen, denn meine Tage sind gezÄhlt."
Ich wollte den Øblichen Einwand machen, dañ er doch wohl zu schwarz
sehe, aber erwehrte lÄchelnd ab:
"Es ist das beste so. Es muñ Øberdies kein VergnØgen sein, den
HeilkomÃdianten zu mimen und sich zu guterletzt noch als diplomierter
Brunnenvergifter einen Adelstitel zuzuziehen. - - Andererseits", setzte er
mit seinem galligen Humor hinzu, "wird mir leider jedes weitere segensreiche
Wirken hier im Diesseits-Getto ein fØr allemal abgeschnitten sein." Er griff
nach seinem Hut. "Jetzt will ich aber nicht langer stÃren. Oder wÄre noch
etwas zu besprechen in der Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht. Lassen
Sie mich jedenfalls wissen, wenn Sie etwas Neues erfahren. Am besten, Sie
hÄngen einen Spiegel hier ans Fenster, als Zeichen, dañ ich Sie besuchen
soll. Zu mir in den Keller dØrfen Sie auf keinen Fall kommen: Wassertrum
wurde sofort Verdacht schÃpfen, dañ wir zusammenhalten. - Ich bin Øbrigens
sehr neugierig, was er jetzt tun wird, wo er gesehen hat, dañ die Dame zu
Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie hÄtte Ihnen ein SchmuckstØck
zu reparieren gebracht, und wenn er zudringlich wird, spielen Sie eben den
Rabiaten."
Es wollte sich keine passende Gelegenheit ergeben, Charousek die
Banknote aufzudrÄngen; ich nahm daher das Modellierwachs wieder vom
Fensterbrett und sagte: "Kommen Sie, ich begleite Sie ein StØck die Treppen
hinunter. - Hillel erwartet mich", log ich.
Er stutzte:
"Sie sind mit ihm befreundet?"
"Ein wenig. Kennen Sie ihn? - - Oder miñtrauen Sie ihm", - ich muñte
unwillkØrlich lÄcheln - "vielleicht auch?"
"Da sei Gott vor!"
"Warum sagen Sie das so ernst?"
Charousek zÃgerte und dachte nach:
"Ich weiñ selbst nicht warum. Es muñ etwas Unbewuñtes sein: so oft ich
ihm auf der Strañe begegne, mÃchte ich am liebsten vom Pflaster
heruntertreten und das Knie beugen wie vor einem Priester, der die Hostie
trÄgt. - Sehen Sie, Meister Pernath, da haben Sie einen Menschen, der in
jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum ist. Er gilt z. B. bei den Christen
hier im Viertel, die, wie immer, so auch in diesem Fall falsch informiert
sind, als Geizhals und heimlicher MillionÄr und ist doch unsagbar arm."
Ich fuhr entsetzt auf: "arm?"
"Ja, womÃglich noch armer als ich. Das Wort ›nehmen‹ kennt er, glaub'
ich, Øberhaupt nur aus BØchern; aber wenn er am Ersten des Monats aus dem
›Rathaus‹ kommt, dann laufen die jØdischen Bettler vor ihm davon, weil sie
wissen, er wØrde dem nÄchsten besten von ihnen seinen ganzen kÄrglichen
Gehalt in die Hand drØcken und ein paar Tage spÄter - samt seiner Tochter
selber verhungern. - Wenn's wahr ist, was eine uralte talmudische Legende
behauptet: dañ von den zwÃlf jØdischen StÄmmen zehn verflucht sind und zwei
hellig, so verkÃrpert er die zwei heiligen und Wassertrum alle zehn andern
zusammen. - Haben Sie noch nie bemerkt, wie Wassertrum sÄmtliche Farben
spielt, wenn Hillel an ihm vorØber geht? Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen
Sie, solches Blut kann sich gar nicht vermischen; da kamen die Kinder tot
zur Welt. Vorausgesetzt, dañ die MØtter nicht schon frØher vor Entsetzen
stØrben. - Hillel ist Øbrigens der einzige, an den sich Wassertrum nicht
herantraut; - er weicht ihm aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel das
Unbegreifliche, das vollkommen UnentrÄtselbare, fØr ihn bedeutet. Vielleicht
wittert er in ihm auch den Kabballsten."
Wir gingen bereits die Stiegen hinab.
"Glauben Sie, dañ es heutzutage noch Kabballsten gibt - dañ Øberhaupt
an der Kabbala etwas sein konnte?", fragte ich, gespannt, was er wohl
antworten wØrde, aber er schien nicht zugehÃrt zu haben.
Ich wiederholte meine Frage.
Hastig lenkte er ab und deutete auf eine TØr des Treppenhauses, die aus
Kistendeckeln zusammengenagelt war:
"Sie haben da neue Mitbewohner bekommen, eine zwar jØdische aber arme
Familie: den meschuggenen Musikanten Nephtali Schaffranek mit Tochter,
Schwiegersohn und Enkelkindern. Wenn's dunkel wird und er allein ist mit den
kleinen MÄdchen, kommt der Rappel Øber ihn: dann bindet er sie an den Daumen
zusammen, damit sie ihm nicht davonlaufen, zwÄngt sie in einen alten
HØhnerkÄfig und unterweist sie im ›Gesang‹, wie er es nennt, damit sie
spÄter ihren Lebensunterhalt selbst erwerben kÃnnen, - das heiñt, er lehrt
sie die verrØcktesten Lieder, die es gibt, deutsche Texte, BruchstØcke, die
er irgendwo aufgeschnappt hat und im DÄmmer seines Seelenzustandes fØr -
preuñische Schlachthymnen oder dergleichen hÄlt."
Wirklich tÃnte da eine sonderbare Musik leise auf den Gang heraus. Ein
Fiedelbogen kratzte fØrchterlich hoch und immerwÄhrend in ein und demselben
Ton die Umrisse eines Gassenhauers, und zwei fadendØnne Kinderstimmen sangen
dazu:
"Frau Pick,
Frau Hock,
Frau Kle - pe - tarsch,
se stehen beirenond
und schmusen allerhond - -"
Es war wie Wahnwitz und Komik zugleich, und ich muñte wider Willen
hellaut auflachen.
"Schwiegersohn Schaffranek - seine Frau verkauft auf dem Eiermarkt
Gurkensaft glÄschenweise an die Schuljugend - lÄuft den ganzen Tag in den
BØros herum", fuhr Charousek grimmig fort, "und erbettelt sich alte
Briefmarken. Die sortiert er dann, und wenn er welche darunter findet, die
zufÄllig nur am Rande gestempelt sind, so legt er sie aufeinander und
schneidet sie durch. Die ungestempelten HÄlften klebt er zusammen und
verkauft sie als neu. Anfangs blØhte das GeschÄft und warf manchmal fast
einen - Gulden im Tag ab, aber schlieñlich kamen die Prager jØdischen
Groñindustriellen dahinter - und machen es jetzt selber. Sie schÃpfen den
Rahm ab."
"WØrden Sie Not lindern, Charousek, wenn Sie ØberflØssiges Geld
hÄtten?" fragte ich rasch. - Wir standen vor Hillels TØr und ich klopfte an.
"Halten Sie mich fØr so gemein, dañ Sie glauben kÃnnen, ich tÄte es
nicht?", fragte er verblØfft zurØck.
Mirjams Schritte kamen nÄher, und ich wartete, bis sie die Klinke
niederdrØckte, dann schob ich ihm rasch die Banknote in die Tasche:
"Nein, Herr Charousek, ich halte Sie nicht dafØr, aber mich mØñten Sie
fØr gemein halten, wenn ich's unterlieñe."
Ehe er etwas erwidern konnte, hatte ich ihm die Hand geschØttelt und
die TØr hinter mir zugezogen. WÄhrend mich Mirjam begrØñte, lauschte ich,
was er tun wØrde.
Er blieb eine Weile stehen, dann schluchzte er leise auf und ging
langsam mit suchendem Schritt die Treppe hinunter. Wie jemand, der sich am
GelÄnder halten muñ. - - -
Es war das erste Mal, dañ ich Hillels Zimmer besuchte.
Es sah schmucklos aus wie ein GefÄngnis. Der Boden peinlich sauber und
mit weiñem Sand bestreut. Nichts an MÃbeln als zwei StØhle und ein Tisch und
eine Kommode. Ein Holzpostament je links und rechts an den WÄnden. - - -
Mirjam sañ mir gegenØber am Fenster, und ich bossierte an meinem
Modellierwachs.
"Muñ man denn ein Gesicht vor sich haben, um die ähnlichkeit zu
treffen?", fragte sie schØchtern und nur, um die Stille zu unterbrechen.
Wir wichen einander scheu mit den Blicken aus. Sie wuñte nicht, wohin
die Augen richten in ihrer Qual und Scham Øber die jammervolle Stube, und
mir brannten die Wangen von innerem Vorwurf, dañ ich mich nicht lÄngst darum
gekØmmert hatte, wie sie und ihr Vater lebten.
Aber irgend etwas muñte ich doch antworten!
"Nicht so sehr, um die ähnlichkeit zu treffen, als um zu vergleichen,
ob man innerlich auch richtig gesehen hat", - ich fØhlte, noch wÄhrend ich
sprach, wie grundfalsch das alles war, was ich sagte.
Jahrelang hatte ich den irrigen Grundsatz der Maler, man mØsse die
Äuñere Natur studieren, um kØnstlerisch schaffen zu kÃnnen, stumpfsinnig
nachgebetet und befolgt; erst, seit Hillel mich in jener Nacht erweckt, war
mir das innere Schauen aufgegangen: das wahre SehenkÃnnen hinter
geschlossenen Lidern, das sofort erlischt, wenn man die Augen aufschlÄgt, -
die Gabe, die sie alle zu haben glauben und die doch unter Millionen keiner
wirklich besitzt.
Wie konnte ich auch nur von der MÃglichkeit sprechen, die unfehlbare
Richtschnur der geistigen Vision an den groben Mitteln des Augenscheins
nachmessen zu wollen!
Mirjam schien ähnliches zu denken, nach dem Erstaunen in ihren Mienen
zu schlieñen.
"Sie dØrfen es nicht so wÃrtlich nehmen", entschuldigte ich mich.
Voll Aufmerksamkeit sah sie zu, wie ich mit dem Griffel die Form
vertiefte.
"Es muñ unendlich schwer sein, alles dann haargenau auf Stein zu
Øbertragen?"
"Das ist nur mechanische Arbeit. So ziemlich wenigstens."
Pause.
"Darf ich die Gemme sehen, wenn sie fertig ist?" fragte sie.
"Sie ist doch fØr Sie bestimmt, Mirjam."
"Nein, nein; das geht nicht, - - das - das - -", - ich sah, wie ihre
HÄnde nervÃs wurden.
"Nicht einmal diese Kleinigkeit wollen Sie von mir annehmen?",
unterbrach ich sie schnell, "ich wollte, ich dØrfte mehr fØr Sie tun."
Hastig wandte sie das Gesicht ab.
Was hatte ich da gesagt! Ich muñte sie aufs tiefste verletzt haben. Es
hatte geklungen, als wollte ich auf ihre Armut anspielen.
Konnte ich es noch beschÃnigen? Wurde es dann nicht weit schlimmer?
Ich nahm einen Anlauf:
"HÃren Sie mich ruhig an, Mirjam! Ich bitte Sie darum. - Ich schulde
Ihrem Vater so unendlich viel, - Sie kÃnnen das gar nicht ermessen - -"
Sie sah mich unsicher an; verstand offenbar nicht.
"-ja ja: unendlich viel. Mehr als mein Leben."
"Weil er Ihnen damals beistand, als Sie ohnmÄchtig waren? Das war doch
selbstverstÄndlich."
Ich fØhlte: sie wuñte nicht, welches Band mich mit ihrem Vater
verknØpfte. Vorsichtig sondierte ich, wie weit ich gehen durfte, ohne zu
verraten, was er ihr verschwieg.
"Weit hÃher als Äuñere Hilfe, dachte ich, ist die innere zu stellen. -
Ich meine die, die aus dem geistigen Einfluñ eines Menschen auf den andern
Øberstrahlt. - Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Mirjam? - Man kann
jemand auch seelisch heilen, nicht nur kÃrperlich, Mirjam."
"Und das hat - -?"
"Ja, das hat Ihr Vater an mir getan!" - ich fañte sie an der Hand, -
"begreifen Sie nicht, dañ es mir da ein Herzenswunsch sein muñ, wenn schon
nicht ihm, so doch jemand, der ihm so nahesteht, wie Sie, irgendeine Freude
zu bereiten? - Haben Sie nur ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir! - Gibt's
denn gar keinen Wunsch, den ich Ihnen erfØllen kÃnnte?"
Sie schØttelte den Kopf: "Sie glauben, ich fØhle mich unglØcklich
hier?"
"Gewiñ nicht. Aber vielleicht haben Sie zuweilen Sorgen, die ich Ihnen
abnehmen konnte? Sie sind verpflichtet - hÃren Sie! - verpflichtet, mich
daran teilnehmen zu lassen! Warum leben Sie denn beide hier in der finstern
traurigen Gasse, wenn Sie nicht mØñten? Sie sind noch so jung, Mirjam, und -
-"
"Sie leben doch selbst hier, Herr Pernath", unterbrach sie mich
lÄchelnd, "was fesselt Sie an das Haus?"
Ich stutzte. - Ja. Ja, das war richtig. Warum lebte ich eigentlich
hier? Ich konnte es mir nicht erklÄren, was fesselt dich an das Haus?
wiederholte ich mir geistesabwesend. Ich konnte keine ErklÄrung finden und
vergañ einen Augenblick ganz, wo ich war. - Dann stand ich plÃtzlich
entrØckt irgendwo hoch oben - in einem Garten - roch den zauberhaften Duft
von blØhenden Holunderdolden, - sah herab auf die Stadt - - -
"Habe ich eine Wunde berØhrt? Hab' ich Ihnen weh getan?", kam Mirjams
Stimme von weit, weit her zu mir.
Sie hatte sich Øber mich gebeugt und sah mir Ängstlich forschend ins
Gesicht.
Ich muñte wohl lange starr dagesessen haben, dañ sie so besorgt war.
Eine Weile schwankte es hin und her in mir, dann brach sich's plÃtzlich
gewaltsam Bahn, Øberflutete mich, und ich schØttete Mirjam mein ganzes Herz
aus.
Ich erzÄhlte ihr, wie einem lieben, alten Freund, mit dem man sein
ganzes Leben beisammen war und vor dem man kein Geheimnis hat, wie's um mich
stand und auf welche Weise ich aus einer ErzÄhlung Zwakhs erfahren hatte,
dañ ich in frØheren Jahren wahnsinnig gewesen und der Erinnerung an meine
Vergangenheit beraubt worden war, - wie in letzter Zeit Bilder in mir wach
geworden, die in jenen Tagen wurzeln muñten, immer hÄufiger und hÄufiger,
und dañ ich vor dem Moment zitterte, wo mir alles offenbar werden und mich
von neuem zerreiñen wØrde.
Nur, was ich mit ihrem Vater in Zusammenhang bringen muñte: - meine
Erlebnisse in den unterirdischen GÄngen und all das Øbrige, verschwieg ich
ihr.
Sie war dicht zu mir gerØckt und hÃrte mit einer tiefen atemlosen
Teilnahme zu, die mir unsÄglich wohl tat.
Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich mich aussprechen
konnte, wenn mir meine geistige Einsamkeit zu schwer wurde. - Gewiñ wohl:
Hillel war ja noch da, aber fØr mich nur wie ein Wesen jenseits der Wolken,
das kam und verschwand wie ein Licht, an das ich nicht herankonnte, wenn ich
mich sehnte.
Ich sagte es ihr und sie verstand mich. Auch sie sah ihn so, trotzdem
er ihr Vater war.
Er hing mit unendlicher Liebe an ihr und sie an ihm - "und doch bin ich
wie durch eine Glaswand von ihm getrennt," vertraute sie mir an, "die ich
nicht durchbrechen kann. Solange ich denke, war es so. - Wenn ich ihn als
Kind im Traum an meinem Bette stehen sah, immer trug er das Gewand des
Hohenpriesters: die goldene Tafel des Moses mit den 12 Steinen darin auf der
Brust, und blaue leuchtende Strahlen gingen von seinen SchlÄfen aus. - Ich
glaube, seine Liebe ist von der Art, die Øbers Grab hinausgeht, und zu groñ,
als dañ wir sie fassen kÃnnten. - Das hat auch meine Mutter immer gesagt,
wenn wir heimlich Øber ihn sprachen." - - Sie schauderte plÃtzlich und
zitterte am ganzen Leib. Ich wollte aufspringen, aber sie hielt mich zurØck:
"Seien Sie ruhig, es ist nichts. Bloñ eine Erinnerung. Als meine Mutter
starb - nur ich weiñ, wie er sie geliebt hat, ich war damals noch ein
kleines MÄdchen, - glaubte ich vor Schmerz ersticken zu mØssen, und ich lief
zu ihm hin und krallte mich in seinen Rock und wollte aufschreien und konnte
doch nicht, weil alles gelÄhmt war in mir - und - und da - - - - mir lauft's
wieder eiskalt Øber den RØcken, wenn ich daran denke - sah er mich lÄchelnd
an, kØñte mich auf die Stirn und fuhr mir mit der Hand Øber die Augen. - - -
- Und von dem Moment an bis heute war jedes Leid, dañ ich meine Mutter
verloren hatte, wie ausgetilgt in mir. Nicht eine TrÄne konnte ich
vergieñen, als sie begraben wurde; ich sah die Sonne als strahlende Hand
Gottes am Himmel stehen und wunderte mich, warum die Menschen weinten. Mein
Vater ging hinter dem Sarge her, neben mir, und wenn ich aufblickte,
lÄchelte er jedesmal leise und ich fØhlte, wie das Entsetzen durch die Menge
fuhr, als sie es sahen."
"Und sind Sie glØcklich, Mirjam? Ganz glØcklich? Liegt nicht zugleich
etwas Furchtbares fØr Sie in dem Gedanken, ein Wesen zum Vater zu haben, das
hinausgewachsen ist Øber alles Menschentum?", fragte ich leise.
Mirjam schØttelte freudig den Kopf:
"Ich lebe wie in einem seligen Schlaf dahin. - Als Sie mich vorhin
fragten, Herr Pernath, ob ich nicht Sorgen hÄtte und warum wir hier wohnten,
muñte ich fast lachen. Ist denn die Natur schÃn? Nun ja, die BÄume sind grØn
und der Himmel ist blau, aber das alles kann ich mir viel schÃner
vorstellen, wenn ich die Augen schlieñe. Muñ ich denn, um sie zu sehen, auf
einer Wiese sitzen? - Und das biñchen Not und - und - und Hunger? Das wird
tausendfach aufgewogen durch die Hoffnung und das Warten."
"Das Warten?", fragte ich erstaunt.
"Das Warten auf ein Wunder. Kennen Sie das nicht? Nein? Da sind Sie
aber ein ganz, ganz armer Mensch. - Dañ das so wenige kennen?! Sehen Sie,
das ist auch der Grund, weshalb ich nie ausgehe und mit niemand verkehre.
Ich hatte wohl frØher ein paar Freundinnen - JØdinnen natØrlich, wie ich -,
aber wir redeten immer aneinander vorbei; sie verstanden mich nicht und ich
sie nicht. Wenn ich von Wundern sprach, glaubten sie anfangs, ich mache
Spañ, und als sie merkten, wie ernst es mir war und dañ ich auch unter
Wundern nicht das verstand, was die Deutschen mit ihren Brillen so
bezeichnen: das gesetzmÄñige Wachsen des Grases und dergleichen, sondern
eher das Gegenteil, - hÄtten sie mich am liebsten fØr verrØckt gehalten,
aber dagegen stand ihnen wieder im Wege, dañ ich ziemlich gelenkig bin im
Denken, hebrÄisch und aramÄisch gelernt habe, die Targumim und Midraschim
lesen kann, und was dergleichen NebensÄchlichkeiten mehr sind. Schlieñlich
fanden sie ein Wort, das Øberhaupt nichts mehr ausdrØckt: sie nannten mich
›Øberspannt‹.
Wenn ich ihnen dann klarmachen wollte, dañ das Bedeutsame - das
Wesentliche - fØr mich in der Bibel und anderen heiligen Schriften das
Wunder und bloñ das Wunder sei und nicht Vorschriften Øber Moral und Ethik,
die nur versteckte Wege sein kÃnnen, um zum Wunder zu gelangen, - so wuñten
sie nur mit GemeinplÄtzen zu erwidern, denn sie scheuten sich, offen
einzugestehen, dañ sie aus den Religionsschriften nur das glaubten, was
ebensogut im bØrgerlichen Gesetzbuch stehen kÃnnte. Wenn sie das Wort
›Wunder‹ nur hÃrten, wurde ihnen schon unbehaglich. Sie verlÃren den Boden
unter den FØñen, sagten sie.
Als ob es etwas Herrlicheres geben kÃnnte, als den Boden unter den
FØñen zu verlieren!
Die Welt ist dazu da, um von uns kaputt gedacht zu werden, hÃrte ich
einmal meinen Vater sagen, - dann, dann erst fÄngt das Leben an. - Ich weiñ
nicht, was er mit dem ›Leben‹ meinte, aber ich fØhle zuweilen, dañ ich eines
Tages so wie: ›erwachen‹ werde. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, in
welchen Zustand hinein. Und Wunder mØssen dem vorhergehen, denke ich mir
immer.
›Hast du denn schon welche erlebt, dañ du fortwÄhrend darauf wartest?‹
fragten mich oft meine Freundinnen, und wenn ich verneinte, wurden sie
plÃtzlich froh und siegesgewiñ. Sagen Sie, Herr Pernath, kÃnnen Sie solche
Herzen verstehen? Dañ ich doch Wunder erlebt habe, wenn auch nur kleine, -
winzig kleine -", - Mirjams Augen glÄnzten, - "wollte ich ihnen nicht
verraten, - - -"
Ich hÃrte, wie FreudentrÄnen ihre Stimme fast erstickten.
"- aber Sie werden mich verstehen: oft, Wochen, ja Monate", - Mirjam
wurde ganz leise - "haben wir nur von Wundern gelebt. Wenn gar kein Brot
mehr im Hause war, aber auch nicht ein Bissen mehr, dann wuñte ich: jetzt
ist die Stunde da! - Und dann sañ ich hier und wartete und wartete, bis ich
vor Herzklopfen kaum mehr atmen konnte. Und - und dann, wenn's mich
plÃtzlich zog, lief ich hinunter und kreuz und quer durch die Strañen, so
rasch ich konnte, um rechtzeitig wieder im Hause zu sein, ehe mein Vater
heimkam. Und - und jedesmal fand ich Geld. Einmal mehr, einmal weniger, aber
immer soviel, dañ ich das NÃtigste einkaufen konnte. Oft lag ein Gulden
mitten auf der Strañe; ich sah ihn von weitem blitzen und die Leute traten
darauf, rutschten aus darØber, aber keiner bemerkte ihn. - Das machte mich
zuweilen so ØbermØtig, dañ ich gar nicht erst ausging, sondern nebenan in
der KØche den Boden durchsuchte wie ein Kind, ob nicht Geld oder Brot vom
Himmel gefallen sei."
- Ein Gedanke schoñ mir durch den Kopf, und ich muñte aus Freude
darØber lÄcheln. -
Sie sah es.
"Lachen Sie nicht, Herr Pernath", flehte sie. "Glauben Sie mir, ich
weiñ, dañ diese Wunder wachsen werden und dañ sie eines Tages -"
Ich beruhigte sie: "Aber ich lache doch nicht, Mirjam! Was denken Sie
denn! Ich bin unendlich glØcklich, dañ Sie nicht sind wie die andern, die
hinter jeder Wirkung die gewohnte Ursache suchen und bocken, wenn's - wir
rufen in solchen Fallen: Gott sei Dank! - einmal anders kommt."
Sie streckte mir die Hand hin:
"Und nicht wahr, Sie werden nie mehr sagen, Herr Pernath, dañ Sie mir -
oder uns - helfen wollen? Jetzt, wo Sie wissen, dañ Sie mir die MÃglichkeit,
ein Wunder zu erleben, rauben wØrden, wenn Sie es tÄten?"
Ich versprach es. Aber im Herzen machte ich einen Vorbehalt.
Da ging die TØr und Hillel trat ein.
Mirjam umarmte ihn; und er begrØñte mich. Herzlich und voll
Freundschaft, aber wieder mit dem kØhlen "Sie".
Auch schien etwas wie leise MØdigkeit oder Unsicherheit auf ihm zu
lasten. - Oder irrte ich mich?
Vielleicht kam es nur von der DÄmmerung, die in der Stube lag.
"Sie sind gewiñ hier, mich um Rat zu fragen", fing er an, als Mirjam
uns allein gelassen hatte, "in der Sache, die die fremde Dame betrifft - -?"
Ich wollte ihn verwundert unterbrechen, aber er fiel mir in die Rede:
"Ich weiñ es von dem Studenten Charousek. Ich sprach ihn auf der Gasse
an, weil er mir merkwØrdig verÄndert vorkam. Er hat mir alles erzÄhlt. In
der øberfØlle seines Herzens. Auch, dañ - Sie ihm Geld geschenkt haben." Er
sah mich durchdringend an und betonte jedes seiner Worte auf hÃchst seltsame
Weise, aber ich verstand nicht, was er damit wollte:
"Gewiñ, es hat dadurch ein paar Tropfen GlØck mehr vom Himmel geregnet
- und - und in diesem - Fall hat's vielleicht auch nicht geschadet, aber -,"
er dachte eine Weile nach, - "aber manchmal schafft man sich und anderen nur
Leid damit. Gar so leicht ist das Helfen nicht, wie Sie denken, mein lieber
Freund! Da wÄre es sehr, sehr einfach, die Welt zu erlÃsen. - Oder glauben
Sie nicht?"
"Geben Sie denn nicht auch den Armen? Oft alles, was Sie besitzen,
Hillel?", fragte ich.
Er schØttelte lÄchelnd den Kopf: "Mir scheint, Sie sind Øber Nacht ein
Talmudist geworden, dañ Sie eine Frage wieder mit einer Frage beantworten.
Da ist freilich schwer streiten."
Er hielt inne, als ob ich darauf antworten sollte, aber wiederum
verstand ich nicht, worauf er eigentlich wartete.
"øbrigens, um zu dem Thema zurØckzukommen", fuhr er in verÄndertem Tone
fort, "ich glaube nicht, dañ Ihrem SchØtzling - ich meine die Dame -
augenblicklich Gefahr droht. Lassen Sie die Dinge an sich herantreten. Es
heiñt zwar: ›der kluge Mann baut vor‹, aber der KlØgere, scheint mir, wartet
ab und ist auf alles gefañt. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, dañ
Aaron Wassertrum mit mir zusammentrifft, aber das muñ dann von ihm ausgehen,
- ich tue keinen Schritt, er muñ herØberkommen. Ob zu Ihnen oder zu mir, ist
gleichgØltig - und dann will ich mit ihm reden. An ihm wird's sein, sich zu
entscheiden, ob er meinen Rat befolgen will oder nicht. Ich wasche meine
HÄnde in Unschuld."
Ich versuchte Ängstlich in seinem Gesicht zu lesen. So kalt und
eigentØmlich drohend hatte er noch nie gesprochen. Aber hinter diesem
schwarzen, tiefliegenden Auge schlief ein Abgrund.
"Es ist wie eine Glaswand zwischen ihm und uns", fielen mir Mirjams
Worte ein.
Ich konnte ihm nur wortlos die Hand drØcken und - gehen.
Er begleitete mich bis vor die TØre und, als ich die Treppe hinaufging
und mich noch einmal umdrehte, sah ich, dañ er stehen geblieben war und mir
freundlich nachwinkte, aber wie jemand, der noch gern etwas sagen mÃchte und
nicht kann.
Ich hatte die Absicht, mir Mantel und Stock zu holen und in die kleine
Wirtsstube "Zum alten Ungelt" essen zu gehen, wo allabendlich Zwakh,
Vrieslander und Prokop bis spÄt in die Nacht beisammen sañen und einander
verrØckte Geschichten erzÄhlten; aber kaum betrat ich mein Zimmer, da fiel
der Vorsatz von mir ab, - wie wenn mir HÄnde ein Tuch oder sonst etwas, was
ich am Leibe getragen, abgerissen hÄtten.
Es lag eine Spannung in der Luft, Øber die ich mir keine Rechenschaft
geben konnte, die aber trotzdem vorhanden war wie etwas Greifbares und sich
im Verlauf weniger Sekunden derart heftig auf mich Øbertrug, dañ ich vor
Unruhe anfangs kaum wuñte, was ich zuerst tun sollte: Licht anzØnden, hinter
mir abschlieñen, mich niedersetzen oder auf und ab gehen.
Hatte sich jemand in meiner Abwesenheit eingeschlichen und versteckt?
War's die Angst eines Menschen vor dem Gesehenwerden, die mich ansteckte?
War Wassertrum vielleicht hier?
Ich griff hinter die Gardinen, Ãffnete den Schrank, tat einen Blick ins
Nebenzimmer: - niemand.
Auch die Kassette stand unverrØckt an ihrem Platz.
Ob es nicht am besten war, ich verbrannte die Briefe kurz entschlossen,
um ein fØr allemal die Sorge um sie los zu sein?
Schon suchte ich nach dem SchlØssel in meiner Westentasche - aber muñte
es denn jetzt geschehen? Es blieb mir doch Zeit genug bis morgen frØh.
Erst Licht machen!
Ich konnte die StreichhÃlzer nicht finden.
War die TØr abgesperrt? - Ich ging ein paar Schritte zurØck. Blieb
wieder stehen.
Warum mit einemmal die Angst?
Ich wollte mir VorwØrfe machen, dañ ich feig sei: - die Gedanken
blieben stecken. Mitten im Satz.
Eine wahnwitzige Idee Øberfiel mich plÃtzlich: rasch, rasch auf den
Tisch steigen, einen Sessel packen und zu mir hinaufziehen und "dem" den
SchÄdel damit von oben herab einschlagen, das da auf dem Boden herumkroch, -
- wenn - wenn es in die NÄhe kam.
"Es ist doch niemand hier," sagte ich mir laut und Ärgerlich vor, "hast
du dich denn je im Leben gefØrchtet?"
Es half nichts. Die Luft, die ich einatmete, wurde dØnn und schneidend
wie äther.
Wenn ich irgendetwas gesehen hÄtte: das GrÄñlichste, was man sich
vorstellen kann, - im Nu wÄre die Furcht von mir gewichen.
Es kam nichts.
Ich bohrte meine Augen in alle Winkel:
Nichts.
øberall lauter wohlbekannte Dinge: MÃbel, Truhen, die Lampe, das Bild,
die Wanduhr - leblose, alte, treue Freunde.
Ich hoffte, sie wØrden sich vor meinen Blicken verÄndern und mir Grund
geben, eine SinnestÄuschung als Ursache fØr das wØrgende AngstgefØhl in mir
zu finden.
Auch das nicht. - Sie blieben ihrer Form starr getreu. Viel zu starr
fØr das herrschende Halbdunkel, als dañ es natØrlich gewesen wÄre.
"Sie stehen unter demselben Zwang wie du selbst", fØhlte ich. "Sie
trauen sich nicht, auch nur die leiseste Bewegung zu machen."
Warum tickt die Wanduhr nicht? -
Das Lauern ringsum trank jeden Laut.
Ich rØttelte am Tisch und wunderte mich, dañ ich das GerÄusch hÃren
konnte.
Wenn doch wenigstens der Wind ums Haus pfiffe! - Nicht einmal das! Oder
das Holz im Ofen aufknallen wollte: - das Feuer war erloschen.
Und immerwÄhrend dasselbe entsetzliche Lauern in der Luft - pausenlos,
lØckenlos, wie das Rinnen von Wasser.
Dieses vergebliche Auf-dem-Sprung-stehen aller meiner Sinne! Ich
verzweifelte daran, es je Øberdauern zu kÃnnen. - Der Raum voll Augen, die
ich nicht sehen, - voll von planlos wandernden HÄnden, die ich nicht greifen
konnte.
"Es ist das Entsetzen, das sich aus sich selbst gebiert, die lÄhmende
Schrecknis des unfañbaren Nicht-Etwas, das keine Form hat und unserm Denken
die Grenzen zerfriñt", begriff ich dumpf.
Ich stellte mich steif hin und wartete.
Wartete wohl eine Viertelstunde: vielleicht lieñ "es" sich verleiten
und schlich von rØckwÄrts an mich heran - und ich konnte es ertappen?!
Mit einem Ruck fuhr ich herum: wieder nichts.
Dasselbe markverzehrende "Nichts", das nicht war und doch das Zimmer
mit seinem grausigen Leben erfØllte.
Wenn ich hinausliefe? Was hinderte mich?
"Es wØrde mit mir gehen", wuñte ich sofort mit unabweisbarer
Sicherheit. Auch, dañ es mir nichts nØtzen kÃnnte, wenn ich Licht machte,
sah ich ein, - dennoch suchte ich so lange nach dem Feuerzeug, bis ich es
gefunden hatte.
Aber der Kerzendocht wollte nicht brennen und kam lang aus dem Glimmen
nicht heraus: die kleine Flamme konnte nicht leben und nicht sterben, und
als sie sich endlich doch ein schwindsØchtiges Dasein erkÄmpft hatte, blieb
sie glanzlos wie gelbes, schmutziges Blech. Nein, da war die Dunkelheit noch
besser.
Ich lÃschte wieder aus und warf mich angezogen Øbers Bett. ZÄhlte die
SchlÄge meines Herzens: eins, zwei, drei - vier ... bis tausend, und immer
von neuem - Stunden, Tage, Wochen, wie mir schien, bis meine Lippen trocken
wurden und das Haar sich mir strÄubte: keine Sekunde der Erleichterung.
Auch nicht eine einzige.
Ich fing an, mir Worte vorzusagen, wie sie mir gerade auf die Zunge
kamen: "Prinz", "Baum", "Kind", "Buch" - und sie krampfhaft zu wiederholen,
bis sie plÃtzlich als sinnlose, schreckhafte Laute aus barbarischer Vorzeit
nackt mir gegenØberstanden, und ich mit aller Kraft nachdenken muñte, in
ihre Bedeutung zurØckzufinden: P-r-i-n-z? - B-u-ch?
War ich nicht schon wahnsinnig? Oder gestorben? - Ich tastete an mir
herum.
Aufstehen!
Mich in den Sessel setzen!
Ich lieñ mich in den Lehnstuhl fallen.
Wenn doch endlich der Tod kÄme!
Nur dieses blutlose, furchtbare Lauern nicht mehr fØhlen! "Ich - will -
nicht - ich will - nicht!", schrie ich. "HÃrt ihr denn nicht?!"
Kraftlos fiel ich zurØck.
Konnte es nicht fassen, dañ ich immer noch lebte.
UnfÄhig, irgend etwas zu denken oder zu tun, stierte ich geradeaus vor
mich hin.
"Weshalb er mir nur die KÃrner so beharrlich hinreicht?", ebbte ein
Gedanke auf mich zu, zog sich zurØck und kam wieder. Zog sich zurØck. Kam
wieder.
Langsam wurde mir endlich klar, dañ ein seltsames Wesen vor mir stand -
vielleicht schon, seit ich hier sañ, dagestanden hatte - und mir die Hand
hinstreckte:
Ein graues, breitschultriges GeschÃpf, in der GrÃñe eines gedrungen
gewachsenen Menschen, auf einen spiralfÃrmig gedrehten Knotenstock aus
weiñem Holz gestØtzt.
Wo der Kopf hÄtte sitzen mØssen, konnte ich nur einen Nebelballen aus
fahlem Dunst unterscheiden.
Ein trØber Geruch nach Sandelholz und nassem Schiefer ging von der
Erscheinung aus.
Ein GefØhl vollkommenster Wehrlosigkeit raubte mir fast die Besinnung.
Was ich die ganze lange Zeit an nervenzernagender Qual mitgemacht, drÄngte
sich jetzt zu Todesschrecken zusammen und war in diesem Wesen zur Form
geronnen.
Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, ich wØrde wahnsinnig werden vor
Entsetzen und Furcht, wenn ich das Gesicht des Phantoms sehen kÃnnte, -
warnte mich davor, schrie es mir in die Ohren - und doch zog es mich wie ein
Magnet, dañ ich den Blick von dem fahlen Nebelballen nicht wenden konnte und
darin forschte nach Augen, Nase und Mund.
Aber so sehr ich mich auch abmØhte: der Dunst blieb unbeweglich. Wohl
glØckte es mir, KÃpfe aller Art auf den Rumpf zu setzen, doch jedesmal wuñte
ich, dañ sie nur meiner Einbildungskraft entstammten.
Sie zerrannen auch stets - fast in derselben Sekunde, in der ich sie
geschaffen hatte.
Nur die Form eines Ägyptischen Ibiskopfs blieb noch am lÄngsten
bestehen.
Die Umrisse des Phantoms schleierten schemenhaft in der Dunkelheit,
zogen sich kaum merklich zusammen und dehnten sich wieder aus, wie unter
langsamen AtemzØgen, die die ganze Gestalt durchliefen, die einzige
Bewegung, die zu bemerken war. Statt der FØñe berØhrten Knochenstumpen den
Boden, von denen das Fleisch - grau und blutleer - auf Spannenbreite zu
wulstigen RÄndern emporgezogen war.
Regungslos hielt das GeschÃpf mir seine Hand hin.
Kleine KÃrner lagen dann. Bohnengroñ, von roter Farbe und mit schwarzen
Punkten am Rande.
Was sollte ich damit?!
Ich fØhlte dumpf: eine ungeheure Verantwortung lag auf mir - eine
Verantwortung, die weit hinausging Øber alles Irdische, - wenn ich jetzt
nicht das Richtige tat.
Zwei Waagschalen, jede belastet mit dem Gewicht des halben
WeltgebÄudes, schweben irgendwo im Reich der Ursachen, ahnte ich - auf
welche von beiden ich ein StÄubchen warf: die sank zu Boden.
Das war das furchtbare Lauern ringsum!, verstand ich. "Keinen Finger
rØhren!", riet mir mein Verstand, - "und wenn der Tod in alle Ewigkeit nicht
kommen sollte und mich erlÃsen aus dieser Qual." -
Auch dann hÄttest du deine Wahl getroffen: du hÄttest die KÃrner
abgelehnt, raunte es in mir. Hier gibt's kein ZurØck.
Hilfesuchend blickte ich um mich, ob mir denn kein Zeichen wurde, was
ich tun sollte. Nichts.
Auch in mir kein Rat, kein Einfall - alles tot, gestorben.
Das Leben von Myriaden Menschen wiegt leicht wie eine Feder in diesem
furchtbaren Augenblick, erkannte ich. - -
Es muñte bereits tiefe Nacht sein, denn ich konnte die WÄnde meines
Zimmers nicht mehr unterscheiden.
Nebenan im Atelier stampften Schritte; ich hÃrte, dañ jemand SchrÄnke
rØckte, Schubladen aufriñ und polternd zu Boden warf, glaubte Wassertrums
Stimme zu erkennen, wie er in seinem rÃchelnden Bañ wilde Fluche ausstieñ;
ich horchte nicht hin. Es war mir belanglos wie das Rascheln einer Maus. -
Ich schloñ die Augen:
Menschliche Antlitze zogen in langen Reihen an mir vorØber. Die Lider
zugedrØckt - starre Totenmasken: - mein eigenes Geschlecht, meine eigenen
Vorfahren.
Immer dieselbe SchÄdelbildung, wie auch der Typus zu wechseln schien,
so stand es auf aus seinen GrØften, - mit glattem gescheiteltem Haar,
gelocktem und kurz geschnittenem, mit AllongeperØcken und in Ringe
gezwÄngten SchÃpfen - durch Jahrhunderte heran, bis die ZØge mir bekannter
und bekannter wurden und in ein letztes Gesicht zusammenflossen: - das
Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner Ahnen abbrach.
Dann lÃste die Finsternis mein Zimmer in einen unendlichen leeren Raum
auf, in dessen Mitte ich mich auf meinem Lehnstuhl sitzen wuñte, vor mir der
graue Schatten wieder mit dem ausgestreckten Arm.
Und als ich die Augen aufschlug, standen in zwei sich schneidenden
Kreisen, die einen Achter bildeten, fremdartige Wesen um uns herum:
Die des einen Kreises gehØllt in GewÄnder mit violettem Schimmer, die
des anderen mit rÃtlich schwarzem. Menschen einer fremden Rasse, von hohem,
unnatØrlich schmÄchtigem Wuchs, die Gesichter hinter leuchtenden TØchern
verborgen.
Das Herzbeben in meiner Brust sagte mir, dañ der Zeitpunkt der
Entscheidung gekommen war. Meine Finger zuckten nach den KÃrnern: - und da
sah ich, wie ein Zittern durch die Gestalten des rÃtlichen Kreises ging. -
Sollte ich die KÃrner zurØckweisen?: Das Zittern ergriff den blÄulichen
Kreis; - ich blickte den Mann ohne Kopf scharf an; er stand da - in
derselben Stellung: regungslos wie frØher.
Sogar sein Atem hatte aufgehÃrt.
Ich hob den Arm, wuñte noch immer nicht, was ich tun sollte, und -
schlug auf die ausgestreckte Hand des Phantoms, dañ die KÃrner Øber den
Boden hinrollten.
Einen Moment, so jÄh wie ein elektrischer Schlag, entglitt mir das
Bewuñtsein, und ich glaubte in endlose Tiefen zu stØrzen, - dann stand ich
fest auf den FØñen.
Das graue GeschÃpf war verschwunden. Ebenso die Wesen des rÃtlichen
Kreises.
Die blÄulichen Gestalten hingegen hatten einen Ring um mich gebildet;
sie trugen eine Inschrift aus goldnen Hieroglyphen auf der Brust und hielten
stumm - es sah aus wie ein Schwur - zwischen Zeigefinger und Daumen die
roten KÃrner in die Hohe, die ich dem Phantom ohne Kopf aus der Hand
geschlagen hatte.
Ich hÃrte, wie drauñen Hagelschauer gegen die Fenster tobten und
brØllender Donner die Luft zerriñ:
Ein Wintergewitter in seiner ganzen besinnungslosen Wut raste Øber die
Stadt hinweg. Vom Fluñ her drÃhnten durch das Heulen des Sturms in
rhythmischen Intervallen die dumpfen KanonenschØsse, die das Brechen der
Eisdecke auf der Moldau verkØndeten. Die Stube loderte im Licht der
ununterbrochen aufeinanderfolgenden Blitze. Ich fØhlte mich plÃtzlich so
schwach, dañ mir die Knie zitterten und ich mich setzen muñte.
"Sei ruhig," sagte deutlich eine Stimme neben mir, "sei ganz ruhig, es
ist heute die Lelschimurim: die Nacht der BeschØtzung." -
AllmÄhlich lieñ das Unwetter nach, und der betÄubende LÄrm ging Øber in
das eintÃnige Trommeln der Schloñen auf die Dacher.
Die Mattigkeit in meinen Gliedern nahm derart zu, dañ ich nur mehr mit
stumpfen Sinnen und halb im Traum wahrnahm, was um mich her vorging:
Jemand aus dem Kreis sagte die Worte:
"Den ihr suchet, der ist nicht hier."
Die andern erwiderten etwas in einer fremden Sprache.
Hierauf sagte der erste wieder leise einen Satz, dann kam der Name
"Henoch"
vor, aber ich verstand das Øbrige nicht: der Wind trug das StÃhnen der
berstenden Eisschollen zu laut vom Flusse herØber.
Dann lÃste sich einer aus dem Kreis, trat vor mich hin, deutete auf die
Hieroglyphen auf seiner Brust - sie waren dieselben Buchstaben wie die der
Øbrigen - und fragte mich, ob ich sie lesen kÃnne.
Und als ich - lallend vor MØdigkeit, - verneinte, streckte er die
HandflÄche gegen mich aus, und die Schrift erschien leuchtend auf meiner
Brust in Lettern, die zuerst lateinisch waren:
CHABRAT ZEREH AUR BOCHER
und sich langsam in die mir unbekannten verwandelten. - - - Und ich
fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, wie ich ihn seit jener Nacht, in
der Hillel mir die Zunge gelÃst, nicht mehr gekannt hatte.
Wie im Fluge waren mir die Stunden der letzten Tage vergangen. Kaum,
dañ ich mir Zeit zu den Mahlzeiten lieñ.
Ein unwiderstehlicher Drang nach Äuñerer TÄtigkeit hatte mich von frØh
bis abends an meinen Arbeitstisch gefesselt.
Die Gemme war fertig geworden, und Mirjam hatte sich wie ein Kind
darØber gefreut.
Auch der Buchstabe "I" in dem Buche Ibbur war ausgebessert.
Ich lehnte mich zurØck und lieñ ruhevoll all die kleinen Geschehnisse
der heutigen Stunden an mir vorØberziehen:
Wie das alte Weib, das mich bediente, am Morgen nach dem Ungewitter zu
mir ins Zimmer gestØrzt kam mit der Meldung, die steinerne BrØcke sei in der
Nacht eingestØrzt. -
Seltsam: - EingestØrzt! Vielleicht gerade in der Stunde, wo ich die
KÃrner - - - nein, nein, nicht daran denken; es kÃnnte einen Anstrich von
NØchternheit bekommen, was damals geschehen war, und ich hatte mir
vorgenommen, es in meiner Brust begraben sein zu lassen, bis es von selbst
wieder erwachte, - nur nicht daran rØhren.
Wie lange war's her, da ging ich noch Øber die BrØcke, sah die
steinernen Statuen - und jetzt lag sie, die BrØcke, die Jahrhunderte
gestanden, in TrØmmern.
Es stimmte mich beinahe wehmØtig, dañ ich nie mehr meinen Fuñ auf sie
setzen sollte. Wenn man sie auch wieder aufbaute, war es doch nicht mehr die
alte, geheimnisvolle, steinerne BrØcke.
Stundenlang hatte ich, wÄhrend ich an der Gemme schnitt, darØber
nachdenken mØssen, und so selbstverstÄndlich, als hÄtte ich es nie vergessen
gehabt, war es lebendig in mir geworden: wie oft ich als Kind und auch in
spÄtern Jahren zu dem Bildnis der heiligen Luitgard und all den andern, die
jetzt begraben lagen in den tosenden Wassern, aufgeblickt.
Die vielen, kleinen lieben Dinge, die ich in meiner Jugend mein eigen
genannt, hatte ich wieder gesehen im Geiste - und meinen Vater und meine
Mutter und die Menge Schulkameraden. Nur an das Haus, wo ich gewohnt, konnte
ich mich nicht mehr erinnern.
Ich wuñte, es wØrde plÃtzlich, eines Tages, wenn ich es am wenigsten
erwartete, wieder vor mir stehen; und ich freute mich darauf.
Die Empfindung, dañ sich mit einemmal alles natØrlich und einfach in
mir abwickelte, war so behaglich.
Als ich vorgestern das Buch Ibbur aus der Kassette geholt hatte, - es
war so gar nichts Erstaunliches daran gewesen, dañ es aussah, nun, wie eben
ein altes, mit wertvollen Initialen geschmØcktes Pergamentbuch aussieht -
schien es mir ganz selbstverstÄndlich.
Ich konnte nicht begreifen, dañ es jemals gespenstisch auf mich gewirkt
hatte!
Es war in hebrÄischer Sprache geschrieben, vollkommen unverstÄndlich
fØr mich.
Wann wohl der Unbekannte es wieder holen kommen wurde?
Die Freude am Leben, die wÄhrend der Arbeit heimlich in mich eingezogen
war, erwachte von neuem in ihrer ganzen erquickenden Frische und
verscheuchte die Nachtgedanken, die mich hinterrØcks wieder Øberfallen
wollten.
Rasch nahm ich Angelinas Bild - ich hatte die Widmung, die darunter
stand, abgeschnitten - und kØñte es.
Es war das alles so tÃricht und widersinnig, aber warum nicht einmal
von - GlØck trÄumen, die glitzernde Gegenwart festhalten und sich daran
freuen, wie Øber eine Seifenblase?
Konnte denn nicht vielleicht doch in ErfØllung gehen, was mir da die
Sehnsucht meines Herzens vorgaukelte? War es so ganz und gar unmÃglich, dañ
ich Øber Nacht ein berØhmter Mann wurde? Ihr ebenbØrtig, wenn auch nicht an
Herkunft? Zumindest Dr. Savioli ebenbØrtig? Ich dachte an die Gemme Mirjams:
wenn mir noch andere so gelangen wie diese - kein Zweifei, selbst die ersten
KØnstler aller Zeiten hatten nie etwas Besseres geschaffen.
Und nur einen Zufall angenommen: der Gatte Angelinas stØrbe plÃtzlich?
Mir wurde heiñ und kalt: ein winziger Zufall - und meine Hoffnung, die
verwegenste Hoffnung, gewann Gestalt. An einem dØnnen Faden, der stØndlich
reiñen konnte, hing das GlØck, das mir dann in den Schoñ fallen mØñte.
War mir denn nicht schon tausendfach Wunderbareres geschehen? Dinge,
von denen die Menschheit gar nicht ahnte, dañ sie Øberhaupt existierten?
War es kein Wunder, dañ binnen weniger Wochen kØnstlerische FÄhigkeiten
in mir erwacht waren, die mich jetzt schon weit Øber den Durchschnitt
erhoben?
Und ich stand doch erst am Anfang des Weges!
Hatte ich denn kein Anrecht auf GlØck?
Ist denn Mystik gleichbedeutend mit Wunschlosigkeit?
Ich ØbertÃnte das: "Ja" in mir: - nur noch eine Stunde trÄumen - eine
Minute - ein kurzes Menschendasein!
Und ich trÄumte mit offenen Augen:
Die Edelsteine auf dem Tisch wuchsen und wuchsen und umgaben mich von
allen Seiten mit farbigen WasserfÄllen. BÄume aus Opal standen in Gruppen
beisammen und strahlten die Lichtwellen des Himmels, der blau schillerte wie
der FlØgel eines gigantischen Tropenschmetterlings, in FunkensprØhregen Øber
unabsehbare Wiesen voll heiñem Sommerduft.
Mich dØrstete, und ich kØhlte meine Glieder in dem eisigen Gischt der
BÄche, die Øber FelsblÃcke rauschten aus schimmerndem Perlmutter.
SchwØler Hauch strich Øber HÄnge, ØbersÄt mit BlØten und Blumen, und
machte mich trunken mit den GerØchen von Jasmin, Hyazinthen, Narzissen,
Seidelbast - - -
UnertrÄglich! UnertrÄglich! Ich verlÃschte das Bild. - Mich dØrstete.
Das waren die Qualen des Paradieses.
Ich riñ die Fenster auf und lieñ den Tauwind an meine Stirne wehen.
Es roch nach kommendem FrØhling - - -
Mirjam!
Ich muñte an Mirjam denken.
Wie sie sich vor Erregung an der Wand hatte halten mØssen, um nicht
umzufallen, als sie mir erzÄhlen gekommen, ein Wunder sei geschehen, ein
wirkliches Wunder: sie habe ein GoldstØck gefunden in dem Brotlaib, den der
BÄcker vom Gang aus durchs Gitter ins KØchenfenster gelegt. - - -
Ich griff nach meiner BÃrse. - Hoffentlich war es heute nicht schon zu
spÄt, und ich kam noch zurecht, ihr wieder einen Dukaten zuzuzaubern!
TÄglich hatte sie mich besucht, um mir Gesellschaft zu leisten, wie sie
es nannte, dabei aber fast nicht gesprochen, so erfØllt war sie von dem
"Wunder" gewesen. Bis in die tiefsten Tiefen hatte das Erlebnis sie
aufgewØhlt und, wenn ich mir vorstellte, wie sie manchmal plÃtzlich ohne
Äuñern Grund - nur unter dem Einfluñ ihrer Erinnerung - totenblañ geworden
war bis in die Lippen, schwindelte mir bei dem bloñen Gedanken, ich kÃnnte
in meiner Blindheit Dinge angerichtet haben, deren Tragweite bis ins
Grenzenlose ging.
Und wenn ich mir die letzten, dunklen Worte Hillels ins GedÄchtnis rief
und in Zusammenhang damit brachte, Øberlief es mich eiskalt.
Die Reinheit des Motivs war keine Entschuldigung fØr mich, - der Zweck
heiligt die Mittel nicht, das sah ich ein.
Und was, wenn Øberdies das Motiv: "helfen zu wollen" nur scheinbar
"rein" war? Hielt sich nicht vielleicht doch eine heimliche LØge dahinter
verborgen?: der selbstgefÄllige, unbewuñte Wunsch, in der Rolle des Helfers
zu schwelgen?
Ich fing an, irre an mir selbst zu werden.
Dañ ich Mirjam viel zu oberflÄchlich beurteilt hatte, war klar.
Schon als die Tochter Hillels muñte sie anders sein als andere MÄdchen.
Wie hatte ich nur so vermessen sein kÃnnen, auf solch tÃrichte Weise in
ein Innenleben einzugreifen, das vielleicht himmelhoch Øber meinem eigenen
stand!
Schon ihr Gesichtsschnitt, der hundertmal eher in die Zeit der sechsten
Ägyptischen Dynastie pañte und selbst fØr diese noch viel zu vergeistigt
war, als in die unsrige mit ihren Verstandesmenschentypen, hÄtte mich warnen
mØssen.
"Nur der ganz Dumme miñtraut dem Äuñern Schein", hatte ich irgendwo
einmal gelesen. - Wie richtig! Wie richtig!
Mirjam und ich waren jetzt gute Freunde; sollte ich ihr eingestehen,
dañ ich es gewesen war, der die Dukaten Tag fØr Tag ins Brot geschmuggelt
hatte?
Der Schlag kÄme zu plÃtzlich. WØrde sie betÄuben.
Ich durfte das nicht wagen, muñte behutsamer vorgehen.
Das "Wunder" irgendwie abschwÄchen? Statt das Geld ins Brot zu stecken,
es auf die Treppenstufe zu legen, dañ sie es finden muñte, wenn sie die TØr
aufmachte, und so weiter, und so weiter? Etwas Neues, weniger Schroffes
wØrde sich schon ausdenken lassen, irgendein Weg, der sie aus dem
Wunderbaren allmÄhlich wieder ins AlltÄgliche herØberlenkte, trÃstete ich
mich.
Ja! Das war das Richtige.
Oder den Knoten zerhauen? Ihren Vater einweihen und zu Rate ziehen? Die
SchamrÃte stieg mir ins Gesicht. Zu diesem Schritt blieb Zeit genug, wenn
alle andern Mittel versagten.
Nur gleich ans Werk gehen, keine Zeit versÄumen!
Ein guter Einfall kam mir: Ich muñte Mirjam zu etwas ganz
Absonderlichem bewegen, sie fØr ein paar Stunden aus der gewohnten Umgebung
reiñen, dañ sie andere EindrØcke bekam.
Wir wØrden einen Wagen nehmen und eine Spazierfahrt machen. Wer kannte
uns denn, wenn wir das Judenviertel mieden?
Vielleicht interessierte es sie, die eingestØrzte BrØcke zu
besichtigen?
Oder der alte Zwakh oder eine ihrer frØheren Freundinnen sollte mit ihr
fahren, wenn sie es ungeheuerlich finden wØrde, dañ ich mit dabei sei.
Ich war fest entschlossen, keinen Widerspruch gelten zu lassen. - - -
An der TØrschwelle rannte ich einen Mann beinahe Øber den Haufen.
Wassertrum!
Er muñte durchs SchlØsselloch hereingespÄht haben, denn er stand
gebØckt, als ich mit ihm zusammengestoñen war.
"Suchen Sie mich?", fragte ich barsch.
Er stammelte ein paar Worte der Entschuldigung in seinem unmÃglichen
Jargon; dann bejahte er.
Ich forderte ihn auf, nÄher zu treten und sich zu setzen, aber er blieb
am Tisch stehen und drehte krampfhaft mit der Hutkrempe. Eine tiefe
Feindseligkeit, die er vergebens vor mir verbergen wollte, spiegelte aus
seinem Gesicht und jeder seiner Bewegungen.
Noch nie hatte ich den Mann in so unmittelbarer NÄhe gesehen. Seine
grauenhafte HÄñlichkeit war es nicht, die einen so abstieñ; (sie machte mich
eher mitleidig gestimmt: er sah aus wie ein GeschÃpf, dem die Natur selbst
bei seiner Geburt voll Wut und Abscheu mit dem Fuñ ins Gesicht getreten
hatte) - etwas anderes, UnwÄgbares, das von ihm ausging, trug die Schuld
daran.
Das "Blut", wie Charousek es treffend bezeichnet hatte.
UnwillkØrlich wischte ich mir die Hand ab, die ich ihm bei seinem
Eintritt gereicht hatte.
So wenig auffÄllig ich es machte, er schien es doch bemerkt zu haben,
denn er muñte sich plÃtzlich mit Gewalt zwingen, das Aufflammen des Hasses
in seinen ZØgen zu unterdrØcken.
"HØbsch ham Se's hier", fing er endlich stockend an, als er sah, dañ
ich ihm nicht den Gefallen tat, das GesprÄch zu beginnen.
Im Widerspruch zu seinen Worten schloñ er dabei die Augen, vielleicht,
um meinem Blick nicht zu begegnen. Oder glaubte er, dañ es seinem Gesicht
einen harmloseren Ausdruck verleihen wØrde?
Man konnte ihm deutlich anhÃren, welche MØhe er sich gab, hochdeutsch
zu reden.
Ich fØhlte mich nicht zu einer Entgegnung verpflichtet und wartete, was
er weiter sagen wØrde.
In seiner Verlegenheit griff er nach der Feile, die - weiñ Gott wieso -
noch seit Charouseks Besuch auf dem Tisch lag, fuhr aber unwillkØrlich
sofort wie von einer Schlange gebissen zurØck. Ich staunte innerlich Øber
seine unterbewuñte seelische FeinfØhligkeit.
"Freilich, natØrlich, es gehÃrt zum GeschÄft, dañ man's fein hat,"
raffte er sich auf, zu sagen, "wenn man - so noble Besuche bekommt." Er
wollte die Augen aufschlagen, um zu sehen, welchen Eindruck die Worte auf
mich machten, hielt es aber offenbar noch fØr verfrØht und schloñ sie
schnell wieder.
Ich wollte ihn in die Enge treiben: "Sie meinen die Dame, die neulich
hier vorfuhr? Sagen Sie doch offen, wo Sie hinauswollen!"
Er zÃgerte einen Moment, dann packte er mich heftig am Handgelenk und
zerrte mich ans Fenster.
Die sonderbare, unmotivierte Art, mit der er es tat, erinnerte mich
daran, wie er vor einigen Tagen den taubstummen Jaromir unten in seine HÃhle
gerissen hatte.
Mit krummen Fingern hielt er mir einen blitzenden Gegenstand hin:
"Was glauben Sie, Herr Pernath, lañt sich da noch was machen?"
Es war eine goldene Uhr mit so stark verbeulten Deckeln, dañ es fast
aussah, als hÄtte sie jemand mit Absicht verbogen.
Ich nahm ein VergrÃñerungsglas: die Scharniere waren zur HÄlfte
abgerissen und innen - stand da nicht etwas eingraviert? Kaum mehr leserlich
und noch Øberdies mit einer Menge ganz frischer Schrammen zerkratzt. Langsam
entzifferte ich:
K-rl Zott-mann.
Zottmann? Zottmann? - Wo hatte ich diesen Namen doch gelesen? Zottmann?
Ich konnte mich nicht entsinnen. Zottmann?
Wassertrum schlug mir die Lupe beinahe aus der Hand:
"Im Werk is nix, da hab' ich schon selber geschaut. Aber mit'm GehÄuse,
da stinkt's."
"Braucht man nur gerade zu klopfen - hÃchstens ein paar LÃtstellen. Das
kann Ihnen ebensogut jeder beliebige Goldarbeiter machen, Herr Wassertrum."
"Ich leg' doch Wert darauf, dañ es eine solide Arbeit wird. Was man so
sagt: kØnstlerisch", unterbrach er mich hastig. Fast Ängstlich.
"Nun gut, wenn Ihnen derart viel daran liegt -"
"Viel daran liegt!" Seine Stimme schnappte Øber vor Eifer. "Ich will
sie doch selber tragen, die Uhr. Und wenn ich sie jemandem zeig', will ich
sagen kÃnnen: schauen Sie mal her, so arbeitet der Herr von Pernath."
Ich ekelte mich vor dem Kerl; er spuckte mir seine widerwÄrtigen
Schmeicheleien fÃrmlich ins Gesicht.
"Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen, wird alles fertig sein."
Wassertrum wand sich in KrÄmpfen: "Das gibt's nicht. Das will ich
nicht. Drei Tag. Vier Tag. Die nÄchste Woche is Zeit genug. Das ganze Leben
mÃcht' ich mir VorwØrfe machen, dañ ich Ihnen gedrÄngt hab'."
Was wollte er nur, dañ er so auñer sich geriet? - Ich machte einen
Schritt ins Nebenzimmer und sperrte die Uhr in die Kassette. Angelinas
Photographie lag obenauf. Schnell schlug ich den Deckel wieder zu - fØr den
Fall, dañ Wassertrum mir nachblicken sollte.
Als ich zurØckkam, fiel mir auf, dañ er sich verfÄrbt hatte.
Ich musterte ihn scharf, lieñ aber meinen Verdacht sofort fallen:
UnmÃglich! Er konnte nichts gesehen haben.
"Also, dann vielleicht nÄchste Woche", sagte ich, um seinem Besuch ein
Ende zu machen.
Er schien mit einemmal keine Eile mehr zu haben, nahm einen Sessel und
setzte sich.
Im Gegensatz zu frØher hielt er seine Fischaugen jetzt beim Reden weit
offen und fixierte beharrlich meinen obersten Westenknopf.
Pause.
"Die Duksel hat Ihnen natØrlich gesagt, Sie sollen sich nix wissen
machen, wenn's heraus kommt. Waas?" sprudelte er plÃtzlich ohne jede
Einleitung auf mich los und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Es lag etwas merkwØrdig Schreckhaftes in der Abgerissenheit, mit der er
von einer Sprechweise in die andere Øbergehen - von SchmeicheltÃnen
blitzartig ins Brutale springen konnte, und ich hielt es fØr sehr
wahrscheinlich, dañ die meisten Menschen, besonders Frauen, sich im
Handumdrehen in seiner Gewalt befinden muñten, wenn er nur die geringste
Waffe gegen sie besañ.
Ich wollte auffahren, ihn am Hals packen und vor die TØr setzen, war
mein erster Gedanke; dann Øberlegte ich, ob es nicht klØger sei, ihn
zuvÃrderst einmal grØndlich auszuhorchen.
"Ich verstehe wahrhaftig nicht, was Sie meinen, Herr Wassertrum;" - ich
bemØhte mich, ein mÃglichst dummes Gesicht zu machen - "Duksel? Was ist das:
Duksel?"
"Soll ich Ihnen vielleicht Deitsch lernen?", fuhr er mich grob an. "Die
Hand werden Sie aufheben mØssen bei Gericht, wenn's um die Wurscht geht.
Verstehen Sie mich?! Das sag ich Ihnen!" - Er fing an zu schreien: "Mir ins
Gesicht hinein werden Sie nicht abschwÃren, dañ ›sie‹ von da drØben" - er
deutete mit dem Daumen nach dem Atelier - "zu Ihnen heribber geloffen is mit
en Teppich an und - sonst nix!"
Die Wut stieg mir in die Augen; ich packte den Halunken an der Brust
und schØttelte ihn:
"Wenn Sie jetzt noch ein Wort in diesem Ton sagen, breche ich Ihnen die
Knochen im Leibe entzwei! Verstanden?"
Aschfahl sank er in den Stuhl zurØck und stotterte:
"Was is? Was is? Was wollen Sie? Ich mein' doch bloñ."
Ich ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, um mich zu beruhigen.
Horchte nicht hin, was er alles zu seiner Entschuldigung herausgeiferte.
Dann setzte ich mich ihm dicht gegenØber, in der festen Absicht, die
Sache, soweit sie Angelina betraf, ein fØr allemal mit ihm ins reine zu
bringen und, sollte es im Frieden nicht gehen, ihn zu zwingen, endlich die
Feindseligkeiten zu erÃffnen und seine paar schwachen Pfeile vorzeitig zu
verschieñen.
Ohne seine Unterbrechungen im geringsten zu beachten, sagte ich ihm auf
den Kopf zu, dañ Erpressungen irgendwelcher Art - ich betonte das Wort -
miñglØcken mØñten, da er auch nicht eine einzige Anschuldigung mit Beweisen
erhÄrten kÃnnte und ich mich einer Zeugenschaft (angenommen, es wÄre
Øberhaupt im Bereiche der MÃglichkeit, dañ es je zu einer solchen kÄme) -
bestimmt zu entziehen wissen wØrde. Angelina stØnde mir viel zu nahe, als
dañ ich sie nicht in der Stunde der Not retten wØrde, koste es, was es
wolle, sogar einen Meineid!
Jede Muskel in seinem Gesicht zuckte, seine Hasenscharte zog sich bis
zur Nase auseinander, er fletschte die ZÄhne und kollerte wie ein Truthahn
mir immer wieder in die Rede hinein: "Will ich denn was von die Duksel? So
hÃren Sie doch zu!" - Er war auñer sich vor Ungeduld, dañ ich mich nicht
beirren lieñ. - "Um den Savioli is mir's zu tun, um den gottverfluchten
Hund, - den - den -", fuhr es ihm plÃtzlich brØllend heraus.
Er japste nach Luft. Rasch hielt ich inne: endlich war er dort, wo ich
ihn haben wollte, aber schon hatte er sich gefañt und fixierte wieder meine
Weste.
"HÃren Sie zu, Pernath;" er zwang sich, die kØhle, abwÄgende
Sprechweise eines Kaufmanns nachzuahmen, "Sie reden fort von der Duk - - von
der Dame. Gut! sie ist verheiratet. Gut: sie hat sich eingelassen mit dem -
mit dem jungen Lauser. Was hab' ich damit zu tun?" Er bewegte die HÄnde vor
meinem Gesicht hin und her, die Fingerspitzen zusammengedrØckt, als hielte
er eine Prise Salz darin - "soll sie sich das selber abmachen, die Duksel. -
Ich bin e Weltmann und Sie sin auch e Weltmann. Wir kennen doch das beide.
Waas? Ich will doch nur zu meinem Geld kommen. Verstehen Sie, Pernath?!"
Ich horchte erstaunt auf:
"Zu welchem Geld? Ist Ihnen denn Dr. Savioli etwas schuldig?"
Wassertrum wich aus:
"Abrechnungen hab' ich mit ihm. Das kommt doch auf eins heraus."
"Sie wollen ihn ermorden!" schrie ich.
Er sprang auf. Taumelte. Gluckste ein paarmal.
"Jawohl! Ermorden! Wie lange wollen Sie mir noch KomÃdie vorspielen!"
Ich deutete auf die TØr. "Schauen Sie, dañ Sie hinauskommen."
Langsam griff er nach seinem Hut, setzte ihn auf und wandte sich zum
Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen und sagte mit einer Ruhe, deren ich
ihn nie fØr fÄhig gehalten hÄtte:
"Auch recht. Ich hab' Sie herauslassen wollen. Gut. Wenn nicht: Nicht.
Barmherzige Barbiere machen faule Wunden. Mein ZarbØchel ist voll. Wenn Sie
gescheit gewesen wÄren -: der Savioli is Ihnen doch nur im Weg?! Jetzt -
mach - ich - mit - Ihnen allen dreien" - er deutete mit einer Geste des
Erdrosselns an, womit er es meinte - "Preñcolleeh".
Seine Mienen drØckten eine so satanische Grausamkeit aus und er schien
seiner Sache so sicher zu sein, dañ mir das Blut in den Adern erstarrte. Er
muñte eine Waffe in HÄnden haben, von der ich nichts ahnte, die auch
Charousek nicht kannte. Ich fØhlte den Boden unter mir wanken.
"Die Feile! Die Feile!" hÃrte ich es in meinem Hirn flØstern. Ich
schÄtzte die Entfernung ab: ein Schritt bis zum Tisch - zwei Schritte bis zu
Wassertrum - - ich wollte zuspringen - - - da stand wie aus dem Boden
gewachsen Hillel auf der Schwelle.
Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.
Ich sah nur - wie durch Nebel -, dañ Hillel unbeweglich stehen blieb
und Wassertrum Schritt fØr Schritt bis an die Wand zurØckwich.
Dann hÃrte ich Hillel sagen:
"Sie kennen doch, Aaron, den Satz: Alle Juden sind BØrgen fØreinander?
Machen Sie's einem nicht zu schwer." - Er fØgte ein paar hebrÄische Worte
hinzu, die ich nicht verstand.
"Was haben Sie das netig, an der TØre zu schnØffeln?" geiferte der
TrÃdler mit bebenden Lippen.
"Ob ich gehorcht habe oder nicht, braucht Sie nicht zu kØmmern!" -
wieder schloñ Hillel mit einem hebrÄischen Satz, der diesmal wie eine
Drohung klang. Ich erwartete, dañ es zu einem Zank kommen wØrde, aber
Wassertrum antwortete nicht eine Silbe, Øberlegte einen Augenblick und ging
dann trotzig hinaus.
Gespannt blickte ich Hillel an. Er winkte mir zu, ich solle schweigen.
Offenbar wartete er auf irgend etwas, denn er horchte angestrengt auf den
Gang hinaus. Ich wollte die TØre schlieñen gehen: er hielt mich mit einer
ungeduldigen Handbewegung zurØck.
Wohl eine Minute verging, dann kamen die schleppenden Schritte des
TrÃdlers wieder die Stufen herauf. Ohne ein Wort zu sprechen ging Hillel
hinaus und machte ihm Platz.
Wassertrum wartete, bis er auñer HÃrweite war, dann knurrte er mich
verbissen an:
"Geben Se mer meine Uhr zorØck."
Wo nur Charousek blieb?
Beinahe 24 Stunden waren vergangen, und noch immer lieñ er sich nicht
blicken.
Sollte er das Zeichen vergessen haben, das wir verabredet hatten? Oder
sah er es vielleicht nicht?
Ich ging ans Fenster und richtete den Spiegel so, dañ der Sonnenstrahl,
der darauf schien, genau auf das vergitterte Guckloch seiner Kellerwohnung
fiel.
Das Eingreifen Hillels - gestern - hatte mich ziemlich beruhigt.
Bestimmt wØrde er mich gewarnt haben, wenn eine Gefahr im Anzug wÄre.
øberdies: Wassertrum konnte nichts von Belang mehr unternommen haben;
gleich, nachdem er mich verlassen hatte, war er in seinen Laden
zurØckgekehrt, - ich warf einen Blick hinunter: richtig, da lehnte er
unbeweglich hinter seinen Herdplatten, genau so, wie ich ihn schon
frØhmorgens gesehen - - -
UnertrÄglich, das ewige Warten!
Die milde FrØhlingsluft, die durch das offene Fenster aus dem
Nebenzimmer hereinstrÃmte, machte mich krank vor Sehnsucht.
Dies schmelzende Tropfen von den DÄchern! Und wie die feinen
WasserschnØre im Sonnenlicht glÄnzten!
Es zog mich hinaus an unsichtbaren FÄden. Voll Ungeduld ging ich in der
Stube auf und ab. Warf mich in einen Sessel. Stand wieder auf.
Dieses sØchtige Keimen einer Ungewissen Verliebtheit in meiner Brust,
es wollte nicht weichen.
Die ganze Nacht Øber hatte es mich gequÄlt. Einmal war es Angelina
gewesen, die sich an mich geschmiegt, dann wieder sprach ich scheinbar ganz
harmlos mit Mirjam, und kaum hatte ich das Bild zerrissen, kam abermals
Angelina und kØñte mich; ich roch den Duft ihres Haares, und ihr weicher
Zobelpelz kitzelte mich am Hals, rutschte von ihren entblÃñten Schultern -
und sie wurde zu Rosina, die mit trunkenen, halbgeschlossenen Augen tanzte -
im Frack - nackt; - - - und alles in einem Halbschlaf, der doch genau so
gewesen war wie Wachsein. Wie ein sØñes, verzehrendes, dÄmmeriges Wachsein.
Gegen Morgen stand dann mein DoppelgÄnger an meinem Bett, der
schattenhafte Habal Garmin, "der Hauch der Knochen", von dem Hillel
gesprochen, - und ich sah ihm an den Augen an: er war in meiner Macht, muñte
mir jede Frage beantworten, die ich ihm stellen wØrde nach irdischen oder
jenseitigen Dingen, und er wartete nur darauf, aber der Durst nach dem
Geheimnisvollen konnte nicht an gegen die SchwØle meines Blutes und
versickerte im dØrren Erdreich meines Verstandes. - Ich schickte das Phantom
weg, es solle zum Spiegelbild Angelinas werden, und es schrumpfte zusammen
zu dem Buchstaben "Aleph", wuchs wieder empor, stand da als das Koloñweib,
splitternackt, wie ich es einstens im Buche Ibbur gesehen, mit dem Pulse
gleich einem Erdbeben, und beugte sich Øber mich, und ich atmete den
betÄubenden Geruch ihres heiñen Fleisches ein.
Kam denn Charousek immer noch nicht? - Die Glocken sangen von den
KirchtØrmen.
Eine Viertelstunde wollte ich noch warten - dann aber hinaus! Durch
belebte Strañen voll festtÄgig gekleideter Menschen schlendern, mich in das
frohe Gewimmel mischen in den Stadtteilen der Reichen, schÃne Frauen sehen
mit koketten Gesichtern und schmalen HÄnden und FØñen.
Vielleicht begegnete ich dabei Charousek zufÄllig, entschuldigte ich
mich vor mir selbst.
Ich holte das altertØmliche Tarockspiel vom BØcherbord, um mir die Zeit
rascher zu vertreiben. -
Vielleicht lieñ sich aus den Bildern Anregung schÃpfen zum Entwurf
einer Kamee?
Ich suchte nach dem Pagad.
Nicht zu finden. Wo konnte er hingeraten sein?
Ich blÄtterte noch einmal die Karten durch und verlor mich in
Nachdenken Øber ihren verborgenen Sinn. Besonders der "Gehenkte", - was
konnte er nur bedeuten?:
Ein Mann hÄngt an einem Seil zwischen Himmel und Erde, den Kopf nach
abwÄrts, die Arme auf den RØcken gebunden, den rechten Unterschenkel Øber
das linke Bein verschrÄnkt, dañ es aussieht wie ein Kreuz Øber einem
verkehrten Dreieck?
UnverstÄndliches Gleichnis.
Da! - Endlich! Charousek kam.
Oder doch nicht?
Freudige øberraschung, es war Mirjam.
"Wissen Sie, Mirjam, dañ ich soeben zu Ihnen hinuntergehen wollte und
Sie bitten, eine Spazierfahrt mit mir zu machen?" Es war nicht ganz die
Wahrheit, aber ich machte mir weiter keine Gedanken darØber. - "Nicht wahr,
Sie schlagen es mir nicht ab?! Ich bin heute so unendlich froh im Herzen,
dañ Sie, gerade Sie, Mirjam, meiner Freude die Krone aufsetzen mØssen."
"- spazierenfahren?", wiederholte sie derart verblØfft, dañ ich laut
auflachen muñte.
"Ist denn der Vorschlag gar so wunderbar?"
"Nein, nein, aber - -," sie suchte nach Worten, "unerhÃrt merkwØrdig.
Spazierenfahren!"
"Durchaus nicht merkwØrdig, wenn Sie sich vorhalten, dañ es
Hunderttausende von Menschen tun - eigentlich ihr ganzes Leben nichts
anderes tun."
"Ja, andere Menschen!" gab sie, immer noch vollstÄndig Øberrumpelt, zu.
Ich fañte ihre beiden HÄnde:
"Was andere Menschen an Freude erleben dØrfen, mÃchte ich, dañ Sie,
Mirjam, in noch unendlich viel reicherem Mañe genieñen."
Sie wurde plÃtzlich leichenblañ, und ich sah an der starren Taubheit
ihres Blickes, woran sie dachte. Es gab mir einen Stich.
"Sie dØrfen es nicht immer mit sich herumtragen, Mirjam," redete ich
ihr zu, "das - das Wunder. Wollen Sie mir das nicht versprechen - aus - aus
Freundschaft?"
Sie hÃrte die Angst aus meinen Worten und blickte mich erstaunt an.
"Wenn es Sie nicht so angriffe, kÃnnte ich mich mit Ihnen freuen, aber
so? Wissen Sie, dañ ich tief besorgt bin um Sie, Mirjam? - Um - um - wie
soll ich nur sagen? - um Ihre seelische Gesundheit! Fassen Sie es nicht
wÃrtlich auf, aber -: ich wollte, das Wunder wÄre nie geschehen."
Ich erwartete, sie wØrde mir widersprechen, aber sie nickte nur in
Gedanken versunken.
"Es verzehrt Sie. Habe ich nicht recht, Mirjam?" Sie raffte sich auf:
"Manchmal mÃchte ich beinahe auch, es wÄre nicht geschehen."
Es klang wie ein Hoffnungsstrahl fØr mich. - "Wenn ich mir denken
soll," sie sprach ganz langsam und traumverloren, "dañ Zeiten kommen
kÃnnten, wo ich ohne solche Wunder leben mØñte - - -."
"Sie kÃnnen doch Øber Nacht reich werden und brauchen dann nicht mehr
-," fuhr ich ihr unbedacht in die Rede, hielt aber rasch inne, als ich das
Entsetzen in ihrem Gesicht bemerkte, - "ich meine: Sie kÃnnen plÃtzlich auf
natØrliche Weise Ihrer Sorgen enthoben werden, und die Wunder, die Sie dann
erleben, wØrden geistiger Art sein: - innere Erlebnisse."
Sie schØttelte den Kopf und sagte hart: "Innere Erlebnisse sind keine
Wunder. Erstaunlich genug, dañ es Menschen zu geben scheint, die Øberhaupt
keine haben. - Seit meiner Kindheit, Tag fØr Tag, Nacht fØr Nacht, erlebe
ich -" (sie brach mit einem Ruck ab, und ich erriet, dañ noch etwas anderes
in ihr war, von dem sie mir nie gesprochen hatte, vielleicht das Weben
unsichtbarer Geschehnisse, Ähnlich den meinigen) - "aber das gehÃrt nicht
hierher. Selbst, wenn einer aufstØnde und machte Kranke gesund durch
Handauflegen, ich kÃnnte es kein Wunder nennen. Erst, wenn der leblose Stoff
- die Erde - beseelt wird vom Geist und die Gesetze der Natur zerbrechen,
dann ist das geschehen, wonach ich mich sehne, seit ich denken kann. - Mir
hat einmal mein Vater gesagt: es gÄbe zwei Seiten der Kabbala: eine magische
und eine abstrakte, die sich niemals zur Deckung bringen lieñen. Wohl kÃnne
die magische die abstrakte an sich ziehen, aber nie und nimmer umgekehrt.
Die magische ist ein Geschenk, die andere kann errungen werden, wenn auch
nur mit Hilfe eines FØhrers." Sie nahm den ersten Faden wieder auf: "Das
Geschenk ist es, nach dem ich dØrste; was ich mir erringen kann, ist mir
gleichgØltig und wertlos wie Staub. Wenn ich mir denken soll, es kÃnnten
Zeiten kommen, sagte ich vorhin, wo ich wieder ohne diese Wunder leben
mØñte," - ich sah, wie sich ihre Finger krampften und Reue und Jammer
zerfleischten mich, - "ich glaube, ich sterbe jetzt schon angesichts der
bloñen MÃglichkeit."
"Ist das der Grund, weshalb auch Sie wØnschten, das Wunder wÄre nie
geschehen?", forschte ich.
"Nur zum Teil. Es ist noch etwas anderes da. Ich - ich - ", sie dachte
einen Augenblick nach, "war noch nicht reif dazu, ein Wunder in dieser Form
zu erleben. Das ist es. Wie soll ich es Ihnen erklÄren? Nehmen Sie einmal
an, bloñ als Beispiel, ich hÄtte seit Jahren jede Nacht ein und denselben
Traum, der sich immer weiter fortspinnt und in dem mich jemand - sagen wir:
ein Bewohner einer andern Welt - belehrt und mir nicht nur an einem
Spiegelbilde von mir selbst und seinen allmÄhlichen VerÄnderungen zeigt, wie
weit ich von der magischen Reife, ein ›Wunder‹ erleben zu kÃnnen, entfernt
bin, sondern: mir auch in Verstandesfragen, wie sie mich einmal tagsØber
beschÄftigen, derart Aufschluñ gibt, dañ ich es jederzeit nachprØfen kann.
Sie werden mich verstehen: Ein solches Wesen ersetzt einem an GlØck alles,
was sich auf Erden ausdenken lÄñt; es ist fØr mich die BrØcke, die mich mit
dem ›DrØben‹ verbindet, ist die Jakobsleiter, auf der ich mich Øber die
Dunkelheit des Alltags erheben kann ins Licht, - ist mir FØhrer und Freund,
und alle meine Zuversicht, dañ ich mich auf den dunkeln Wegen, die meine
Seele geht, nicht verirren kann in Wahnsinn und Finsternis, setze ich auf
›ihn‹, der mich noch nie belogen hat. - Da mit einem Mal, entgegen allem,
was er mir gesagt hat, kreuzt ein ›Wunder‹ mein Leben! Wem soll ich jetzt
glauben? War das, was mich die vielen Jahre Øber ununterbrochen erfØllt hat,
eine TÄuschung? Wenn ich daran zweifeln mØñte, ich stØrzte kopfØber in einen
bodenlosen Abgrund. - Und doch ist das Wunder geschehen! Ich wØrde
aufjauchzen vor Freude, wenn -"
"Wenn - - -?" unterbrach ich sie atemlos. Vielleicht sprach sie selbst
das erlÃsende Wort, und ich konnte ihr alles eingestehen.
"- wenn ich erfØhre, dañ ich mich geirrt habe, - dañ es gar kein Wunder
war! Aber ich weiñ so genau, wie ich weiñ, dañ ich hier sitze, ich ginge
zugrunde daran"; (mir blieb das Herz stehen) - "zurØckgerissen werden, vom
Himmel wieder herab mØssen auf die Erde? Glauben Sie, dañ das ein Mensch
ertragen kann?"
"Bitten Sie doch Ihren Vater um Hilfe", sagte ich ratlos vor Angst.
"Meinen Vater? Um Hilfe?" - sie blickte mich verstÄndnislos an - "wo es
nur zwei Wege fØr mich gibt, kann er da einen dritten finden? - - Wissen
Sie, was die einzige Rettung fØr mich wÄre? Wenn mir das geschÄhe, was Ihnen
geschehen ist. Wenn ich in dieser Minute alles, was hinter mir liegt: mein
ganzes Leben bis zum heutigen Tag - vergessen kÃnnte. - Ist es nicht
merkwØrdig: was Sie als UnglØck empfinden, wÄre fØr mich das hÃchste GlØck!"
Wir schwiegen beide noch eine lange Zeit. Dann ergriff sie plÃtzlich
meine Hand und lÄchelte. Beinahe frÃhlich.
"Ich will nicht, dañ Sie sich meinetwegen grÄmen;" - (sie trÃstete mich
- mich!) - "vorhin waren Sie so voll Freude und GlØck Øber den FrØhling
drauñen, und jetzt sind Sie die BetrØbnis selbst. Ich hÄtte Ihnen Øberhaupt
nichts sagen sollen. Reiñen Sie es aus Ihrem GedÄchtnis und denken Sie
wieder so heiter wie vorhin! - Ich bin ja so froh -"
"Sie? Froh? Mirjam?", unterbrach ich sie bitter.
Sie machte ein Øberzeugtes Gesicht: "Ja! Wirklich! Froh! Als ich zu
Ihnen heraufging, war ich so unbeschreiblich Ängstlich, - ich weiñ nicht
warum: ich konnte das GefØhl nicht loswerden, dañ Sie in einer groñen Gefahr
schweben", - ich horchte auf - "aber, statt mich darØber zu freuen, Sie
gesund und wohlauf zu treffen, habe ich Sie angeunkt und - -"
Ich zwang mich zur Lustigkeit: "und das kÃnnen Sie nur gutmachen, wenn
Sie mit mir ausfahren." (Ich bemØhte mich, so viel øbermut wie mÃglich in
meine Stimme zu legen:) "Ich mÃchte doch einmal sehen, Mirjam, ob es mir
nicht gelingt, Ihnen die trØben Gedanken zu verscheuchen. Sagen Sie, was Sie
wollen: Sie sind noch lange kein Ägyptischer Zauberer, sondern vorlÄufig nur
ein junges MÄdchen, dem der Tauwind noch manchen bÃsen Streich spielen
kann."
Sie wurde plÃtzlich ganz lustig:
"Ja, was ist denn das heute mit Ihnen, Herr Pernath? So hab' ich Sie
noch nie gesehen! - øbrigens ›Tauwind‹: bei uns JudenmÄdchen lenken
bekanntlich die Eltern den Tauwind, und wir haben nur zu gehorchen. Tuen es
natØrlich auch. Es steckt uns schon so im Blut. - Mir ja nicht", setzte sie
ernsthafter hinzu, "meine Mutter hat bÃs gestreikt, als sie den grÄñlichen
Aaron Wassertrum heiraten sollte."
"Was? Ihre Mutter? Den TrÃdler da unten?"
Mirjam nickte. "Gott sei Dank ist es nicht zustande gekommen. - FØr den
armen Menschen freilich war es ein vernichtender Schlag."
"Armer Mensch, sagen Sie?" fuhr ich auf. "Der Kerl ist ein Verbrecher."
Sie wiegte nachdenklich den Kopf: "Gewiñ, er ist ein Verbrecher. Aber
wer in einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muñ ein Prophet
sein."
Ich rØckte neugierig nÄher;
"Wissen Sie Genaueres Øber ihn? Mich interessiert das. Aus ganz
besonderen - -"
"Wenn Sie einmal seinen Laden von innen gesehen hÄtten, Herr Pernath,
wØñten Sie sofort, wie es in seiner Seele ausschaut. Ich sage das, weil ich
als Kind sehr oft drin war. - Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ist denn
das so merkwØrdig? - Gegen mich war er immer freundlich und gØtig. Einmal
sogar, erinnere ich mich, schenkte er mir einen groñen blitzenden Stein, der
mir besonders unter seinen Sachen gefallen hatte. Meine Mutter sagte, es sei
ein Brillant, und ich muñte ihn natØrlich sofort zurØcktragen.
Erst wollte er ihn lange nicht wiedernehmen, aber dann riñ er ihn mir
aus der Hand und warf ihn voll Wut weit von sich. Ich habe aber dennoch
gesehen, wie ihm dabei die TrÄnen aus den Augen stØrzten; ich konnte auch
damals schon genug HebrÄisch, um zu verstehen, was er murmelte: ›Alles ist
verflucht, was meine Hand berØhrt.‹ - - Es war das letzte Mal, dañ ich ihn
besuchen durfte. Nie wieder hat er mich seitdem aufgefordert, zu ihm zu
kommen. Ich weiñ auch warum: HÄtte ich ihn nicht zu trÃsten versucht, wÄre
alles beim alten geblieben, so aber, weil er mir unendlich leid tat und ich
es ihm sagte, wollte er mich nicht mehr sehen. - - - Sie verstehen das
nicht, Herr Pernath? Es ist doch so einfach: er ist ein Besessener, - ein
Mensch, der sofort miñtrauisch, unheilbar miñtrauisch wird, wenn jemand an
sein Herz rØhrt. Er hÄlt sich fØr noch viel hÄñlicher, als er in
Wirklichkeit ist, - wenn das Øberhaupt mÃglich sein kann, und darin wurzelt
sein ganzes Denken und Handeln. Man sagt, seine Frau hÄtte ihn gern gehabt,
vielleicht war es mehr Mitleid als Liebe, aber immerhin glaubten es sehr
viele Leute. Der einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen war, war er.
øberall wittert er Verrat und Hañ.
Nur bei seinem Sohn machte er eine Ausnahme. Ob es daher kam, dañ er
ihn vom SÄuglingsalter an hatte heranwachsen sehen, also das Keimen jeder
Eigenschaft von Urbeginn in dem Kinde sozusagen miterlebte und daher nie zu
einem Punkte gelangte, wo sein Miñtrauen hÄtte einsetzen kÃnnen, oder ob es
im jØdischen Blute lag: alles, was an LiebesfÄhigkeit in ihm lebte, auf
seinen Nachkommen auszugieñen - in jener instinktiven Furcht unserer Rasse:
wir kÃnnten aussterben und eine Mission nicht erfØllen, die wir vergessen
haben, die aber dunkel in uns fortlebt, - wer kann das wissen!
Mit einer Umsicht, die beinahe an Weisheit grenzte, und bei einem
unbelesenen Menschen, wie er, wunderbar ist, leitete er die Erziehung seines
Sohnes. Mit dem Scharfsinn eines Psychologen rÄumte er dem Kinde jedes
Erlebnis aus dem Wege, das zur Entwicklung der GewissenstÄtigkeit hÄtte
beitragen kÃnnen, um ihm kØnftige seelische Leiden zu ersparen.
Er hielt ihm als Lehrer einen hervorragenden Gelehrten, der die Ansicht
verfocht, die Tiere seien empfindungslos und ihre SchmerzÄuñerung ein
mechanischer Reflex.
Aus jedem GeschÃpf so viel Freude und Genuñ fØr sich selbst
herauspressen, wie nur irgend mÃglich, und dann die Schale sofort als
nutzlos wegzuwerfen: das war ungefÄhr das Abc seines weitblickenden
Erziehungssystems.
Dañ das Geld als Standarte und SchlØssel zur ›Macht‹ dabei eine erste
Rolle spielte, kÃnnen Sie sich denken, Herr Pernath. Und so wie er selbst
den eigenen Reichtum sorgsam geheim hÄlt, um die Grenzen seines Einflusses
in Dunkel zu hØllen, so ersann er sich ein Mittel, seinem Sohn ähnliches zu
ermÃglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines scheinbar Ärmlichen Lebens
zu ersparen: er durchtrÄnkte ihn mit der infernalischen LØge von der
›SchÃnheit‹, brachte ihm die Äuñere und innere GebÄrde der ästhetik bei,
lehrte ihn Äuñerlich: die Lilie auf dem Felde heucheln und innerlich ein
Aasgeier sein.
NatØrlich war das mit der ›SchÃnheit‹ wohl kaum eigene Erfindung von
ihm - vermutlich die ›Verbesserung‹ eines Ratschlags, den ihm ein Gebildeter
gegeben hatte.
Dañ ihn sein Sohn spÄter verleugnete, wo und wann er nur konnte, nahm
er niemals Øbel. Im Gegenteil, er machte es ihm zur Pflicht: denn seine
Liebe war selbstlos, und wie ich es schon einmal von meinem Vater sagte: -
von der Art, die Øbers Grab hinausgeht."
Mirjam schwieg einen Augenblick und ich sah ihr an, wie sie ihre
Gedanken stumm weiterspann, hÃrte es an dem verÄnderten Klang ihrer Stimme,
als sie sagte:
"Seltsame FrØchte wachsen auf dem Baume des Judentums."
"Sagen Sie, Mirjam," fragte ich, "haben Sie nie davon gehÃrt, dañ
Wassertrum eine Wachsfigur in seinem Laden stehen hat? Ich weiñ nicht mehr,
wer es mir erzÄhlt hat, - es war vielleicht nur ein Traum - -"
"Nein, nein, es ist schon richtig, Herr Pernath: eine lebensgroñe
Wachsfigur steht in der Ecke, in der er, mitten unter dem tollsten GerØmpel,
auf seinem Strohsack schlÄft. Er hat sie vor Jahren einem Schaubudenbesitzer
abgewuchert, heiñt es, bloñ weil sie einem MÄdchen - einer Christin -
Ähnlich sah, die angeblich einmal seine Geliebte gewesen sein soll."
"Charouseks Mutter!" drÄngte es sich mir auf.
"Ihren Namen wissen Sie nicht, Mirjam?"
Mirjam schØttelte den Kopf. "Wenn Ihnen daran liegt, - soll ich mich
erkundigen?"
"Ach Gott, nein, Mirjam; es ist mir vollkommen gleichgØltig", (ich sah
an ihren blitzenden Augen, dañ sie sich in Eifer geredet hatte. Sie durfte
nicht wieder zu sich kommen, nahm ich mir vor), "aber was mich viel mehr
interessiert, ist das Gebiet, von dem Sie vorhin flØchtig sprachen. Ich
meine das ›vom Tauwind‹. - Ihr Vater wØrde Ihnen doch gewiñ nicht
vorschreiben, wen Sie heiraten sollen?"
Sie lachte lustig auf. "Mein Vater? Wo denken Sie hin!"
"Nun, das ist ein groñes GlØck fØr mich."
"Wieso?" fragte sie arglos.
"Weil ich dann noch Chancen habe."
Es war nur ein Scherz, und sie nahm es auch nicht anders hin, aber doch
sprang sie rasch auf und ging ans Fenster, um mich nicht sehen zu lassen,
dañ sie rot wurde.
Ich lenkte ein, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen:
"Das eine bitte ich mir aus als alter Freund: Mich mØssen Sie
einweihen, wenn's einmal so weit ist. - Oder gedenken Sie Øberhaupt ledig zu
bleiben?"
"Nein! nein! nein!" - sie wehrte so entschlossen ab, dañ ich
unwillkØrlich lÄchelte - "einmal muñ ich ja doch heiraten."
"NatØrlich! SelbstverstÄndlich!"
Sie wurde nervÃs wie ein Backfisch.
"KÃnnen Sie denn nicht eine Minute ernsthaft bleiben, Herr Pernath?" -
Ich machte gehorsam ein Lehrergesicht, und sie setzte sich wieder. - "Also:
wenn ich sage, ich muñ doch einmal heiraten, so meine ich damit, dañ ich mir
zwar bis jetzt den KopfØber die nÄheren UmstÄnde nicht zerbrochen habe, den
Sinn des Lebens aber gewiñ nicht verstØnde, wenn ich annehmen wØrde, ich sei
als Weib auf die Welt gekommen, um kinderlos zu bleiben."
Das erste Mal, seit ich sie kannte, sah ich das Frauenhafte in ihren
ZØgen.
"Es gehÃrt mit zu meinen TrÄumen", fuhr sie leise fort, "mir
vorzustellen, dañ es ein Endziel sei, wenn zwei Wesen zu einem verschmelzen,
- zu dem, was - - haben Sie nie von dem Ägyptischen Osiriskult gehÃrt? - zu
dem verschmelzen, was der ›Hermaphrodit‹ als Symbol bedeuten mag."
Ich horchte gespannt auf: "Der Hermaphrodit -?"
"Ich meine: Die magische Vereinigung von mÄnnlich und weiblich im
Menschengeschlecht zu einem Halbgott. Als Endziel! - Nein, nicht als
Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist - kein Ende hat."
"Und hoffen Sie, dereinst denjenigen zu finden," fragte ich
erschØttert, "den Sie suchen? - Kann es nicht sein, dañ er in einem fernen
Land lebt, vielleicht gar nicht auf Erden ist?"
"Davon weiñ ich nichts"; sagte sie einfach, "ich kann nur warten. Wenn
er durch Zeit und Raum von mir getrennt ist, - was ich nicht glaube, weshalb
wÄre ich dann hier im Getto angebunden? - oder durch die KlØfte
gegenseitigen Nichterkennens - und ich finde ihn nicht, dann hat mein Leben
keinen Zweck gehabt und war das gedankenlose Spiel eines idiotischen DÄmons.
- Aber, bitte, bitte, reden wir nicht mehr davon," flehte sie, "wenn man den
Gedanken nur ausspricht, bekommt er schon einen hÄñlichen, irdischen
Beigeschmack, und ich mÃchte nicht -"
Sie brach plÃtzlich ab.
"Was mÃchten Sie nicht, Mirjam?"
Sie hob die Hand. Stand rasch auf und sagte:
"Sie bekommen Besuch, Herr Pernath!"
Seidenkleider raschelten auf dem Gang.
UngestØmes Klopfen. Dann:
Angelina!
Mirjam wollte gehen; ich hielt sie zurØck:
"Darf ich vorstellen: die Tochter eines lieben Freundes - Frau GrÄfin
-"
"Nicht einmal vorfahren kann man mehr. øberall das Pflaster
aufgerissen. Wann werden Sie einmal in eine menschenwØrdige Gegend siedeln,
Meister Pernath? Drauñen schmilzt der Schnee und der Himmel jubelt, dañ es
einem die Brust zersprengt, und Sie hocken hier in Ihrer Tropfsteingrotte
wie ein alter Frosch, - - Øbrigens wissen Sie, dañ ich gestern bei meinem
Juwelier war und er gesagt hat: Sie seien der grÃñte KØnstler, der feinste
Gemmenschneider, den es heute gibt, wenn nicht einer der grÃñten, die je
gelebt haben?!" - Angelina plauderte wie ein Wasserfall, und ich war
verzaubert. Sah nur mehr ihre strahlenden, blauen Augen, die kleinen FØñe in
den winzigen Lackstiefeln, sah das kapriziÃse Gesicht aus dem Wust von
Pelzwerk leuchten und die rosigen OhrlÄppchen.
Sie lieñ sich kaum Zeit auszuatmen.
"An der Ecke steht mein Wagen. Ich hatte schon Angst, Sie nicht zu
Hause zu treffen. Sie haben doch hoffentlich noch nicht zu Mittag gegessen?
Wir fahren zuerst - ja, wohin fahren wir zuerst? Wir fahren zuerst einmal -
warten Sie - - ja: vielleicht in den Baumgarten, oder kurz: irgendwohin ins
Freie, wo man so recht das Keimen und heimliche Sprossen in der Luft ahnt.
Kommen Sie, kommen Sie, nehmen Sie Ihren Hut; und dann essen Sie bei mir, -
und dann schwÄtzen wir bis abends. Nehmen Sie doch Ihren Hut! Worauf warten
Sie denn? - Eine warme, ganz weiche Decke ist unten: da wickeln wir uns ein
bis an die Ohren und kuscheln uns zusammen, bis uns siedheiñ wird."
Was sollte ich nur sagen?! "Soeben habe ich mit der Tochter meines
Freundes eine Spazierfahrt verabredet - -"
Mirjam hatte sich bereits hastig von Angelina verabschiedet, noch ehe
ich aussprechen konnte.
Ich begleitete sie bis vor die TØr, obschon sie mich freundlich
abwehren wollte.
"HÃren Sie mich an, Mirjam, ich kann es Ihnen hier auf der Treppe nicht
so sagen, wie ich an Ihnen hÄnge - - und dañ ich tausendmal lieber mit Ihnen
- -"
"Sie dØrfen die Dame nicht warten lassen, Herr Pernath," drÄngte sie,
"adieu und viel VergnØgen!"
Sie sagte es voll Herzlichkeit und unverstellt und echt, aber ich sah,
dañ der Glanz in ihren Augen erloschen war.
Sie eilte die Treppe hinunter, und das Leid schnØrte mir die Kehle
zusammen.
Mir war, als hÄtte ich eine Welt verloren.
Wie im Rausch sañ ich an Angelinas Seite. Wir fuhren in rasendem Trab
durch die menschenØberfØllten Strañen.
Eine Brandung des Lebens rings um mich, dañ ich, halb betÄubt, nur noch
die kleinen Lichtflecke in dem Bilde, das an mir vorØberhuschte,
unterscheiden konnte: blitzende Juwelen in Ohrringen und Muffketten, blanke
ZylinderhØte, weiñe Damenhandschuhe, einen Pudel mit rosa Halsschleife, der
klÄffend in die RÄder beiñen wollte, schÄumende Rappen, die uns
entgegensausten in silbernen Geschirren, ein Ladenfenster, drin schimmernde
Schalen voll PerlschnØren und funkelnden Geschmeiden, - Seidenglanz um
schlanke MÄdchenhØften.
Der scharfe Wind, der uns ins Gesicht schnitt, lieñ mich die WÄrme von
Angelinas KÃrper doppelt sinnverwirrend empfinden.
Die Schutzleute an den Kreuzungen sprangen respektvoll zur Seite, wenn
wir an ihnen vorØberjagten.
Dann ging's im Schritt Øber das Quai, das eine einzige Wagenreihe war,
an der eingestØrzten steinernen BrØcke vorbei, umstaut vom GewØhl gaffender
Gesichter.
Ich blickte kaum hin: - das kleinste Wort aus dem Munde Angelinas, ihre
Wimpern, das eilige Spiel ihrer Lippen, - alles, alles war mir unendlich
viel wichtiger, als zuzusehen, wie die FelstrØmmer dort unten den
antaumelnden Eisschollen die Schultern entgegenstemmten. -
Parkwege. Dann - gestampfte, elastische Erde. Dann Laubrascheln unter
den Hufen der Pferde, nasse Luft, blÄtterlose Baumriesen voll von
KrÄhennestern, totes WiesengrØn mit weiñlichen Inseln schwindenden Schnees,
alles zog an mir vorbei wie getrÄumt.
Nur mit ein paar kurzen Worten, fast gleichgØltig, kam Angelina auf Dr.
Savioli zu sprechen.
"Jetzt, wo die Gefahr vorØber ist", sagte sie mit entzØckender,
kindlicher Unbefangenheit, "und ich weiñ, dañ es ihm auch wieder besser
geht, kommt mir alles das, was ich mitgemacht habe, so grÄñlich langweilig
vor. - Ich will mich endlich einmal wieder freuen, die Augen zumachen und
untertauchen in dem glitzernden Schaum des Lebens. Ich glaube, alle Frauen
sind so. Sie gestehen es bloñ nicht ein. Oder sie sind so dumm, dañ sie es
selbst nicht wissen. Meinen Sie nicht auch?" Sie hÃrte gar nicht hin, was
ich darauf antwortete. "øbrigens sind mir die Frauen vollstÄndig
uninteressant. Sie dØrfen es natØrlich nicht als Schmeichelei auffassen:
aber - wahrhaftig, die bloñe NÄhe eines sympathischen Mannes ist mir im
kleinen Finger lieber als das anregendste GesprÄch mit einer noch so
gescheiten Frau. Es ist ja schlieñlich doch alles dummes Zeug, was man da
zusammenschwÄtzt. - HÃchstens: das biñchen Putz - na und! Die Moden wechseln
ja nicht gar so hÄufig. - - Nicht wahr, ich bin leichtsinnig?", fragte sie
plÃtzlich kokett, dañ ich mich, bestrickt von ihrem Reiz, zusammennehmen
muñte, nicht ihr KÃpfchen zwischen meine HÄnde zu nehmen und sie in den
Nacken zu kØssen, - "sagen Sie, dañ ich leichtsinnig bin!"
Sie schmiegte sich noch dichter an und hÄngte sich in mich ein.
Wir fuhren aus der Allee heraus an Bosketts entlang mit
strohumwickelten Zierstauden, die aussahen in ihren HØllen wie RØmpfe von
Ungeheuern mit abgehauenen Gliedern und HÄuptern.
Leute sañen auf BÄnken in der Sonne und blickten hinter uns drein und
steckten die KÃpfe zusammen.
Wir schwiegen eine Weile und hingen unseren Gedanken nach. Wie war
Angelina doch so vollstÄndig anders, als sie bisher in meiner Einbildung
gelebt hatte! - Als sei sie erst heute fØr mich in die Gegenwart gerØckt!
War das wirklich dieselbe Frau, die ich damals in der Domkirche
getrÃstet hatte?
Ich konnte den Blick nicht wenden von ihrem halboffenen Mund.
Sie sprach noch immer kein Wort. Schien im Geiste ein Bild zu sehen.
Der Wagen bog Øber eine feuchte Wiese.
Es roch nach erwachender Erde.
"Wissen Sie, - - Frau - -?"
"Nennen Sie mich doch Angelina", unterbrach sie mich leise.
"Wissen Sie, Angelina, dañ - dañ ich heute die ganze Nacht von Ihnen
getrÄumt habe?", stieñ ich gepreñt hervor.
Sie machte eine kleine rasche Bewegung, als wolle sie ihren Arm aus
meinem ziehen, und sah mich groñ an. "MerkwØrdig! Und ich von Ihnen! - Und
in diesem Moment habe ich dasselbe gedacht."
Wieder stockte das GesprÄch, und beide errieten wir, dañ wir auch
dasselbe getrÄumt hatten.
Ich fØhlte es an dem Beben ihres Blutes. Ihr Arm zitterte kaum merklich
an meiner Brust. Sie blickte krampfhaft von mir weg aus dem Wagen hinaus. -
- -
Langsam zog ich ihre Hand an meine Lippen, streifte den weiñen,
duftenden Handschuh zurØck, hÃrte, wie ihr Atem heftig wurde, und preñte
toll vor Liebe meine ZÄhne in ihren Handballen.
- - Stunden spÄter ging ich wie ein Trunkener durch den Abendnebel
hinab der Stadt zu. Planlos wÄhlte ich die Strañen und ging lange, ohne es
zu wissen, im Kreise herum.
Dann stand ich am Fluñ Øber eisernes GelÄnder gebeugt und starrte hinab
in die tosenden Wellen.
Noch immer fØhlte ich Angelinas Arme um meinen Nacken, sah das
steinerne Becken des Springbrunnens, an dem wir schon einmal Abschied
voneinander genommen vor vielen Jahren, vor mir, mit den faulenden
UlmenblÄttern darin, und sie wanderte wieder mit mir, wie soeben erst vor
kurzem, den Kopf an meine Schulter gelehnt, stumm durch den frÃsteldnen,
dÄmmrigen Park ihres Schlosses.
Ich setzte mich auf eine Bank und zog den Hut tief ins Gesicht, um zu
trÄumen.
Die Wasser brausten Øber das Wehr und ihr Rauschen verschlang die
letzten, aufmurrenden GerÄusche der schlafengehenden Stadt.
Wenn ich von Zeit zu Zeit meinen Mantel fester um mich zog und
aufblickte, lag der Fluñ in immer tieferen Schatten, bis er endlich, von der
schweren Nacht erdrØckt, schwarzgrau dahinstrÃmte und der Gischt des
Staudamms als weiñer, blendender Streifen schrÄg hinØber zum andern Ufer
lief.
Mich schauderte bei dem Gedanken, wieder zurØck zu mØssen in mein
trauriges Haus.
Der Glanz eines kurzen Nachmittags hatte mich fØr immer zum Fremdling
in meiner WohnstÄtte gemacht.
Eine Spanne von wenigen Wochen, vielleicht nur von Tagen, dann muñte
das GlØck vorØber sein - und nichts blieb davon als eine wehe, schÃne
Erinnerung.
Und dann?
Dann war ich heimatlos hier und drØben, diesseits und jenseits des
Flusses.
Ich stand auf! Wollte noch durch das Parkgitter einen Blick auf das
Schloñ werfen, hinter dessen Fenstern sie schlief, ehe ich in das finstere
Getto ging. - - - Ich schlug die Richtung ein, aus der ich gekommen war,
tappte mich durch den dichten Nebel an HÄuserreihen entlang und Øber
schlummernde PlÄtze, sah schwarze Monumente drohend auftauchen und einsame
SchilderhÄuser und die SchnÃrkel von Barockfassaden. Der matte Schimmer
einer Laterne wuchs zu riesigen, phantastischen Ringen in verblichenen
Regenbogenfarben aus dem Dunst heraus, wurde zum fahlgelben, stechenden Auge
und zerging hinter mir in der Luft.
Mein Fuñ tastete breite, steinerne StufenflÄchen, mit Kies bestreut. Wo
war ich? Ein Hohlweg, der steil aufwÄrts fØhrt?
Glatte Gartenmauern links und rechts? Die kahlen äste eines Baumes
hÄngen herØber. Sie kommen vom Himmel herunter: der Stamm verbirgt sich
hinter der Nebelwand. -
Ein paar morsche, dØnne Zweige brechen krachend ab, wie mein Hut sie
streift, und fallen an meinem Mantel hinab in den nebligen grauen Abgrund,
der mir meine FØñe verbirgt.
Dann ein strahlender Punkt: ein einsames Licht in der Ferne - irgendwo
- rÄtselhaft - zwischen Himmel und Erde. - - -
Ich muñte fehlgegangen sein. Es konnte nur die "alte Schloñstiege" sein
neben den HÄngen der FØrstenbergschen GÄrten - - -
Dann lange Strecken lehmiger Erde. - Ein gepflasterter Weg.
Ein massiger Schatten ragt hoch auf, den Kopf in einer schwarzen,
steifen ZipfelmØtze: "die Daliborka" = der Hungerturm, in dem Menschen einst
verschmachteten, derweilen KÃnige unten im "Hirschgraben" das Wild hetzten.
Ein schmales, gewundenes GÄñchen mit Schieñscharten, ein Schneckengang,
kaum breit genug, die Schultern durchzulassen - und ich stand vor einer
Reihe von HÄuschen, keines hÃher als ich.
Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich auf die DÄcher greifen.
Ich war in die "Goldmachergasse" geraten, wo im Mittelalter die
alchimistischen Adepten den Stein der Weisen geglØht und die Mondstrahlen
vergiftet haben.
Es rØhrte kein anderer Weg hinaus als der, den ich gekommen war.
Aber ich fand die MauerlØcke nicht mehr, die mich eingelassen, - stieñ
an ein Holzgatter.
Es nØtzt nichts, ich muñ jemand wecken, damit man mir den Weg zeigt,
sagte ich mir. Sonderbar, dañ hier ein Haus die Gasse abschlieñt - grÃñer
als die andern und anscheinend wohnlich? Ich kann mich nicht entsinnen, es
je bemerkt zu haben.
Es muñ wohl weiñ getØncht sein, dañ es so hell aus dem Nebel leuchtet?
Ich gehe durch das Gatter Øber den schmalen Gartenstreif, drØcke das
Gesicht an die Scheiben: - alles finster. Ich klopfe ans Fenster. - Da geht
drinnen ein steinalter Mann, eine brennende Kerze in der Hand, durch eine
TØr mit greisenhaft wankenden Schritten bis mitten in die Stube, bleibt
stehen, dreht langsam den Kopf nach den verstaubten alchimistischen Retorten
und Kolben an der Wand, starrt nachdenklich auf die riesigen Spinnweben in
den Ecken und richtet dann seinen Blick unverwandt auf mich.
Der Schatten seiner Backenknochen fÄllt ihm auf die AugenhÃhlen, dañ es
aussieht, als seien sie leer wie die einer Mumie.
Er sieht mich offenbar nicht.
Ich klopfe ans Glas.
Er hÃrt mich nicht. Geht lautlos wie ein Schlafwandler wieder aus dem
Zimmer.
Ich warte vergebens.
Klopfe ans Haustor: niemand Ãffnet. - - -
Es blieb mir nichts Øbrig, als so lange zu suchen, bis ich den Ausgang
aus der Gasse endlich fand.
Ob es nicht am besten wÄre, ich ginge noch unter Menschen, Øberlegte
ich. - Zu meinen Freunden: Zwakh, Prokop und Vrieslander ins "alte Ungelt",
wo sie bestimmt sein wØrden -, um meine verzehrende Sehnsucht nach Angelinas
KØssen wenigstens fØr ein paar Stunden zu ØbertÄuben? Rasch mache ich mich
auf den Weg.
Wie ein Trifolium von Toten hockten sie um den wurmstichigen, alten
Tisch herum, - alle drei: weiñe dØnnstielige Tonpfeifen zwischen den ZÄhnen,
und das Zimmer voll Rauch.
Man konnte kaum ihre GesichtszØge unterscheiden, so schluckten die
dunkelbraunen WÄnde das spÄrliche Licht der altmodischen HÄngelampe ein.
In der Ecke die spindeldØrre, wortkarge, verwitterte Kellnerin mit
ihrem ewigen Strickstrumpf, dem farblosen Blick und der gelben
Entenschnabelnase!
Mattrote Decken hingen vor den geschlossenen TØren, so dañ die Stimmen
der GÄste im Nebenzimmer nur wie das leise Summen eines Bienenschwarms
herØberdrangen.
Vrieslander, seinen kegelfÃrmigen Hut mit der geraden Krempe auf dem
Kopf, mit seinem Knebelbart, der bleigrauen Gesichtsfarbe und der Narbe
unter dem Auge, sah aus wie ein ertrunkener HollÄnder aus einem vergessenen
Jahrhundert.
Josua Prokop hatte sich eine Gabel quer durch die Musikerlocken
gesteckt, klapperte unaufhÃrlich mit seinen gespenstisch langen
Knochenfingern und sah bewundernd zu, wie sich Zwakh abmØhte, der bauchigen
Arakflasche das PurpurmÄntelchen einer Marionette umzuhÄngen.
"Das wird Babinski", erklÄrte mir Vrieslander mit tiefem Ernst. "Sie
wissen nicht, wer Babinski war? Zwakh, erzÄhlen Sie Pernath rasch, wer
Babinski war!"
"Babinski war", begann Zwakh sofort, ohne auch nur eine Sekunde von
seiner Arbeit aufzusehen, "einst ein berØhmter RaubmÃrder in Prag. - Viele
Jahre betrieb er sein schÄndliches Handwerk, ohne dañ es jemand bemerkt
hÄtte. Nach und nach jedoch fiel es in den besseren Familien auf, dañ bald
dieses, bald jenes Mitglied der Sippe beim Essen fehlte und sich nie wieder
blicken lieñ. Wenn man auch anfangs nichts sagte, da die Sache gewissermañen
ihre guten Seiten hatte, indem man weniger zu kochen brauchte, so durfte
wiederum nicht auñer acht gelassen werden, dañ das Ansehen in der
Gesellschaft leicht darunter leiden und man ins Gerede kommen konnte.
Besonders, wenn es sich um das spurlose Verschwinden mannbarer TÃchter
handelte.
øberdies verlangte die Hochachtung vor sich selbst, dañ man auf ein
bØrgerliches Zusammenleben in der Familie nach auñen hin das nÃtige Gewicht
legte.
Die Zeitungsrubriken: "Kehre zurØck, alles ist verziehen" wuchsen immer
mehr und mehr, - ein Umstand, den Babinski, leichtsinnig wie die meisten
BerufsmÃrder, in seine Berechnungen nicht einbezogen hatte, - und erregten
schlieñlich die allgemeine Aufmerksamkeit.
In dem lieblichen DÃrfchen Krtsch bei Prag hatte sich Babinski, der
innerlich ein ausgesprochen idyllischer Charakter war, mit der Zeit durch
seine unverdrossene TÄtigkeit ein kleines, aber trautes Heim geschaffen. Ein
HÄuschen, blitzend vor Sauberkeit, und ein GÄrtchen davor mit blØhenden
Geranien.
Da es ihm seine EinkØnfte nicht gestatteten, sich zu vergrÃñern, sah er
sich genÃtigt, um die Leichen seiner Opfer unauffÄllig bestatten zu kÃnnen,
statt eines Blumenbeetes - wie er es gern gesehen hÄtte - einen
grasbewachsenen und schlichten, aber, den UmstÄnden angemessen: zweckmÄñigen
GrabhØgel anzulegen, der sich mØhelos verlÄngern lieñ, wenn es der Betrieb
oder die Saison erforderte.
Auf dieser WeihestÄtte pflegte Babinski allabendlich nach des Tages
Last und MØhen in den Strahlen der untergehenden Sonne zu sitzen und auf
seiner FlÃte allerlei schwermØtige Weisen zu blasen." - -
"Halt!" unterbrach Josua Prokop rauh, zog einen HausschlØssel aus der
Tasche, hielt ihn wie eine Klarinette an den Mund und sang:
"Zimzerlim zambusla - deh."
"Waren Sie denn dabei, dañ Sie die Melodie so genau kennen?", fragte
Vrieslander erstaunt.
Prokop warf ihm einen bitterbÃsen Blick zu: "Nein. Dazu hat Babinski zu
frØh gelebt. Aber was er gespielt haben kann, muñ ich als Komponist doch am
besten wissen. Ihnen steht darØber kein Urteil zu: Sie sind nicht
musikalisch. - - Zimzerlim - zambusla - busla - deh."
Zwakh hÃrte ergriffen zu, bis Prokop seinen HausschlØssel wieder
einsteckte, und fuhr dann fort:
"Das bestÄndige Wachsen des HØgels erweckte allmÄhlich Verdacht bei den
Anrainern, und einem Polizeimann aus der Vorstadt Zizkov, der gelegentlich
von weitem zusah, wie Babinski gerade eine alte Dame der guten Gesellschaft
erwØrgte, gebØhrt das Verdienst, dem selbstsØchtigen Treiben des Unholdes
ein fØr allemal Schranken gesetzt zu haben:
Man verhaftete Babinski in seinem Tuskulum.
Der Gerichtshof verurteilte ihn unter Zubilligung des mildernden
Umstandes eines ansonsten trefflichen Leumundes zum Tode durch den Strang
und beauftragte zugleich die Firma GebrØder Leipen - Seilwaren en gros und
en detail - die nÃtigen Hinrichtungsutensilien, soweit diese in ihre Branche
fielen, unter Anrechnung ziviler Preise einem hohen StaatsÄrar gegen
Quittung auszuhÄndigen.
Nun fØgte es sich aber, dañ der Strick riñ und Babinski zu
lebenslÄnglichem GefÄngnis begnadigt wurde.
Zwanzig Jahre verbØñte der RaubmÃrder hinter den Mauern von Sankt
Pankraz, ohne dañ je ein Vorwurf Øber seine Lippen gekommen wÄre; - noch
heute ist der Beamtenstab des Institutes voll Lob Øber seine vorbildliche
AuffØhrung, ja, man gestattete ihm sogar, an den Geburtstagen unseres
AllerhÃchsten Landesherrn ab und zu die FlÃte zu blasen; -"
Prokop suchte sofort wieder nach seinem HausschlØssel, aber Zwakh
wehrte ihm.
"- infolge allgemeiner Amnestie wurde dem Babinski der Rest der Strafe
nachgesehen, und er bekam die Stelle eines PfÃrtners im Kloster der
›Barmherzigen Schwestern‹.
Die leichte Gartenarbeit, die er nebenbei mit zu versehen hatte, ging
ihm dank der groñen, wÄhrend seines frØheren Wirkungskreises erworbenen
Geschicklichkeit im Gebrauch des Spatens hurtig von der Hand, so dañ ihm
hinlÄnglich Muñe blieb, Herz und Geist an guter, sorgfÄltig ausgewÄhlter
LektØre zu lÄutern.
Die daraus resultierenden Folgen waren hocherfreulich.
Sooft ihn die Oberin Samstagabends ins Wirtshaus schickte, damit er
sein GemØt ein wenig erheitere, jedesmal kam er pØnktlich vor Anbruch der
Nacht nach Hause mit dem Hinweis, der Verfall der allgemeinen Moral stimme
ihn trØbe und soviel lichtscheues Gesindel schlimmster Sorte mache die
Landstrañe unsicher, dañ es fØr jeden Friedliebenden ein Gebot der Klugheit
sei, rechtzeitig die Schritte heimwÄrts zu lenken.
Es war nun damaliger Zeit in Prag bei den Wachsziehern die Unsitte
eingerissen, kleine FigØrchen feilzuhalten, die ein rotes Manterle umhÄngen
hatten und den RaubmÃrder Babinski darstellten.
Wohl in keiner der leidtragenden Familien fehlte ein solches.
GewÃhnlich aber standen sie in den LÄden unter GlasstØrzen, und Øber
nichts konnte sich Babinski so empÃren, als wenn er eines derartigen
Wachsbildes ansichtig wurde.
›Es ist im hÃchsten Grade unwØrdig und zeugt von einer GemØtsroheit
sondersgleichen, einem Menschen bestÄndig die Verfehlungen seiner Jugendzeit
vor Augen zu fØhren,‹ pflegte Babinski in solchen FÄllen zu sagen ›und es
ist tief zu bedauern, dañ von Seiten der Obrigkeit nichts geschieht, so
offenkundigem Unfug zu steuern.‹
Noch auf dem Totenbette Äuñerte er sich in Ähnlichem Sinne.
Nicht vergebens, denn bald darauf verfØgte die BehÃrde die Einstellung
des Handels mit den Ärgerniserregenden Babinskischen Statuetten." - - -
- - - Zwakh tat einen mÄchtigen Schluck aus seinem Grogglas und alle
drei grinsten wie die Teufel, dann wandte er vorsichtig den Kopf nach der
farblosen Kellnerin, und ich sah, wie sie eine TrÄne im Auge zerdrØckte.
- "Na, und Sie geben nichts zum besten, auñer - natØrlich - dañ Sie aus
Dankbarkeit fØr den Øberstandenen Kunstgenuñ die Zeche berappen,
wertgeschÄtzter Kollege und Gemmenschneider?", fragte mich Vrieslander nach
einer langen Pause allgemeinen Tiefsinnes.
Ich erzÄhlte ihnen meine Wanderung durch den Nebel.
Als ich in der Schilderung zu der Stelle kam, wo ich das weiñe Haus
erblickt hatte, nahmen alle drei vor Spannung die Pfeifen aus den ZÄhnen,
und als ich schloñ, schlug Prokop mit der Faust auf den Tisch und rief:
"Das ist doch rein - -! Alle Sagen, die es gibt, erlebt dieser Pernath
am eigenen Kadaver. - A propos, der Golem von damals - Sie wissen: die Sache
hat sich aufgeklÄrt."
"Wieso aufgeklÄrt?" fragte ich baff.
"Sie kennen doch den verrØckten jØdischen Bettler ›Haschile‹? Nein? Nun
also: dieser Haschile war der Golem."
"Ein Bettler der Golem?"
"Jawohl, der Haschile war der Golem. Heute nachmittag ging das Gespenst
seelenvergnØgt bei hellichtem Sonnenschein in seinem berØchtigten
altmodischen Anzug aus dem XVII. Jahrhundert durch die Salnitergasse
spazieren, und da hat es der Schinder mit einer Hundeschlinge glØcklich
eingefangen."
"Was soll das heiñen? Ich verstehe kein Wort!" fuhr ich auf.
"Ich sage Ihnen doch: der Haschile war es! Er hat die Kleider, hÃre
ich, vor lÄngerer Zeit hinter einem Haustor gefunden. - øbrigens, um auf das
weiñe Haus auf der Kleinseite zurØckzukommen: die Sache ist furchtbar
interessant. Es geht nÄmlich eine alte Sage, dañ dort oben in der
Alchimistengasse ein Haus steht, das nur bei Nebel sichtbar wird, und auch
da bloñ ›Sonntagskindern‹. Man nennt es ›die Mauer zur letzten Laterne‹. Wer
bei Tag hinaufgeht, sieht dort nur einen groñen, grauen Stein, - dahinter
stØrzt es jÄh ab in die Tiefe in den Hirschgraben, und Sie kÃnnen von GlØck
sagen, Pernath, dañ Sie keinen Schritt weiter gemacht haben: Sie wÄren
unfehlbar hinuntergefallen und hÄtten sÄmtliche Knochen gebrochen.
Unter dem Stein, heiñt es, ruht ein riesiger Schatz, und er soll von
dem Orden der ›Asiatischen BrØder‹, die angeblich Prag gegrØndet haben, als
Grundstein fØr ein Haus gelegt worden sein, das dereinst am Ende der Tage
ein Mensch bewohnen wird - besser gesagt ein Hermaphrodit - ein GeschÃpf,
das sich aus Mann und Weib zusammensetzt. Und der wird das Bild eines Hasen
im Wappen tragen, - nebenbei: der Hase war das Symbol des Osiris, und daher
stammt wohl die Sitte mit dem Osterhasen.
Bis die Zeit gekommen ist, heiñt es, hÄlt Methusalem in eigener Person
Wache an dem Ort, damit Satan nicht den Stein beflattert und einen Sohn mit
ihm zeugt: den sogenannten Armilos. - Haben Sie noch nie von diesem Armilos
erzÄhlen hÃren? - Sogar wie er aussehen wØrde, weiñ man - das heiñt, die
alten Rabbiner wissen es; - wenn er auf die Welt kÄme: Haare aus Gold wØrde
er haben, rØckwÄrts zum Schopf gebunden, dann: zwei Scheitel, sichelfÃrmige
Augen und Arme bis herunter zu den FØñen."
"Dieses Ehrengigerl sollte man aufzeichnen", brummte Vrieslander und
suchte nach einem Bleistift.
"Also: Pernath, wenn Sie einmal das GlØck haben sollten, ein
Hermaphrodit zu werden und en passant den vergrabenen Schatz zu finden,"
schloñ Prokop, "dann vergessen Sie nicht, dañ ich stets Ihr bester Freund
gewesen bin!"
- Mir war nicht zum Spañmachen zumute, und ich fØhlte ein leises Weh im
Herzen.
Zwakh mochte es mir ansehen, wenn er auch den Grund nicht wuñte, denn
er kam mir rasch zu Hilfe:
"Jedenfalls ist es hÃchst merkwØrdig, fast unheimlich, dañ Pernath
gerade eine Vision an jener Stelle hatte, die mit einer uralten Sage so eng
verknØpft ist. - Da sind ZusammenhÄnge, aus deren Umklammerung sich ein
Mensch anscheinend nicht befreien kann, wenn seine Seele die FÄhigkeit hat,
Formen zu sehen, die dem Tastsinn vorenthalten sind. - Ich kann mir nicht
helfen: das øbersinnliche ist doch das Reizvollste! - Was meint ihr?"
Vrieslander und Prokop waren ernst geworden, und jeder von uns hielt
eine Antwort fØr ØberflØssig.
"Was meinen Sie, Eulalia?" wiederholte Zwakh, zurØckgewendet, seine
Frage.
Die alte Kellnerin kratzte sich mit der Stricknadel am Kopf, seufzte,
errÃtete und sagte:
"Aber gÄhn' Sie! Sie sind mir ein Schlimmer."
"Eine verdammt gespannte Luft war heute den ganzen Tag Øber", fing
Vrieslander an, nachdem sich unser Heiterkeitsausbruch gelegt hatte, "nicht
einen Pinselstrich hab' ich fertiggebracht. FortwÄhrend hab' ich an die
Rosina denken mØssen, wie sie im Frack getanzt hat."
"Ist sie wieder aufgefunden worden?", fragte ich.
"›Aufgefunden‹ ist gut. Die Sittenpolizei hat sie doch fØr ein lÄngeres
Engagement gewonnen! - Vielleicht hat sie dem Herrn KommissÄr - damals ›beim
Loisitschek‹, ins Auge gestochen? Jedenfalls ist sie jetzt - fieberhaft
tÄtig und trÄgt wesentlich zur Hebung des Fremdenverkehrs in der Judenstadt
bei. Ein verflucht dralles Mensch ist sie Øbrigens schon geworden in der
kurzen Zeit."
"Wenn man bedenkt, was ein Weib aus einem Mann machen kann bloñ
dadurch, dañ sie ihn verliebt sein lÄñt in sich: es ist zum Staunen", warf
Zwakh hin. "Um das Geld aufzubringen, zu ihr gehen zu kÃnnen, ist der arme
Bursche, der Jaromir, Øber Nacht KØnstler geworden. Er geht in den
WirtshÄusern herum und schneidet Silhouetten fØr GÄste aus, die sich auf
diese Art portrÄtieren lassen."
Prokop, der den Schluñ ØberhÃrt hatte, schmatzte mit den Lippen:
"Wirklich? Ist sie so hØbsch geworden, die Rosina? - Haben Sie ihr
schon ein KØñchen geraubt, Vrieslander?"
Die Kellnerin sprang sofort auf und verlieñ indigniert das Zimmer.
"Das Suppenhuhn! Die hat's wahrhaftig nÃtig, - TugendanfÄlle! Pah!",
brummte Prokop Ärgerlich hinter ihr drein.
"Was wollen Sie, sie ist doch bei der unrichtigen Stelle abgegangen.
Und auñerdem war der Strumpf gerade fertig", beschwichtigte ihn Zwakh.
Der Wirt brachte neuen Grog und die GesprÄche fingen allmÄhlich an,
eine schwØle Richtung zu nehmen. Zu schwØl, als dañ sie mir nicht ins Blut
gegangen wÄren bei meiner fiebrigen Stimmung.
Ich strÄubte mich dagegen, aber je mehr ich mich innerlich abschloñ und
an Angelina zurØckdachte, um so heiñer brauste es mir in den Ohren.
Ziemlich unvermittelt verabschiedete ich mich.
Der Nebel war durchsichtiger geworden, sprØhte feine Eisnadeln auf
mich, war aber immer noch so dicht, dañ ich die Strañentafeln nicht lesen
konnte und von meinem Heimweg um ein geringes abkam.
Ich war in eine andere Gasse geraten und wollte eben umkehren, da hÃrte
ich meinen Namen rufen:
"Herr Pernath! Herr Pernath!"
Ich blickte um mich, in die HÃhe:
Niemand!
Ein offenes Haustor, darØber diskret eine kleine, rote Laterne, gÄhnte
neben mir auf, und eine helle Gestalt - schien mir - stand tief im Flur
darin.
Wieder: "Herr Pernath! Herr Pernath!" Im FlØsterton.
Ich trat erstaunt in den Gang, - da schlangen sich warme Frauenarme um
meinen Hals, und ich sah bei dem Lichtstrahl, der aus einem sich langsam
Ãffnenden TØrspalt fiel, dañ es Rosina war, die sich heiñ an mich preñte.
Ein grauer, blinder Tag.
Bis tief in den Morgen hinein hatte ich geschlafen, traumlos,
bewuñtlos, wie ein Scheintoter.
Meine alte Bedienerin war ausgeblieben oder hatte vergessen
einzuheizen.
Kalte Asche lag im Ofen.
Staub auf den MÃbeln.
Der Fuñboden nicht gekehrt.
FrÃstelnd ging ich auf und ab.
WiderwÄrtiger Geruch nach ausgeatmetem Fusel lag im Zimmer. Mein
Mantel, meine Kleider stanken nach altem Tabakrauch.
Ich riñ das Fenster auf, schloñ es wieder: - der kalte, schmutzige
Hauch von der Strañe war unertrÄglich.
Spatzen mit durchnÄñtem Gefieder hockten regungslos drauñen auf den
Dachrinnen.
Wohin ich blickte, miñfarbene Verdrossenheit. Alles in mir war
zerrissen, zerfetzt.
Das Sitzpolster auf dem Lehnstuhl - wie fadenscheinig es war! Die
Roñhaare quollen hervor aus den RÄndern.
Man muñte es zum Tapezierer schicken - - ach was, sollte es so bleiben
- noch ein Ãdes Menschenleben hindurch, bis alles zu Gerumpel zerfiel!
Und dort, welch geschmackloser, zweckwidriger Plunder, diese
Zwirnlappen an den Fenstern!
Warum drehte ich sie nicht zu einem Strick und erhenkte mich daran?!
Dann brauchte ich diese augenverletzenden Dinge wenigstens nie mehr zu
sehen, und der ganze graue, zermØrbende Jammer war vorØber - ein fØr
allemal.
Ja! Das war das gescheiteste! Ein Ende machen.
Heute noch.
Jetzt noch - vormittags. Gar nicht erst zum Essen gehen. - Ein
ekelhafter Gedanke, mit vollem Magen sich aus der Welt zu schaffen! In der
nassen Erde liegen und unverdaute, verfaulende Speisen in sich zu haben.
Wenn nur nie wieder die Sonne scheinen wollte und ihre freche LØge von
der Freude des Daseins einem ins Herz funkeln.
Nein! ich lieñ mich nicht mehr narren, wollte nicht lÄnger der
Spielball sein eines tÄppischen, zwecklosen Schicksals, das mich emporhob
und dann wieder in PfØtzen stieñ, bloñ damit ich die VergÄnglichkeit alles
Irdischen einsehen sollte, etwas, was ich lÄngst wuñte, was jedes Kind weiñ,
jeder Hund auf der Strañe weiñ.
Arme, arme Mirjam! Wenn ich ihr wenigstens helfen kÃnnte.
Es hieñ, einen Entschluñ fassen, einen ernsten, unabÄnderlichen
Beschluñ, bevor der verfluchte Trieb zum Dasein wieder in mir erwachen
konnte und mir neue Trugbilder vorgaukeln.
Wozu hatten sie mir denn gedient: alle diese Botschaften aus dem Reich
des Unverweslichen?
Zu nichts, zu gar, gar nichts.
Nur dazu vielleicht, dañ ich im Kreis herumgetaumelt war und jetzt die
Erde als unmÃgliche Qual empfand.
Da gab es nur noch eins.
Ich rechnete im Kopf zusammen, wieviel Geld ich auf der Bank liegen
hatte.
Ja, nur so ging es. Das war noch das Einzige, Winzige, was von meinen
nichtigen Taten im Leben irgendeinen Wert haben konnte!
Alles, was ich besañ - die paar Edelsteine in der Schublade dazu, -
zusammenschnØren in ein Paket und es Mirjam schicken. Ein paar Jahre
wenigstens wØrde es die Sorge ums tÄgliche Leben von ihr nehmen. Und einen
Brief an Hillel schreiben, in dem ich ihm sagte, wie es um sie stand mit dem
"Wunder".
Er allein konnte ihr helfen.
Ich fØhlte: ja, er wØrde Rat wissen fØr sie.
Ich suchte die Steine zusammen, steckte sie ein, sah auf die Uhr: wenn
ich jetzt auf die Bank ging - in einer Stunde konnte alles in Ordnung
gebracht sein.
Und dann noch einen Strauñ roter Rosen kaufen fØr Angelina! - - - - es
schrie auf in mir vor Weh und wilder Sehnsucht. - Nur noch einen Tag, einen
einzigen Tag mÃchte ich leben!
Um dann abermals dieselbe wØrgende Verzweiflung mitmachen zu mØssen?
Nein, nicht eine einzige Minute mehr warten! Es kam wie Befriedigung
Øber mich, dañ ich mir nicht nachgegeben hatte.
Ich blickte umher. Blieb mir noch etwas zu tun?
Richtig: die Feile dort. Ich steckte sie in die Tasche, - wollte sie
fortwerfen irgendwo auf der Gasse, wie ich es mir neulich schon vorgenommen.
Ich hañte die Feile! Wieviel hatte gefehlt, und ich wÄre zum MÃrder
geworden durch sie.
Wer kam mich denn da wieder stÃren?
Es war der TrÃdler.
"Nur en Augenblick, Herr von Pernath", bat er fassungslos, als ich ihm
bedeutete, dañ ich keine Zeit hÄtte. "Nur en ganz en kurzen Augenblick. Nur
Ä paar Worte."
Der Schweiñ lief ihm Øbers Gesicht, und er zitterte vor Aufregung.
"Kann man hier auch ungestÃrt mit Ihnen sprechen, Herr von Pernath? Ich
mÃcht' nicht, dañ der - der Hillel wieder hereinkommt. Sperren Sie doch
lieber die TØr ab, oder geh'mer besser ins Nebenzimmer", - er zog mich in
seiner gewohnten, heftigen Art hinter sich drein.
Dann sah er sich ein paarmal scheu um und flØsterte heiser:
"Ich hab mir's Øberlegt, wissen Sie, - das von neilich. Es is besser
so. Es kommt nix hereaus dabei. Gut. VorØber is vorØber."
Ich suchte in seinen Augen zu lesen.
Er hielt meinen Blick aus, krampfte aber die Hand in die Stuhllehne,
solche Anstrengung kostete es ihn.
"Das freut mich, Herr Wassertrum," sagte ich, so freundlich ich konnte,
"das Leben ist zu trØb, als dañ man es sich gegenseitig noch mit Hañ
verbittern sollte."
"Rein, als ob man ein gedrØcktes Buch reden hÃrt," grunzte er
erleichtert, wØhlte in seinen Hosentaschen und zog wieder die goldene Uhr
mit den verbogenen Sprungdeckeln hervor, "und damit Sie sehen, ich mein's
ehrlich, mØssen Sie die Kleinigkeit da von mir annehmen. Als Geschenk."
"Was fÄllt Ihnen denn ein," wehrte ich ab, "Sie werden doch wohl nicht
glauben -", da fiel mir ein, was Mirjam Øber ihn gesagt hatte, und ich
streckte ihm die Hand hin, um ihn nicht zu krÄnken.
Er achtete nicht darauf, wurde plÃtzlich weiñ wie die Wand, lauschte
und rÃchelte:
"Da! Da! Hab' ich's doch gewuñt. Schon wieder der Hillel! Er klopft."
Ich horchte, ging ins andere Zimmer zurØck und zog zu seiner Beruhigung
die VerbindungstØr hinter mir halb zu.
Es war diesmal nicht Hillel. Charousek trat ein, legte, wie zum
Zeichen, dañ er wisse, wer nebenan sei, den Finger an die Lippen und
ØberschØttete mich in der nÄchsten Sekunde und ohne abzuwarten, was ich
sagen wØrde, mit einem Schwall von Worten:
"Oh, mein hochverehrter, liebwerter Meister Pernath, wie soll ich nur
die Worte finden, Ihnen meine Freude auszudrØcken, dañ ich Sie allein und
wohlauf zu Hause antreffe." - - - Er sprach wie ein Schauspieler, und seine
schwØlstige, unnatØrliche Redeweise stand in so krassem Gegensatz zu seinem
verzerrten Gesicht, dañ ich ein tiefes Grauen vor ihm empfand.
"Niemals hÄtte ich, Meister, es gewagt, in dem zerlumpten Zustande zu
Ihnen zu kommen, in dem Sie mich gewiñ schon des Ãfteren auf der Strañe
erblickt haben, - doch, was sage ich: erblickt! haben Sie mir doch oft
huldreich die Hand gereicht.
Dañ ich heute vor Sie hintreten kann mit weiñem Kragen und in sauberem
Anzug, - wissen Sie, wem ich es verdanke? Einem der edelsten und leider -
ach - meist verkannten Menschen unserer Stadt. RØhrung Øbermannt mich, wenn
ich seiner gedenke.
Selber in bescheidenen VerhÄltnissen, hat er dennoch eine offene Hand
fØr Arme und BedØrftige. Von jeher, wenn ich ihn traurig vor seinem Laden
stehen sah, trieb es mich aus tiefstem Herzen heraus, zu ihm zu treten und
ihm stumm die Hand zu drØcken.
Vor einigen Tagen rief er mich an, als ich vorØberging, schenkte mir
Geld und versetzte mich dadurch in die Lage, mir gegen Ratenzahlung einen
Anzug kaufen zu kÃnnen.
Und wissen Sie, Meister Pernath, wer mein WohltÄter war? -
Mit Stolz sage ich es, denn ich war von jeher der einzige, der geahnt
hat, welch goldenes Herz in seinem Busen schlÄgt: Es war - Herr Aaron
Wassertrum!" - -
- - Ich verstand natØrlich, dañ Charousek seine KomÃdie auf den
TrÃdler, der nebenan lauschte, gemØnzt hatte, wenn mir auch unklar blieb,
was er damit bezweckte; keinesfalls schien mir die allzuplumpe Schmeichelei
geeignet, den miñtrauischen Wassertrum hinters Licht zu fØhren. Charousek
erriet offenbar aus meiner bedenklichen Miene, was ich dachte, schØttelte
grinsend den Kopf, und auch seine nÄchsten Worte sollten mir wahrscheinlich
sagen, dañ er seinen Mann genau kenne und wisse, wie dick er auftragen
dØrfe.
"Jawohl! Herr - Aaron - Wassertrum! Es drØckt mir fast das Herz ab, dañ
ich ihm nicht selbst sagen kann, wie unendlich dankbar ich ihm bin, und
beschwÃre Sie, Meister, verraten Sie ihm niemals, dañ ich hier war und Ihnen
alles erzÄhlt habe. - Ich weiñ, die Selbstsucht der Menschen hat ihn
verbittert und tiefes, unheilbares - ach, leider nur zu gerechtfertigtes
Miñtrauen in seine Brust gepflanzt.
Ich bin Seelenarzt, aber auch mein GefØhl sagt mir, es ist am besten:
Herr Wassertrum erfÄhrt nie - auch aus meinem Munde nicht - wie hoch ich von
ihm denke. - Es hieñe das: Zweifel in sein unglØckliches Herz sÄen. Und das
sei ferne von mir. Lieber soll er mich fØr undankbar halten.
Meister Pernath! Ich bin selbst ein UnglØcklicher und weiñ von
Kindesbeinen an, was es heiñt, einsam und verlassen in der Welt zu stehen!
Ich kenne nicht einmal den Namen meines Vaters. Auch mein MØtterlein habe
ich niemals von Angesicht zu Angesicht gesehen. Sie muñ frØhzeitig gestorben
sein -" Charouseks Stimme wurde seltsam geheimnisvoll und eindringlich, -
"und war, wie ich bestimmt glaube, eine jener tiefseelisch angelegten
Naturen, die nie sagen kÃnnen, wie unendlich sie lieben, und zu denen auch
Herr Aaron Wassertrum gehÃrt.
Ich besitze eine abgerissene Seite aus dem Tagebuch meiner Mutter - ich
trage das Blatt bestÄndig auf der Brust - und darin steht, dañ sie meinen
Vater, obschon er hÄñlich gewesen sein soll, geliebt hat, wie wohl noch nie
ein sterbliches Weib auf Erden einen Mann geliebt hat.
Dennoch scheint sie es nie gesagt zu haben. - Vielleicht aus Ähnlichen
GrØnden, weshalb ich z. B. Herrn Wassertrum nicht sagen kÃnnte - und wenn
mir das Herz darØber brÄche - was ich fØr ihn an Dankbarkeit fØhle.
Aber noch eins geht aus dem Tagebuchblatt hervor, wenn ich es auch nur
erraten kann, denn die SÄtze sind fast unleserlich vor TrÄnenspuren: mein
Vater - sein Andenken mÃge vergehen im Himmel und auf Erden! - muñ
scheuñlich an meiner Mutter gehandelt haben."
- Charousek fiel plÃtzlich auf die Knie, dañ der Boden drÃhnte, und
schrie in so markerschØtternden TÃnen, dañ ich nicht wuñte, spielte er noch
immer KomÃdie oder war er wahnsinnig geworden:
"Du AllmÄchtiger, dessen Namen der Mensch nicht aussprechen soll, hier
auf meinen Knien liege ich vor Dir: verflucht, verflucht, verflucht sei mein
Vater in alle Ewigkeit!"
Er biñ das letzte Wort fÃrmlich entzwei und horchte eine Sekunde lang
mit aufgerissenen Augen.
Dann feixte er wie der Satan. Auch mir schien es, als hÄtte Wassertrum
nebenan leise gestÃhnt.
"Verzeihen Sie, Meister," fuhr Charousek nach einer Pause mit mimenhaft
erstickter Stimme fort, "verzeihen Sie, dañ es mich Øbermannt hat, aber es
ist mein Gebet frØh und spÄt, der AllmÄchtige wolle es fØgen, dañ mein
Vater, wer immer er auch sein mÃge, dereinst das grÄñlichste Ende nehme, das
sich ausdenken lÄñt."
Ich wollte unwillkØrlich etwas erwidern, allein Charousek unterbrach
mich rasch:
"Doch jetzt, Meister Pernath, komme ich zu der Bitte, die ich Ihnen
vorzutragen habe:
Herr Wassertrum besañ einen SchØtzling, den er Øber die Mañen ins Herz
geschlossen hatte, - es dØrfte ein Neffe von ihm gewesen sein. Es heiñt
sogar, es sei sein Sohn gewesen, aber ich will es nicht glauben, denn sonst
hÄtte er doch denselben Namen getragen, in Wirklichkeit aber hieñ er:
Wassory, Dr. Theodor Wassory.
Die TrÄnen treten mir in die Augen, wenn ich ihn im Geiste vor mir
sehe. Ich war ihm aus ganzer Seele zugetan, als hÄtte mich ein unmittelbares
Band der Liebe und Verwandtschaft mit ihm verknØpft."
Charousek schluchzte, als kÃnne er vor Ergriffenheit kaum
weitersprechen.
"Ach, dañ dieser Edeling von der Erde gehen muñte! - Ach! Ach!
Was auch der Grund gewesen sein mag, - ich habe ihn nie erfahren, - er
hat sich selbst den Tod gegeben. Und ich war unter denen, die zu Hilfe
gerufen wurden - - ach, ach, zu spÄt - zu spÄt - zu spÄt! Und als ich dann
allein am Totenlager stand und seine kalte, bleiche Hand mit KØssen
bedeckte, da - warum soll ich es nicht eingestehen, Meister Pernath? - es
war ja doch kein Diebstahl - da nahm ich eine Rose von der Brust der Leiche
und eignete mir das FlÄschchen an, mit dessen Inhalt der UnglØckliche seinem
blØhenden Leben ein schnelles Ende bereitet hatte."
Charousek zog eine Medizinflasche hervor und fuhr bebend fort:
"Beides lege ich hier auf Ihren Tisch, die verdorrte Rose und die
Phiole; sie waren mir ein Andenken an meinen dahingegangenen Freund.
Wie oft in Stunden innerer Verlassenheit, wenn ich mir den Tod
herbeiwØnschte in der Einsamkeit meines Herzens und der Sehnsucht nach
meiner toten Mutter, spielte ich mit diesem FlÄschchen, und es gab mir einen
seligen Trost, zu wissen: ich brauchte nur die FlØssigkeit auf ein Tuch zu
gieñen und einzuatmen und schwebte schmerzlos hinØber in die Gefilde, wo
mein lieber, guter Theodor ausruht von den MØhsalen unseres Jammertales.
Und nun bitte ich Sie, hochverehrter Meister, - und deswegen bin ich
hergekommen - nehmen Sie beides und bringen Sie es Herrn Wassertrum.
Sagen Sie, Sie hÄtten es von jemandem bekommen, dem Dr. Wassory
nahestand, dessen Namen Sie jedoch gelobt hÄtten, nie zu nennen, -
vielleicht von einer Dame.
Er wird es glauben, und es wird ihm ein Andenken sein, wie es ein
teures Andenken fØr mich war.
Das soll der heimliche Dank sein, den ich ihm gebe. Ich bin arm und es
ist alles, was ich habe, aber es macht mich froh, zu wissen: beides wird
jetzt ihm gehÃren, und dennoch ahnt er nicht, dañ ich der Geber bin.
Es liegt darin zugleich auch fØr mich etwas unendlich SØñes.
Und jetzt leben Sie wohl, teurer Meister, und seien Sie im voraus
vieltausendmal bedankt."
Er hielt meine Hand fest, zwinkerte und flØsterte mir, als ich noch
immer nicht verstand, kaum hÃrbar etwas zu.
"Warten Sie, Herr Charousek, ich werde Sie ein StØckchen
hinunterbegleiten", sagte ich mechanisch die Worte nach, die ich von seinen
Lippen las, und ging mit ihm hinaus.
Auf dem finsteren Treppenabsatz im ersten Stock blieben wir stehen, und
ich wollte mich von Charousek verabschieden.
"Ich kann mir denken, was Sie mit der KomÃdie bezweckt haben. - - Sie -
Sie wollen, dañ sich Wassertrum mit dem FlÄschchen vergiftet!" Ich sagte es
ihm ins Gesicht.
"Freilich", gab Charousek aufgerÄumt zu.
"Und dazu, glauben Sie, werde ich meine Hand bieten?"
"Durchaus nicht nÃtig."
"Aber ich sollte Wassertrum doch die Flasche bringen, sagten Sie
vorhin!"
Charousek schØttelte den Kopf:
"Wenn Sie jetzt zurØckgehen, werden Sie sehen, dañ er sie bereits
eingesteckt hat."
"Wie kÃnnen Sie das nur annehmen?", fragte ich erstaunt. "Ein Mensch
wie Wassertrum wird sich niemals umbringen, - ist viel zu feig dazu -
handelt nie nach plÃtzlichen Impulsen."
"Da kennen Sie das schleichende Gift der Suggestion nicht", unterbrach
mich Charousek ernst. "HÄtte ich in alltÄglichen Worten geredet, wØrden Sie
vielleicht recht behalten, aber auch den kleinsten Tonfall habe ich vorher
berechnet. Nur das widerlichste Pathos wirkt auf solche HundsfÃtter! Glauben
Sie mir! Sein Mienenspiel bei jedem meiner SÄtze hÄtte ich Ihnen hinzeichnen
kÃnnen. - Kein ›Kitsch‹ wie es die Maler nennen, ist niedertrÄchtig genug,
als dañ er nicht der bis ins Mark verlogenen Menge TrÄnen entlockte - sie
ins Herz trifft! Glauben Sie denn, man hÄtte nicht lÄngst sÄmtliche Theater
mit Feuer und Schwert ausgetilgt, wenn es anders wÄre? An der
SentimentalitÄt erkennt man die Kanaille. Tausende armer Teufel kÃnnen
verhungern, da wird nicht geweint, aber wenn ein Schminkkamel auf der Buhne,
als Bauerntrampel verkleidet, die Augen verdreht, dann heulen sie wie die
Schloñhunde. - - Wenn VÄterchen Wassertrum vielleicht auch morgen vergessen
hat, was ihm soeben noch - Herzjauche kostete: jedes meiner Worte wird
wieder in ihm lebendig werden, wenn die Stunden reifen, wo er sich selbst
unendlich bedauernswert vorkommt. - In solchen Momenten des groñen Misereres
bedarf es bloñ eines leisen Anstoñes, - und fØr den werde ich sorgen - und
selbst die feigste Pfote greift nach dem Gift. Es muñ nur zur Hand sein!
Theodorchen hÄtte wahrscheinlich auch nicht zugegrapst, wenn ich's ihm nicht
so bequem gemacht hÄtte."
"Charousek, Sie sind ein furchtbarer Mensch", rief ich entsetzt.
"Empfinden Sie denn gar kein - - -"
Er hielt mir schnell den Mund zu und drÄngte mich in eine Mauernische!
"Still! Da ist er!"
Mit taumelnden Schritten, sich an der Wand stØtzend, kam Wassertrum die
Stiege herunter und wankte an uns vorØber.
Charousek schØttelte mir fluchtig die Hand und schlich ihm nach. - -
Als ich in mein Zimmer zurØckgekehrt war, sah ich, dañ die Rose und das
FlÄschchen verschwunden waren und an ihrer Stelle die goldene, zerbeulte Uhr
des TrÃdlers auf dem Tisch lag.
"Acht Tage mØsse ich warten, ehe ich mein Geld bekommen kÃnne; es sei
das die Øbliche KØndigungsfrist", hatte man mir auf der Bank gesagt.
Man solle den Direktor holen, denn ich sei in grÃñter Eile und gedÄchte
in einer Stunde abzureisen, hatte ich eine Ausrede gebraucht.
Er sei nicht zu sprechen und kÃnne an den Gepflogenheiten der Bank auch
nichts Ändern, hieñ es, und ein Kerl mit einem Glasauge, der zugleich mit
mir an den Schalter getreten war, hatte darØber gelacht.
Acht graue, furchtbare Tage auf den Tod sollte ich also warten!
Wie ein Zeitraum ohne Ende kam es mir vor. - - -
Ich war so niedergeschlagen, dañ ich mir gar nicht bewuñt wurde, wie
lange ich schon vor der TØre eines Kaffeehauses auf und nieder geschritten
sein mochte.
Endlich trat ich ein, bloñ um den widerwÄrtigen Kerl mit dem Glasauge
los zu werden, der mir von der Bank her nachgekommen war und sich immer in
meiner NÄhe hielt und, wenn ich ihn anblickte, sofort auf dem Boden
herumsuchte, als habe er etwas verloren.
Er hatte einen hellkarierten, viel zu engen Rock an und schwarze,
speckglÄnzende Hosen, die ihm wie SÄcke um die Beine schlotterten. Auf
seinem linken Stiefel war ein eifÃrmiger, gewÃlbter Lederfleck aufgesteppt,
dañ es aussah, als trØge er darunter einen Siegelring auf der Zehe.
Kaum hatte ich mich niedergesetzt, kam auch er herein und lieñ sich an
einem Nebentisch nieder.
Ich glaubte, er wolle mich anbetteln, und suchte schon nach meinem
Portemonnai, da sah ich einen groñen Brillanten an seinen wulstigen
Metzgerfingern aufblitzen.
Stunden und Stunden sañ ich in dem Kaffeehaus und glaubte vor innerer
NervositÄt wahnsinnig werden zu mØssen, - aber wohin sollte ich gehen? Nach
Hause? Herumschlendern? Eines schien mir grÄñlicher als das andere.
Die veratmete Luft, das ewige, alberne Klappen der Billardkugeln, das
trockene, unaufhÃrliche Gerausper eines halbblinden Zeitungstigers mir
gegenØber, ein storchbeiniger Infanteneleutnant, der abwechselnd in der Nase
bohrte oder sich mit gelben Zigarettenfingern vor einem Taschenspiegel den
Schnurrbart kÄmmte, ein braunsammetenes Gebrodel ekelhafter, verschwitzter,
schnatternder Italiener um den Kartentisch in der Ecke, die bald unter
gellem Gekreisch ihre Trumpfe mit dem Faustknochel hinschlugen, bald unter
Brecherscheinungen ins Zimmer spuckten. Und das alles in den Wandspiegeln
doppelt und dreifach sehen zu mØssen! Es sog mir langsam das Blut aus den
Adern. -
Es wurde allmÄhlich dunkel und ein plattfuñiger, knieweicher Kellner
tastete mit einer Stange nach den GaslØstern, um sich endlich kopfschØttelnd
zu Øberzeugen, dañ sie nicht brennen wollten.
So oft ich das Gesicht wandte, immer begegnete ich dem schielenden
Wolfsblick des GlasÄugigen, der sich dann jedesmal rasch hinter eine Zeitung
versteckte oder seinen schmutzigen Schnurrbart in die langst ausgetrunkene
Kaffeetasse tauchte.
Er hatte seinen steifen, runden Hut tief aufgestØlpt, dañ ihm die Ohren
fast waagerecht abstanden, machte aber keine Miene, aufzubrechen.
Es war nicht mehr auszuhalten.
Ich zahlte und ging.
Als ich die GlastØr hinter mir zumachen wollte, nahm mir jemand die
Klinke aus der Hand - Ich drehte mich um:
Wieder der Kerl!
ärgerlich wollte ich nach links biegen, in der Richtung der Judenstadt
zu, da drÄngte er sich an meine Seite und hinderte mich daran.
"Da hÃrt denn doch alles auf!" schrie ich ihn an.
"Nach rechts geht's," sagte er kurz.
"Was soll das heiñen?"
Er fixierte mich frech:
"Sie sind der Pernath!"
"Sie wollen wahrscheinlich sagen: Herr Pernath?"
Er lachte nur hÄmisch:
"Alsdann keine Faxen jetz! Sie gah'n Sie mit!"
"Ja, sind Sie toll? Wer sind Sie eigentlich?", fuhr ich auf.
Er gab keine Antwort, schlug seinen Rock zurØck und zeigte vorsichtig
auf einen abgeschabten Blechadler, der im Futter festgesteckt war.
Ich begriff: der Falott war Geheimpolizist und verhaftete mich.
"So sagen Sie doch, um Himmels willen, was ist denn los?"
"Sie werden sich's schonn erfahrrÄhn. Auf dem DÄpartemÄnt", erwiderte
er grob. "Alla marsch jetz!"
Ich schlug ihm vor, ich wollte einen Wagen nehmen.
"Nix da!"
Wir gingen zur Polizei.
Ein Gendarm fØhrte mich vor eine TØr.
ALOIS OTSCHIN
Polizeirat
las ich auf der Porzellantafel.
"Sie kÄnnen sich eintrÄtten", sagte der Gendarm.
Zwei schmierige Schreibtische mit meterhohen AufsÄtzen standen einander
gegenØber.
Ein paar verkraxte StØhle dazwischen.
Das Bild des Kaisers an der Wand.
Ein Glas mit Goldfischen auf dem Fensterbrett.
Sonst nichts im Zimmer.
Ein Klumpfuñ und daneben ein dicker Filzschuh unter zerfransten grauen
Hosen hinter dem linken Schreibpult.
Ich hÃrte rascheln. Jemand murmelte ein paar Worte in bÃhmischer
Sprache und gleich darauf tauchte der Herr Polizeirat aus dem rechten
Schreibtisch auf und trat vor mich hin.
Er war ein kleiner Mann mit grauem Spitzbart und hatte die sonderbare
Manier, bevor er anfing zu reden, die ZÄhne zu fletschen wie jemand, der in
grelles Sonnenlicht schaut.
Dabei kniff er die Augen hinter den Brillenglasern zusammen, was ihm
den Ausdruck furchterregender Niedertracht verlieh.
"Sie heiñen Athanasius Pernath und sind" - er blickte auf ein Blatt
Papier, auf dem nichts stand - "Gemmenschneider."
Sofort kam Leben in den Klumpfuñ unter dem anderen Schreibtisch: er
wetzte sich an dem Stuhlbein, und ich hÃrte das Rauschen einer Schreibfeder.
Ich bejahte:
"Pernath. Gemmenschneider."
"No, da sin wir ja gleich beisammen, Herr - - - Pernath, - jawohl
Pernath. Ja wohl ja." - Der Herr Polizeirat war mit einem Schlag von
erstaunlicher LiebenswØrdigkeit, als hÄtte er die erfreulichste Nachricht
von der Welt bekommen, streckte mir beide HÄnde entgegen und bemØhte sich in
lÄcherlicher Weise, die Miene eines Biedermannes aufzusetzen.
"Also, Herr Pernath, erzÄhlen Sie mir einmal, was treiben Sie so den
ganzen Tag?"
"Ich glaube, dañ Sie das nichts angeht, Herr Otschin", antwortete ich
kalt.
Er kniff die Augen zusammen, wartete einen Moment und fuhr blitzschnell
los:
"Seit wann hat die GrÄfin ihr VerhÄltnis mit dem Savioli?"
Ich war auf etwas ähnliches gefañt gewesen und zuckte nicht mit der
Wimper.
Er suchte mich geschickt durch Kreuz- und Querfragen in WidersprØche zu
verwickeln, aber, so sehr mir auch vor Entsetzen das Herz im Halse schlug,
ich verriet mich nicht und kam immer wieder darauf zurØck, dañ ich den Namen
Savioli nie gehÃrt hÄtte, mit Angelina von meinem Vater her befreundet sei,
und dañ sie schon Ãfter Kameen bei mir bestellt habe.
Ich fØhlte trotzdem genau, dañ der Polizeirat mir ansah, wie ich ihn
belog, und innerlich schÄumte vor Wut, nichts aus mir herausbekommen zu
kÃnnen.
Er dachte eine Weile nach, dann zog er mich am Rock dicht an sich,
deutete warnend mit dem Daumen auf den linken Schreibtisch und flØsterte mir
ins Ohr:
"Athanasius! Ihr seliger Vater war mein bester Freund. Ich will Sie
retten, Athanasius! Aber Sie mØssen mir alles sagen Øber die GrÄfin. - HÃren
Sie: alles."
Ich begriff nicht, was das bedeuten sollte. "Was meinen Sie damit: Sie
wollen mich retten?", fragte ich laut.
Der Klumpfuñ stampfte Ärgerlich auf den Boden. Der Polizeirat wurde
aschgrau im Gesicht vor Hañ. Zog die Lippe empor. Wartete. - Ich wuñte, dañ
er gleich wieder losspringen wØrde; (sein VerblØffungssystem erinnerte mich
an Wassertrum) und wartete ebenfalls, - sah, dañ ein Bocksgesicht, der
Inhaber des Klumpfuñes, lauernd hinter dem Schreibpulte auftauchte - - dann
schrie mich der Polizeirat plÃtzlich gellend an:
"MÃrder".
Ich war sprachlos vor VerblØffung.
Miñmutig zog sich das Bocksgesicht wieder hinter sein Pult zurØck.
Auch der Herr Polizeirat schien ziemlich betreten Øber meine Ruhe,
versteckte es aber geschickt, indem er einen Stuhl herbeizog und mich
aufforderte, Platz zu nehmen.
"Sie verweigern also, Øber die GrÄfin die von mir gewØnschte Auskunft
zu geben, Herr Pernath?"
"Ich kann sie nicht geben, Herr Polizeirat, wenigstens nicht in dem
Sinne, wie Sie erwarten. Erstens kenne ich niemand namens Savioli, und dann
bin ich felsenfest Øberzeugt, dañ es eine Verleumdung ist, wenn man der
GrÄfin nachsagt, sie hintergehe ihren Gatten."
"Sind Sie bereit, das zu beeiden?"
Mir stockte der Atem. "Ja! Jederzeit."
"Gut. Hm."
Eine lÄngere Pause entstand, wÄhrend der Polizeirat angestrengt
nachzugrØbeln schien.
Als er mich wieder anblickte, lag ein komÃdiantenhafter Zug von
Schmerzlichkeit in seiner Fratze. UnwillkØrlich muñte ich an Charousek
denken, wie er dann mit trÄnenerstickter Stimme anfing:
"Mir kÃnnen Sie es doch sagen, Athanasius, - mir, dem alten Freund
Ihres Vaters - mir, der Sie auf den Armen getragen hat -" ich konnte das
Lachen kaum verbeiñen: er war hÃchstens zehn Jahre Älter als ich - "nicht
wahr, Athanasius, es war Notwehr?"
Das Bocksgesicht erschien abermals.
"Was war Notwehr?", fragte ich verstÄndnislos.
"Das mit dem - - - Zottmann!" schrie mir der Polizeirat einen Namen ins
Gesicht.
Das Wort traf mich wie ein Dolchstich: Zottmann! Zottmann! Die Uhr! Der
Name Zottmann stand doch in der Uhr eingraviert.
Ich fØhlte, wie mir alles Blut zum Herzen strÃmte: Der grauenhafte
Wassertrum hatte mir die Uhr gegeben, um den Verdacht des Mordes auf mich zu
lenken.
Sofort warf der Polizeirat die Maske ab, fletschte die ZÄhne und kniff
die Augen zusammen:
"Sie gestehen also den Mord ein, Pernath?"
"Das ist alles ein Irrtum. Ein entsetzlicher Irrtum. Um Gottes willen
hÃren Sie mich an. Ich kann es Ihnen erklÄren, Herr Polizeirat - -!", schrie
ich.
"Werden Sie mir jetzt alles mitteilen in bezug auf die Frau GrÄfin",
unterbrach er mich rasch: "ich mache Sie aufmerksam: Sie verbessern Ihre
Lage damit."
"Ich kann nicht mehr sagen, als bereits geschehen ist: die GrÄfin ist
unschuldig."
Er biñ die ZÄhne zusammen und wandte sich an das Bocksgesicht:
"Schreiben Sie: - Also, Pernath gesteht den Mord an dem
Versicherungsbeamten Karl Zottmann ein."
Mich packte eine besinnungslose Wut.
"Sie Polizeikanaille!" brØllte ich los, "was unterstehen Sie sich?!"
Ich suchte nach einem schweren Gegenstand.
Im nÄchsten Augenblick hatten mich zwei Schutzleute gepackt und mir
Handschellen angelegt.
Der Polizeirat blÄhte sich jetzt wie der Hahn auf dem Mist:
"Und die Uhr da?", - er hielt plÃtzlich die verbeulte Uhr in der Hand,
- "hat der unglØckliche Zottmann noch gelebt, als Sie ihn beraubten, oder
nicht?"
Ich war wieder ganz ruhig geworden und gab mit klarer Stimme zu
Protokoll: "Die Uhr hat mir heute vormittag der TrÃdler Aaron Wassertrum -
geschenkt."
Ein wieherndes GelÄchter brach los, und ich sah, wie der Klumpfuñ und
der Filzpantoffel mitsammen einen Freudentanz unter dem Schreibtisch
auffØhrten.
Die HÄnde gefesselt, hinter mir ein Gendarm mit aufgepflanztem
Bajonett, muñte ich durch die abendlich beleuchteten Strañen gehen.
Gassenjungen zogen in Scharen johlend links und rechts mit, Weiber
rissen die Fenster auf, drohten mit KochlÃffeln herunter und schimpften
hinter mir drein.
Schon von weitem sah ich den massigen SteinwØrfel des GerichtsgebÄudes
mit der Inschrift auf dem Giebel herannahen:
"Die strafende Gerechtigkeit ist die Beschirmung aller Braven."
Dann nahm mich ein riesiges Tor auf und ein Flurzimmer, in dem es nach
KØche stank.
Ein vollbÄrtiger Mann mit SÄbel, Beamtenrock und -mØtze, barfuñ und die
Beine in langen, um die KnÃchel zusammengebundenen Unterhosen, stand auf,
stellte die KaffeemØhle, die er zwischen den Knien hielt, weg und befahl
mir, mich auszuziehen.
Dann visitierte er meine Taschen, nahm alles heraus, was er darin fand,
und fragte mich, ob ich - Wanzen hÄtte.
Als ich verneinte, zog er mir die Ringe von den Fingern und sagte, es
sei gut, ich kÃnnte mich wieder ankleiden.
Man fØhrte mich mehrere Stockwerke hinauf und durch GÄnge, in denen
vereinzelt groñe, graue, verschlieñbare Kisten in den Fensternischen
standen.
Eiserne TØren mit Riegelstangen und kleinen, vergitterten Ausschnitten,
Øber jedem eine Gasflamme, zogen sich in ununterbrochener Reihe die Wand
entlang.
Ein hØnenhafter, soldatisch aussehender GefangenwÄrter - das erste
ehrliche Gesicht seit Stunden - sperrte eine der TØren auf, schob mich in
eine dunkle, schrankartige, pestilenzialisch stinkende ãffnung und schloñ
hinter mir ab.
Ich stand in vollkommener Finsternis und tappte mich zurecht.
Mein Knie stieñ an einen BlechkØbel.
Endlich erwischte ich - der Raum war so eng, dañ ich mich kaum umdrehen
konnte - eine Klinke, und stand in - einer Zelle.
Je zwei und zwei Pritschen mit StrohsÄcken an den Mauern.
Der Durchgang dazwischen nur einen Schritt breit.
Ein Quadratmeter Gitterfenster hoch oben in der Querwand lieñ den
matten Schein des Nachthimmels herein.
UnertrÄgliche Hitze, vom Geruch alter Kleider verpestete Luft erfØllte
den Raum.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewÃhnt hatten, sah ich, dañ auf
drei der Pritschen - die vierte war leer - Menschen in grauen
StrÄflingskleidern sañen; die Arme auf die Knie gestØtzt und die Gesichter
in den HÄnden vergraben.
Keiner sprach ein Wort.
Ich setzte mich auf das leere Bett und wartete. Wartete. Wartete.
Eine Stunde.
Zwei - drei Stunden!
Wenn ich drauñen einen Schritt zu hÃren glaubte, fuhr ich auf:
Jetzt, jetzt kam man mich holen, um mich dem Untersuchungsrichter
vorzufØhren.
Jedesmal war es eine TÄuschung gewesen. Immer wieder verloren sich die
Schritte auf dem Gang.
Ich riñ mir den Kragen auf - glaubte, ersticken zu mØssen.
Ich hÃrte, wie ein Gefangener nach dem andern sich Ächzend ausstreckte.
"Kann man denn das Fenster da oben nicht aufmachen?", fragte ich voll
Verzweiflung laut in die Dunkelheit hinein. Ich erschrak fast vor meiner
eigenen Stimme.
"Es geht net", antwortete es mØrrisch von einem der StrohsÄcke herØber.
Ich tastete trotzdem mit der Hand an der Schmalwand entlang: ein Brett
in BrusthÃhe lief quer hin - - - zwei WasserkrØge - - - StØcke von
Brotrinden.
MØhsam kletterte ich hinauf, hielt mich an den GitterstÄben und preñte
das Gesicht an die Fensterritzen, um wenigstens etwas frische Luft zu atmen.
So stand ich, bis mir die Knie zitterten. EintÃniger, schwarzgrauer
Nachtnebel vor meinen Augen.
Die kalten EisenstÄbe schwitzten.
Es muñte bald Mitternacht sein.
Hinter mir hÃrte ich schnarchen. Nur einer schien nicht schlafen zu
kÃnnen: er warf sich hin und her auf dem Stroh und stÃhnte manchmal halblaut
auf.
Wollte denn der Morgen nicht endlich kommen?! Da! Es schlug wieder.
Ich zÄhlte mit bebenden Lippen:
Eins, zwei, drei! - Gott sei Dank, nur noch wenige Stunden, dann muñte
die DÄmmerung kommen. Es schlug weiter:
Vier? fØnf? - Der Schweiñ trat mir auf die Stirn. - Sechs!! - Sieben -
- - es war elf Uhr.
Erst eine Stunde war vergangen, seit ich das letzte Mal hatte schlagen
hÃren.
AllmÄhlich legten sich meine Gedanken zurecht:
Wassertrum hat mir die Uhr des vermiñten Zottmann zugespielt, um mich
in Verdacht zu bringen, einen Mord begangen zu haben. - Er muñte also selbst
der MÃrder sein; wie hÄtte er sonst in den Besitz der Uhr kommen kÃnnen?
WØrde er die Leiche irgendwo gefunden und dann erst beraubt haben, hÄtte er
sich bestimmt die tausend Gulden Belohnung geholt, die fØr die Entdeckung
des Vermiñten Ãffentlich ausgesetzt waren. - Das konnte aber nicht sein: die
Plakate klebten noch immer an den Strañenecken, wie ich deutlich auf meinem
Weg ins GefÄngnis gesehen hatte. - - -
Dañ der TrÃdler mich angezeigt haben muñte, war klar.
Ebenso: dañ er mit dem Polizeirat, wenigstens was Angelina betraf,
unter einer Decke steckte. Wozu sonst das VerhÃr wegen Savioli?
Andererseits ging daraus hervor, dañ Wassertrum Angelinas Briefe noch
nicht in HÄnden hatte.
Ich grØbelte nach - - -
Mit einem Schlag stand alles mit entsetzlicher Deutlichkeit vor mir,
als wÄre ich selbst dabei gewesen.
Ja; nur so konnte es sein: Wassertrum hatte meine eiserne Kassette, in
der er Beweise vermutete, heimlich an sich genommen, als er gerade mit
seinen Polizeikomplizen meine Wohnung durchstÃberte, - konnte sie nicht
sogleich Ãffnen, da ich den SchlØssel bei mir trug, und war - - - vielleicht
gerade jetzt daran, sie in seiner HÃhle aufzubrechen.
In wahnsinniger Verzweiflung rØttelte ich an den GitterstÄben, sah
Wassertrum im Geiste vor mir, wie er in Angelinas Briefen wØhlte -
Wenn ich nur Charousek benachrichtigen kÃnnte, dañ er Savioli
wenigstens rechtzeitig warnen ging!
Einen Augenblick klammerte ich mich an die Hoffnung, meine Verhaftung
mØsse bereits wie ein Lauffeuer in der Judenstadt bekannt geworden sein, und
ich vertraute auf Charousek wie auf einen rettenden Engel. Gegen seine
infernalische Schlauheit kam der TrÃdler nicht auf; "Ich werde ihn genau in
der Stunde an der Gurgel haben, in der er Dr. Savioli an den Hals will",
hatte Charousek schon einmal gesagt.
In der nÄchsten Minute wieder verwarf ich alles, und eine wilde Angst
packte mich: Wie, wenn Charousek zu spÄt kam?
Dann war Angelina verloren. - - -
Ich biñ mir die Lippen blutig und zerkrallte mir die Brust aus Reue,
dañ ich die Briefe damals nicht sofort verbrannt hatte; - - - ich schwor es
mir zu, Wassertrum noch in derselben Stunde aus der Welt zu schaffen, wo ich
wieder auf freiem Fuñ sein wØrde.
Ob ich von eigener Hand starb oder am Galgen - was lag mir daran!
Dañ der Untersuchungsrichter meinen Worten glauben wØrde, wenn ich ihm
die Geschichte mit der Uhr plausibel machte, ihm von Wassertrums Drohungen
erzÄhlte, - keinen Augenblick zweifelte ich daran.
Bestimmt morgen schon muñte ich frei sein; zumindest wØrde das Gericht
auch Wassertrum wegen Mordverdachts verhaften lassen.
Ich zÄhlte die Stunden und betete, dañ sie rascher vergehen mÃchten;
starrte hinaus in den schwÄrzlichen Dunst.
Nach unsÄglich langer Zeit fing es endlich an, heller zu werden, und
zuerst wie ein dunkler Fleck, dann immer deutlicher, tauchte ein kupfernes,
riesiges Gesicht aus dem Nebel: das Zifferblatt einer alten Turmuhr. Doch
die Zeiger fehlten; - neuerliche Qual.
Dann schlug es fØnf.
Ich hÃrte, wie die Gefangenen erwachten und gÄhnend eine Unterhaltung
in bÃhmischer Sprache fØhrten.
Eine Stimme kam mir bekannt vor; ich drehte mich um, stieg von dem
Brett herunter und - sah den blatternarbigen Loisa auf der Pritsche,
gegenØber der meinigen, sitzen und mich verwundert anstarren.
Die beiden anderen waren Gesellen mit verwegenen Gesichtern und
musterten mich geringschÄtzig.
"Defraudant? Was?", fragte der eine halblaut seinen Kameraden und stieñ
ihn mit dem Ellenbogen an.
Der Gefragte brummte irgend etwas verÄchtlich, kramte in seinem
Strohsack, holte ein schwarzes Papier hervor und legte es auf den Boden.
Dann schØttete er aus dem Krug ein wenig Wasser darauf, kniete nieder,
bespiegelte sich darin und kÄmmte sich mit den Fingern das Haar in die
Stirn.
Hierauf trocknete er das Papier mit zÄrtlicher Sorgfalt ab und
versteckte es wieder unter der Pritsche.
"Pan Pernath, Pan Pernath", murmelte Loisa dabei bestÄndig mit
aufgerissenen Augen vor sich hin, wie jemand, der ein Gespenst sieht.
"Die Herrschaften kennen einand, wie ich bemerkÃ", sagte der
UngekÄmmte, dem dies auffiel, in dem geschraubten Dialekt eines
tschechischen Wieners und machte mir spÃttisch eine halbe Verbeugung:
"Erlaubens mich vorzustellen: VÕssatka ist mein Name. Der schwarze VÕssatka.
- Brandstiftung", setzte er eine Oktave tiefer stolz hinzu.
Der Frisierte spuckte zwischen den ZÄhnen durch, blickte mich eine
Weile verÄchtlich an, deutete sich dann auf die Brust und sagte lakonisch:
"Einbruch."
Ich schwieg.
"No, und zweng wos fØr einen Verdachtà sin Sie hier, Herr Graf?" fragte
der Wiener nach einer Pause.
Ich Øberlegte einen Moment, dann sagte ich ruhig: "Wegen Raubmord".
Die beiden fuhren verblØfft auf, der spÃttische Ausdruck auf ihren
Gesichtern machte einer Miene grenzenloser Hochachtung Platz, und sie riefen
fast wie aus einem Munde:
"RÄschpÄkt, RÄschpÄkt."
Als sie sahen, dañ ich keine Notiz von ihnen nahm, zogen sie sich in
die Ecke zurØck und unterhielten sich flØsternd miteinander.
Nur einmal stand der Frisierte auf, kam zu mir, prØfte schweigend die
Muskeln meines Oberarms und ging dann kopfschØttelnd zu seinem Freund
zurØck.
"Sie sind doch auch unter dem Verdacht hier, den Zottmann ermordet zu
haben?" fragte ich Loisa unauffÄllig.
Er nickte. "Ja, schon lang."
Wieder vergingen einige Stunden.
Ich schloñ die Augen und stellte mich schlafend.
"Herr Pernath. Herr Pernath!" hÃrte ich plÃtzlich ganz leise Loisas
Stimme.
"Ja?" - - - Ich tat, als erwachte ich.
"Herr Pernath?, bitte entschuldigen Sie, - bitte - bitte, wissen Sie
nicht, was die Rosina macht? - Ist sie zu Hause?", stotterte der arme
Bursche. Er tat mir unendlich leid, wie er mit seinen entzØndeten Augen an
meinen Lippen hing und vor Aufregung die HÄnde verkrampfte.
"Es geht ihr gut. Sie - sie ist jetzt Kellnerin beim - - alten Ungelt",
log ich.
Ich sah, wie er erleichtert aufatmete.
Zwei StrÄflinge hatten auf einem Brett BlechtÃpfe mit heiñem Wurstabsud
stumm hereingebracht und drei davon in die Zelle gestellt, dann knallten
nach einigen Stunden abermals die Riegel und der Aufseher fØhrte mich zum
Untersuchungsrichter.
Mir schlotterten die Knie vor Erwartung, wie wir treppauf, treppab
schritten.
"Glauben Sie, ist es mÃglich, dañ ich heute noch freigelassen werde?",
fragte ich den Aufseher beklommen.
Ich sah, wie er mitleidig ein LÄcheln unterdrØckte. "Hm. Heute noch? Hm
- - Gott, - mÃglich ist ja alles." -
Mir wurde eiskalt.
Wieder las ich eine Porzellantafel an einer TØr und einen Namen:
KARL FREIHERR VON LEISETRETER
Wieder ein schmuckloses Zimmer und zwei Schreibpulte mit meterhohen
AufsÄtzen.
Ein alter, groñer Mann mit weiñem, geteiltem Vollbart, schwarzem
Gehrock, roten, wulstigen Lippen, knarrenden Stiefeln.
"Sie sind Herr Pernath?"
"Jawohl."
"Gemmenschneider?"
"Jawohl."
"Zelle Nr. 70?"
"Jawohl."
"Des Mordes an Zottmann verdÄchtig?"
"Ich bitte, Herr Untersuchungsrichter - -"
"Des Mordes an Zottmann verdÄchtig?"
"Wahrscheinlich. Wenigstens vermute ich es. Aber - -"
"GestÄndig?"
"Was soll ich denn gestehen, Herr Untersuchungsrichter, ich bin doch
unschuldig!"
"GestÄndig?"
"Nein."
"Dann verhÄnge ich Untersuchungshaft Øber Sie. - FØhren Sie den Mann
hinaus, GefangenwÄrter."
"Bitte, so hÃren Sie mich doch an, Herr Untersuchungsrichter, - ich muñ
unbedingt heute noch zu Hause sein. Ich habe wichtige Dinge zu veranlassen -
-"
Hinter dem zweiten Schreibtisch meckerte jemand.
Der Herr Baron schmunzelte. -
"FØhren Sie den Mann hinaus, GefangenwÄrter."
Tag um Tag schlich dahin, Woche um Woche, und immer noch sañ ich in der
Zelle.
Um zwÃlf Uhr durften wir tÄglich hinunter in den GefÄngnishof und mit
anderen Untersuchungsgefangenen und StrÄflingen zu zweit 40 Minuten im Kreis
herumgehen auf der nassen Erde.
Miteinander zu reden, war verboten.
In der Mitte des Platzes stand ein kahler, sterbender Baum, in dessen
Rinde ein ovales Glasbild der Muttergottes eingewachsen war.
An den Mauern wuchsen kØmmerliche Ligusterstauden, die BlÄtter fast
schwarz vom fallenden Ruñ.
Ringsum die Gitter der Zellen, aus denen zuweilen ein kittgraues
Gesicht mit blutleeren Lippen herunterschaute.
Dann ging's wieder hinauf in die gewohnten GrØfte zu Brot, Wasser und
Wurstabsud und sonntags zu faulenden Linsen.
Erst einmal war ich wieder vernommen worden:
Ob ich Zeugen hÄtte, dañ mir "Herr" Wassertrum angeblich die Uhr
geschenkt habe?
"Ja: Herrn Schemajah Hillel - - das heiñt - nein" (ich erinnerte mich,
er war nicht dabei gewesen) - - "aber Herr Charousek" - (nein, auch er war
ja nicht dabei).
"Kurz: also niemand war dabei?"
"Nein, niemand war dabei, Herr Untersuchungsrichter."
Wieder das Gemecker hinter dem Schreibtisch und wieder das:
"FØhren Sie den Mann hinaus, GefangenwÄrter!" - - -
Meine Besorgnis um Angelina war einer dumpfen Resignation gewichen: Der
Zeitpunkt, wo ich um sie zittern muñte, war vorØber. Entweder Wassertrums
Racheplan war lÄngst geglØckt, oder Charousek hatte eingegriffen, sagte ich
mir.
Aber die Sorge um Mirjam trieb mich jetzt fast zum Wahnsinn.
Ich stellte mir vor, wie sie Stunde um Stunde darauf wartete, dañ sich
das Wunder erneuere, - wie sie frØh am Morgen, wenn der BÄcker kam,
hinauslief und mit bebenden HÄnden das Brot untersuchte, - wie sie
vielleicht um meinetwillen vor Angst verging.
Oft in der Nacht peitschte es mich aus dem Schlaf, und ich stieg auf
das Wandbrett und starrte empor zu dem kupfernen Gesicht der Turmuhr und
verzehrte mich in dem Wunsch, meine Gedanken mÃchten zu Hillel dringen und
ihm ins Ohr schreien, er solle Mirjam helfen und sie erlÃsen von der Qual
des Hoffens auf ein Wunder.
Dann wieder warf ich mich auf das Stroh und hielt den Atem an, bis mir
die Brust fast zersprang, - um das Bild meines DoppelgÄngers vor mich zu
zwingen, damit ich ihn zu ihr schicken kÃnnte als einen Trost.
Und einmal war er auch erschienen neben meinem Lager mit den
Buchstaben: Chabrat Zereh Aur Bocher in Spiegelschrift auf der Brust, und
ich wollte aufschreien vor Jubel, dañ jetzt alles wieder gut wØrde, aber er
war in den Boden versunken, noch ehe ich ihm den Befehl geben konnte, Mirjam
zu erscheinen. - - -
Dañ ich so gar keine Nachricht bekam von meinen Freunden!
Ob es denn verboten sei, einem Briefe zu schicken? fragte ich meine
Zellengenossen.
Sie wuñten es nicht.
Sie hÄtten noch nie welche bekommen - allerdings wÄre auch niemand da,
der ihnen schreiben kÃnnte, sagten sie.
Der GefangenwÄrter versprach mir, sich gelegentlich zu erkundigen.
Meine NÄgel waren rissig geworden vom Abbeiñen und mein Haar
verwildert, denn Schere, Kamm und BØrste gab es nicht.
Auch kein Wasser zum Waschen.
Fast ununterbrochen kÄmpfte ich mit Brechreiz, denn der Wurstabsud war
mit Soda gewØrzt statt mit Salz. - - Eine GefÄngnisvorschrift, um dem
"øberhandnehmen des Geschlechtstriebs vorzubeugen."
Die Zeit verging in grauer, furchtbarer EintÃnigkeit.
Drehte sich wie im Kreis wie ein Rad der Qual.
Da gab es die gewissen Momente, die jeder von uns kannte, wo plÃtzlich
einer oder der andere aufsprang und stundenlang auf und nieder lief wie ein
wildes Tier, um sich dann wieder gebrochen auf die Pritsche fallen zu lassen
und stumpfsinnig weiter zu warten - zu warten - zu warten.
Wenn der Abend kam, zogen die Wanzen in Scharen gleich Ameisen Øber die
WÄnde und ich fragte mich erstaunt, warum denn der Kerl in SÄbel und
Unterhosen mich so gewissenhaft ausgeforscht habe, ob ich kein Ungeziefer
hÄtte.
FØrchtete man vielleicht im Landesgericht, es kÃnne eine Kreuzung
fremder Insektenrassen entstehen?
Mittwoch vormittags kam gewÃhnlich ein Schweinskopf herein mit
Schlapphut und zuckenden Hosenbeinen: der GefÄngnisarzt Dr. Rosenblatt, und
Øberzeugte sich, dañ alle vor Gesundheit strotzten.
Und wenn einer sich beschwerte, gleichgØltig worØber, so verschrieb er
- Zinksalbe zum Einreiben der Brust.
Einmal kam auch der LandgerichtsprÄsident mit - ein hochgewachsener,
parfØmierter Halunke der "guten Gesellschaft", dem die gemeinsten Laster im
Gesicht geschrieben standen, und sah nach, ob - alles in Ordnung sei: "ob
sich noch immer kaner derhenkt hobe", wie sich der Frisierte ausdrØckte.
Ich war auf ihn zugetreten, um ihm eine Bitte vorzutragen, da hatte er
einen Satz hinter den GefangenwÄrter gemacht und mir einen Revolver
vorgehalten. - "Was ich denn wolle", schrie er mich an.
Ob Briefe fØr mich da seien, fragte ich hÃflich. Statt der Antwort
bekam ich einen Stoñ vor die Brust vom Herrn Dr. Rosenblatt, der gleich
darauf das Weite suchte. Auch der Herr PrÄsident zog sich zurØck und hÃhnte
durch den TØrausschnitt: - ich solle lieber den Mord gestehen. Eher bekÄme
ich in diesem Leben keine Briefe.
Ich hatte mich lÄngst an die schlechte Luft und die Hitze gewÃhnt und
frÃstelte bestÄndig. Selbst, wenn die Sonne schien.
Zwei der Gefangenen hatten schon einige Male gewechselt, aber ich
achtete nicht darauf. Diese Woche waren es ein Taschendieb und ein
Wegelagerer, das nÄchste Mal ein FalschmØnzer oder ein Hehler, die
hereingefØhrt wurden.
Was ich gestern erlebte, war heute vergessen.
Gegen das WØhlen der Sorge um Mirjam verblañten alle Äuñeren
Begebenheiten.
Nur ein Ereignis hatte sich mir tiefer eingeprÄgt - es verfolgte mich
zuweilen als Zerrbild bis in den Traum:
Ich hatte auf dem Wandbrett gestanden, um hinauf in den Himmel zu
starren, da fØhlte ich plÃtzlich, dañ mich ein spitzer Gegenstand in die
HØfte stach, und als ich nachsah, bemerkte ich, dañ es die Feile gewesen
war, die sich mir durch die Tasche zwischen Rock und Futter gebohrt hatte.
Sie muñte schon lange dort gesteckt haben, sonst hÄtte sie der Mann in der
Flurstube gewiñ bemerkt.
Ich zog sie heraus und warf sie achtlos auf meinen Strohsack.
Als ich dann herunterstieg, war sie verschwunden, und ich zweifelte
keinen Augenblick, dañ nur Loisa sie genommen haben konnte.
Einige Tage spÄter holte man ihn aus der Zelle, um ihn einen Stock
tiefer unterzubringen.
Es dØrfe nicht sein, dañ zwei Untersuchungsgefangene, die desselben
Verbrechens beschuldigt wÄren, wie er und ich, in der gleichen Zelle sÄñen,
hatte der GefangenwÄrter gesagt.
Aus ganzem Herzen wØnschte ich, es mÃchte dem armen Burschen gelingen,
sich mit Hilfe der Feile zu befreien.
Auf meine Frage, welches Datum denn wÄre - die Sonne schien so warm wie
im Hochsommer und der mØde Baum im Hof trieb ein paar Knospen - hatte der
GefangenwÄrter zuerst geschwiegen, dann aber mir zugeflØstert, es sei der
15. Mai. Eigentlich dØrfe er es nicht sagen, denn es sei verboten, mit den
Gefangenen zu sprechen, - insbesondere solche, die noch nicht gestanden
hÄtten, mØñten hinsichtlich der Zeit im unklaren gehalten werden.
Drei volle Monate war ich also schon im GefÄngnis und noch immer keine
Nachricht aus der Welt da drauñen!
Wenn es Abend wurde, drangen leise KlÄnge eines Klaviers durch das
Gitterfenster, das jetzt an warmen Tagen offen war.
Die Tochter des Beschlieñers unten spiele, hatte mir ein StrÄfling
gesagt.
Tag und Nacht trÄumte ich von Mirjam.
Wie es ihr wohl ging?!
Zuzeiten hatte ich das trÃstliche GefØhl, als seien meine Gedanken zu
ihr gedrungen und stØnden an ihrem Bette, wÄhrend sie schlief, und legten
ihr lindernd die Hand auf die Stirne.
Dann wieder, in Momenten der Hoffnungslosigkeit, wenn einer nach dem
andern meiner Zellengenossen zum VerhÃr gefuhrt wurde, - nur ich nicht, -
drosselte mich eine dumpfe Furcht, sie sei vielleicht schon lange tot.
Da stellte ich dann Fragen an das Schicksal, ob sie noch lebe oder
nicht, krank sei oder gesund, und die Anzahl einer Handvoll Halme, die ich
aus dem Strohsack riñ, sollte mir Antwort geben.
Und fast jedesmal "ging es schlecht aus", und ich wØhlte in meinem
Innern nach einem Blick in die Zukunft; - suchte meine Seele, die mir das
Geheimnis verbarg, zu Øberlisten durch die scheinbar abseits liegende Frage,
ob wohl fØr mich dereinst noch ein Tag kommen wØrde, wo ich heiter sein und
wieder lachen kÃnnte.
Immer bejahte das Orakel in solchen FÄllen, und dann war ich eine
Stunde lang glØcklich und froh.
Wie eine Pflanze heimlich wÄchst und sproñt, war allmÄhlich in mir eine
unbegreifliche, tiefe Liebe zu Mirjam erwacht, und ich fañte es nicht, dañ
ich so oft hatte bei ihr sitzen und mit ihr reden kÃnnen, ohne mir damals
schon klar darØber geworden zu sein.
Der zitternde Wunsch, dañ auch sie mit gleichen GefØhlen an mich denken
mÃchte, steigerte sich in solchen Augenblicken oft bis zur Ahnung der
Gewiñheit, und wenn ich dann auf dem Gange drauñen einen Schritt hÃrte,
fØrchtete ich mich beinahe davor, man kÃnnte mich holen und freilassen und
mein Traum wØrde in der groben Wirklichkeit der Auñenwelt in nichts
zerrinnen.
Mein Ohr war in der langen Zeit der Haft so scharf geworden, dañ ich
auch das leiseste GerÄusch vernahm.
Jedesmal bei Anbruch der Nacht hÃrte ich in der Ferne einen Wagen
fahren und zergrØbelte mir den Kopf, wer wohl dann sitzen mÃchte.
Es lag etwas seltsam Fremdartiges in dem Gedanken, dañ es Menschen gab
da drauñen, die tun und lassen durften, was sie wollten, - die sich frei
bewegen konnten und da und dort hingehen, und es dennoch nicht als
unbeschreiblichen Jubel empfanden.
Dañ auch ich jemals wieder so glØcklich werden wØrde, im Sonnenschein
durch die Strañen wandern zu kÃnnen; - - ich war nicht mehr imstande, es mir
vorzustellen.
Der Tag, an dem ich Angelina in den Armen gehalten, schien mir einem
lÄngstverflossenen Dasein anzugehÃren; - ich dachte daran zurØck mit jener
leisen Wehmut, wie sie einen beschleicht, wenn man ein Buch aufschlÄgt und
findet dann welke Blumen, die einst die Geliebte der Jugendjahre getragen
hat.
Ob wohl der alte Zwakh noch immer Abend fØr Abend mit Vrieslander und
Prokop beim "Ungelt" sañ und der vertrockneten Eulalia das Hirn konfus
machte?
Nein, es war doch Mai: - die Zeit, wo er mit seinem Marionettenkasten
durch die Provinznester zog und auf grØnen Wiesen vor den Toren den Ritter
Blaubart spielte.
Ich sañ allein in der Zelle. - VÕssatka, der Brandstifter, mein
einziger GefÄhrte seit einer Woche, war vor ein paar Stunden zum
Untersuchungsrichter geholt worden.
MerkwØrdig lange dauerte diesmal sein VerhÃr.
Da. Die eiserne Vorlegestange klirrte an der TØr. Und mit
freudestrahlender Miene stØrmte VÕssatka herein, warf ein BØndel Kleider auf
die Pritsche und begann, sich mit Windeseile umzukleiden.
Den StrÄflingsanzug warf er StØck fØr StØck mit einem Fluch auf den
Boden.
"Nix hamms mer beweisen kÃnna, dà Hallodri. - Brandstiftung! - Ja doder
-" er zog mit dem Zeigefinger an seinem unteren Augenlid. "Auf den schwarzen
VÕssatka sans jung. - Der Wind war's, hab i g'sagt. Und bi fest blimm. Den
kennens iazt eispirrn, wanns'n derwischen - den Herrn von Wind. - No servus
heit abend! - Do werd aufdraht. Beim Loisitschek." - Er breitete die Arme
aus und tanzte einen "G'strampften". - "Nur einmahl im LebÃhn blie-het der
Mai." Er stØlpte sich mit einem Krach einen steifen Deckel mit einer kleinen
blaugesprenkelten NuñhÄherfeder darauf Øber den SchÄdel. - "Ja, richtig, das
wird Ihna intrissirn, Herr Graf: wissens was Neies? Eana Freund, der Loisa,
is ausbrochen! - Grad hab i's erfahrehn oben bei die Hallodri. Schon vurigen
Monat - gegen Uldimoh hat er das Weide gesucht und ist lÄngst ieber -
pbhuit" - er schlug sich mit den Fingern auf den HandrØcken - "ieber alle
BergÃh." -
"Aha, die Feile", dachte ich mir und lÄchelte.
"Alsdann haltens Ihna jetzt auch bald dazu, Herr Graf," der
Brandstifter streckte mir kameradschaftlich die Hand hin, "dañ Sie mÃglichst
bei ZeitÃhn freikommen. - Und wenn Sie mal kein Geld nicht habehn, fragen
Sie sich nur beim Loisitschek nach dem schwarzen VÕssatka. - Kennte mich
jedes MÄdel durten. So! - Alsdann Servus, Herr Graf. War mir ein
Vergniegen."
Er stand noch in der TØre, da schob der WÄrter schon einen neuen
Untersuchungsgefangenen in die Zelle.
Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm den Schlot mit der
SoldatenmØtze, der einmal neben mir bei Regenwetter in dem Torbogen der
Hahnpañgasse gestanden hatte. Eine freudige øberraschung! Vielleicht wuñte
er zufÄllig etwas Øber Hillel und Zwakh und alle die andern?
Ich wollte sofort anfangen, ihn auszufragen, aber zu meinem grÃñten
Erstaunen legte er mit geheimnisvoller Miene den Finger an den Mund und
bedeutete mir, ich solle schweigen.
Erst als die TØr von auñen abgesperrt und der Schritt des
GefangenwÄrters auf dem Gange verhallt war, kam Leben in ihn.
Mir schlug das Herz vor Aufregung.
Was sollte das bedeuten?
Kannte er mich denn, und was wollte er?
Das erste, was der Schlot tat, war, dañ er sich niedersetzte und seinen
linken Stiefel auszog.
Dann zerrte er mit den ZÄhnen einen StÃpsel aus dem Absatz, entnahm dem
entstandenen Hohlraum ein kleines gebogenes Eisenblech, riñ die anscheinend
nur locker befestigte Schuhsohle ab und reichte mir beides mit stolzer Miene
hin. -
Alles in Windeseile und ohne auf meine erregten Fragen auch nur im
geringsten zu achten.
"So! Einen schÃnen Gruñ vom Herrn Charousek."
Ich war so verblØfft, dañ ich kein Wort herausbringen konnte. -
"Brauchens' bloñ Eisenblechl nÄhmen und Sohlen ausanand brechen in der
Nacht. Oder wann sunst niemand siecht. - Ise nÄmlich hohl inewÄndig" -
erklÄrte der Schlot mit Øberlegener Miene, "und finden Sie sich drinn eine
Brieffel von Herrn Charousek."
Im øbermañ meines EntzØckens fiel ich dem Schlot um den Hals, und die
TrÄnen stØrzten mir aus den Augen.
Er wehrte mich voll Milde ab und sagte vorwurfsvoll:
"Missen sich mehr zusammennÄhmen, Herr von Pernath! Mir habens me nicht
eine Minutten zum Zeitverlieren. Es kann sich soffort herauskommen, dañ ich
in der falschen Zellen bin. Der Franzl und ich habens me unt beim PordjÃh
die Nummern mitsamm vertauscht." -
Ich muñte wohl ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, denn der Schlot
fuhr fort:
"Wann Sie das auch nicht verstÄhn, macht nix. Kurz: ich bin hier,
Pasta!"
"Sagen Sie doch," fiel ich ihm ins Wort, "sagen Sie doch, Herr - - Herr
- - -"
"Wenzel," - half mir der Schlot aus, "ich heiñe der schÃne Wenzel."
"Sagen Sie mir doch, Wenzel, was macht der Archivar Hillel, und wie
geht es seiner Tochter?"
"Dazu ist jetz keine Zeit nicht", unterbrach mich der schÃne Wenzel
ungeduldig. "Ich kann ich doch im nÄxen Augenblick herausgeschmissen werden.
- Also: ich bin ich hier, weil ich einen Raubanfall extra eingestanden hab -
-"
"Was, Sie haben bloñ meinetwegen, und um zu mir kommen zu kÃnnen, einen
Raubanfall begangen, Wenzel?" fragte ich erschØttert.
Der Schlot schØttelte verÄchtlich den Kopf: "Wenn ich wirklich einen
Raub anf all begangen hÄtt, mecht ich ihm doch nicht eingestÄhen. Was
glauben Sie von mir!?"
Ich verstand allmÄhlich: - der brave Kerl hatte eine List gebraucht, um
mir den Brief Charouseks ins GefÄngnis zu schmuggeln.
"So; zuverderscht" - er machte ein Äuñerst wichtiges Gesicht - "muñ ich
Ihnen Unterricht in der Ebilebsie gÄben."
"Worin?"
"In der Ebilebsie! - GÄbm S' amal scharf Obacht und merkens Ihna alles
genau! - Alsdann schaugens hÄr: Zuerscht macht me Speichel in der Goschen;"
- er blies die Backen auf und bewegte sie hin und her, wie jemand, der sich
den Mund ausspØlt - "dann kriegt me Schaum vorm Maul, sengen S' so": - er
machte auch dies. Mit widerwÄrtiger NatØrlichkeit. "Nachhe drehte ma die
Daumen in die Faust. - Nachhe kugelt me die Augen raus" - er schielte
entsetzlich - "und dann - das ise sich bisl schwÄr - stoñt me so halbeten
Schrei aus. Segen S', so: Bà - bà - bÃ, und gleichzeitig fallt me sich um."
Er lieñ sich der LÄnge nach zu Boden fallen, dañ das Haus zitterte, und
sagte beim Aufstehen:
"Das ise sich die natierliche Ebilebsie, wie's uns der Dr. Hulbert
gottsÄlig beim ›Bataljohn‹ gelernt hat."
"Ja, ja, es ist tÄuschend Ähnlich," gab ich zu, "aber wozu dient das
alles?"
"Weil Sie sich zuerscht aus der Zellen rausmissen!", erklÄrte der
schÃne Wenzel. "Der Dr. Rosenblatt is doch ein Mordsochs! Wenn einer schon
gar kan Kopf mehr hat, sagt der Rosenblatt immer noch: der Mann ise sich
pumperlgesund! - Nur vor die Ebilebsie hat e' an ViechsrÄschpÄkt. Wann aner
daas gut kann: gleich ise drieben in der Krankenzelle. - - Und da ise sich
das Ausbrechen dann ein Kinderspielzeug;" - er wurde tief geheimnisvoll -
"den Fenstergitter in der Krankenzelle ise nÄmlich durchgesÄgt und nur
schwach mit Dreck zusammengepappt. - Es ise sich das ein Geheimnis vom
Bataljohn! - Sie brauchen dann bloñ ein paar NÄchte scharf aufpassen und,
wenn Sie eine Seilschlingen vom Dach herunter bis vors Fenster kommen segen,
heben Sie leise den Gitter aus, damit niemand nicht aufwacht, steckens die
Schultern in die Schlinge, und mir ziegen Ihnen hinauf aufs Dach und lassen
Ihnen auf der andern Seiten hinunter auf die Strañen. - Pasta."
"Weshalb soll ich denn aus dem GefÄngnis ausbrechen?" wandte ich
schØchtern ein, "ich bin doch unschuldig."
"Das ise doch kein Grund, um nicht auszubrechen!", widerlegte mich der
schÃne Wenzel und machte vor Erstaunen kreisrunde Augen.
Ich muñte meine ganze Beredsamkeit aufbieten, um ihm den verwegenen
Plan, der, wie er sagte, das Resultat eines "Bataillons" beschlusses war,
auszureden.
Dañ ich "die Gabe Gottes" von der Hand wies und lieber warten wollte,
bis ich von selbst freikommen wØrde, war ihm unbegreiflich.
"Jedenfalls danke ich Ihnen und Ihren braven Kameraden auf das
allerherzlichste," sagte ich gerØhrt und drØckte ihm die Hand. "Wenn die
schwere Zeit fØr mich vorØber ist, wird es mein erstes sein, mich Ihnen
allen erkenntlich zu zeigen."
"Ise gar nicht nÄtig", lehnte Wenzel freundlich ab. "Wann Sie ein paar
Glas ›Pils‹ zahlen, nÄhmen wir sich dankbar an, abe sunst nix. Pan
Charousek, was ise jetz Schatzmistr vom Bataljohn hat e' uns schon erzÄhlt,
was Sie fØr ein heimlicher WohltÄter sin. Soll ich ihm was ausrichten, wenn
ich in paar TÄg wieder herauskomm?"
"Ja, bitte," fiel ich rasch ein, "sagen Sie ihm, er mÃchte zu Hillel
gehen und ihm mitteilen, ich hÄtte soviel Angst wegen der Gesundheit seiner
Tochter Mirjam. Herr Hillel solle sie nicht aus den Augen lassen. - Werden
Sie sich den Namen merken?: Hillel!"
"HirrÄl?"
"Nein: Hillel."
"HillÄr?"
"Nein: Hill-el."
Wenzel zerbrach sich fast die Zunge an dem fØr einen Tschechen
unmÃglichen Namen, aber schlieñlich bewÄltigte er ihn doch unter wilden
Grimassen.
"Und dann noch eins: Herr Charousek mÃge - ich lasse ihn herzlich drum
bitten - sich auch, soweit es in seiner Macht steht, der "vornehmen Dame" -
er weiñ schon, wer darunter zu verstehen ist - annehmen."
"Sie meinen sich wahrscheinlich die adlige Flietschen, die was da
Gspusi ghabt hat mit dem Niemetz - dem Dr. Sapoli? - No, die hat sich doch
scheiden lassen und ise mit dem Kind und dem Sapoli fØrt."
"Wissen Sie das bestimmt?"
Ich fØhlte meine Stimme zittern. So sehr ich mich um Angelinas willen
freute, - es krampfte mir doch das Herz zusammen.
Wieviel Sorge hatte ich ihretwegen getragen und jetzt - - - war ich
vergessen.
Vielleicht glaubte sie, ich sei wirklich ein RaubmÃrder.
Ein bitterer Geschmack stieg mir in die Kehle.
Der Schlot schien mit dem FeingefØhl, das verwahrlosten Menschen
seltsamerweise eigen ist bei allen Dingen, die sich um Liebe drehen, erraten
zu haben, wie mir zumute war, denn er blickte scheu weg und antwortete
nicht.
"Wissen Sie vielleicht auch, wie es Herrn Hillels Tochter, dem FrÄulein
Mirjam geht? Kennen Sie sie?", fragte ich gepreñt.
"Mirjam? Mirjam?" - Wenzel legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten -
"Mirjam? - GÄht sich die Ãfters in der Nacht zum Loisitschek?"
Ich muñte unwillkØrlich lÄcheln. "Nein. Ganz bestimmt nicht."
"Dann kenn ich sie nicht", sagte Wenzel trocken.
Wir schwiegen eine Weile.
Vielleicht steht in dem Briefchen etwas Øber sie, hoffte ich.
"Dañ den Wassertrum der Deiwel g'holt hat", fing Wenzel plÃtzlich
wieder an, "wÄrden Sie sich wohl schon gehÄrt haben?"
Ich fuhr entsetzt auf.
"No ja." - Wenzel deutete auf seine Kehle. - "Murxi, murxi! Ich sag ich
IhnÄn; es war IhnÄn schaislich. Wie sie den Laden aufgebrochen haben, weil
er sich paar TÄg nicht hat segen lassen, war ich natierlich der erschte
drin; - wie denn nicht! - Und da hat e' durten g'sÄssen, der Wassertrum, in
einem dreckigen LÄhnsessel, die Brust voller Blut und die Augen wie aus
Glas. - - - Wissen S', ich bin ich ein handfeste Kerl, aber mir hat sich
alles gedrÄht, sag ich IhnÄn, und ich hab' gemeint, ich hau ich ohnmÄchtig
hi-iin. Furt' a furt' hab' ich mir vorsagen missen: Wenzel, hab' ich mir
vorg'sagt, Wenzel, reg' dich nicht auf, es is doch bloñ ein toter Jud. - Er
hat eine Feile in der Kehle stecken gehabt und im Laden war sich alles
umedum geschmissen. - Ein Raubmord natierlich."
"Die Feile! Die Feile!" Ich fØhlte, wie mir der Atem kalt wurde vor
Grausen. Die Feile! So hatte sie also doch ihren Weg gefunden!
"Ich weiñ ich auch, wer's war", fuhr Wenzel nach einer Pause halblaut
fort. "Niemand anders, sag ich IhnÄn, als der blattersteppige Loiso. - Ich
hab' ich nÄmlich sein Taschenmesser auf dem Boden im Laden entdeckt und
rasch eing'stÄckt, damit sich die Polizei nicht draufkommt. - Er ise sich
durch einen unterirdischen Gang in den Laden - - -" er brach mit einem Ruck
seine Rede ab und horchte ein paar Sekunden lang angestrengt, dann warf er
sich auf die Pritsche und fing an, fØrchterlich zu schnarchen.
Gleich darauf klirrte das VorhÄngeschloñ und der GefÄngniswÄrter kam
herein und musterte mich argwÃhnisch.
Ich machte ein teilnahmsloses Gesicht und Wenzel war kaum zu erwecken.
Erst nach vielen PØffen richtete er sich gÄhnend auf und taumelte,
gefolgt von dem WÄrter, schlaftrunken hinaus.
Fiebernd vor Spannung faltete ich Charouseks Brief auseinander und las:
Den 12. Mai.
"Mein lieber armer Freund und WohltÄter!"
Woche um Woche habe ich gewartet, dañ Sie endlich freikommen wØrden, -
immer vergebens, - habe alle mÃglichen Schritte versucht, um
Entlastungsmaterial fØr Sie zu sammeln, aber ich fand keins.
Ich bat den Untersuchungsrichter, das Verfahren zu beschleunigen, aber
jedesmal hieñ es, er kÃnne nichts tun - es sei Sache der Staatsanwaltschaft
und nicht die seinige.
Amtsschimmel!
Eben erst, vor einer Stunde, gelang mir jedoch etwas, von dem ich mir
den besten Erfolg erhoffe: ich habe erfahren, dañ Jaromir dem Wassertrum
eine goldene Taschenuhr, die er nach der damaligen Verhaftung seines Bruders
Loisa in dessen Bett gefunden hatte, verkauft hat.
Beim ›Loisitschek‹, wo, wie Sie wissen, die Detektivs verkehren, geht
das GerØcht, man hÄtte die Uhr des angeblich ermordeten Zottmann - dessen
Leiche Øbrigens noch immer nicht entdeckt ist - als corpus delicti bei Ihnen
gefunden. Das Øbrige reimte ich mir zusammen: Wassertrum et cetera!
Ich habe mir Jaromir sofort vorgenommen, ihm 1000 fl gegeben - -" Ich
lieñ den Brief sinken, und die FreudentrÄnen traten mir in die Augen: nur
Angelina konnte Charousek die Summe gegeben haben. Weder Zwakh, noch Prokop,
noch Vrieslander besañen so viel Geld. Sie hatte mich also doch nicht
vergessen! - Ich las weiter:
"- 1000 fl gegeben und ihm weitere 2000 fl versprochen, wenn er mit mir
sofort zur Polizei ginge und eingestØnde, die Uhr seinem Bruder zu Hause
entwendet und verkauft zu haben.
Das alles kann aber erst geschehen, wenn dieser Brief durch Wenzel
bereits an Sie unterwegs ist. Die Zeit reicht nicht aus.
Aber seien Sie versichert: es wird geschehen. Heute noch. Ich bØrge
Ihnen dafØr.
Ich zweifle keinen Augenblick, dañ Loisa den Mord begangen hat und die
Uhr die Zottmanns ist.
Sollte sie es wider Erwarten nicht sein, - nun, dann weiñ Jaromir, was
er zu tun hat: - Jedenfalls wird er sie als die bei Ihnen gefundene
agnoszieren.
Also harren Sie aus und verzweifeln Sie nicht! Der Tag, wo Sie frei
sein werden, steht vielleicht bald bevor.
Ob trotzdem ein Tag kommen wird, wo wir uns wiedersehen?
Ich weiñ es nicht.
Fast mÃchte ich sagen: ich glaube es nicht, denn mit mir geht's rasch
zu Ende, und ich muñ auf der Hut sein, dañ mich die letzte Stunde nicht
Øberrascht.
Aber eins halten Sie fest: wir werden uns wiedersehen.
Wenn auch nicht in diesem Leben und nicht wie die Toten in jenem Leben,
aber an dem Tag, wo die Zeit zerbricht, - wo, wie es in der Bibel steht, der
HERR die ausspeien wird aus seinem Munde, die lau waren und weder kalt noch
warm. - - -
Wundern Sie sich nicht, dañ ich so rede! Ich habe nie mit Ihnen Øber
diese Dinge gesprochen und, als Sie einmal das Wort ›Kabbala‹ berØhrten, bin
ich Ihnen ausgewichen, aber - ich weiñ, was ich weiñ.
Vielleicht verstehen Sie, was ich meine, und wenn nicht, so streichen
Sie, ich bitte Sie darum, das, was ich gesagt habe, aus Ihrem GedÄchtnis. -
- Einmal, in meinen Delirien, glaubte ich - ein Zeichen auf Ihrer Brust zu
sehen. - Mag sein, dañ ich wach getrÄumt habe.
Nehmen Sie an, wenn Sie mich wirklich nicht verstehen sollten, dañ ich
gewisse Erkenntnisse gehabt habe - innerlich! - fast schon von Kindheit an,
die mich einen seltsamen Weg gefØhrt haben; - Erkenntnisse, die sich nicht
decken mit dem, was die Medizin lehrt oder Gott sei Dank noch nicht weiñ;
hoffentlich auch nie erfahren wird.
Aber ich habe mich nicht dumm machen lassen von der Wissenschaft, deren
hÃchstes Ziel es ist, einen - ›Wartesaal‹ auszustaffieren, den man am besten
niederrisse.
Doch genug davon.
Ich will Ihnen erzÄhlen, was sich inzwischen zugetragen hat:
Ende April war Wassertrum so weit, dañ meine Suggestion anfing zu
wirken.
Ich sah es daran, dañ er auf der Gasse bestÄndig gestikulierte und laut
mit sich selbst sprach.
So etwas ist ein sicheres Zeichen, dañ die Gedanken eines Menschen sich
zum Sturm rotten, um Øber ihren Herrn herzufallen.
Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.
Er schrieb!
Er schrieb! Dañ ich nicht lache! Er schrieb.
Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wuñte ich, was er
oben machte: - er machte sein Testament.
Dañ er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht.
Ich hÄtte wahrscheinlich den Veitstanz bekommen vor VergnØgen, wenn's mir
eingefallen wÄre.
Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an
dem er noch etwas gutmachen kÃnnte, wie er glaubte. Das Gewissen hat ihn
Øberlistet.
Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich wØrde ihn segnen, wenn ich mich
nach seinem Tode durch seine Huld plÃtzlich als MillionÄr sÄhe, und dadurch
den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat mit anhÃren
mØssen.
Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.
Rasend witzig, dañ er heimlich also doch an eine Wiedervergeltung im
Jenseits geglaubt hat, wÄhrend er sich's das ganze Leben lang mØhselig
ausreden wollte.
Aber so ist's bei allen den Ganzgescheiten; man sieht es schon an der
wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt. Sie
fØhlen sich ertappt.
Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, lieñ ich ihn nicht mehr
aus dem Auge.
Des Nachts horchte ich an den Verschlagbrettern seines Ladens, denn
jede Minute konnte die Entscheidung fallen. -
Ich glaube, durch Mauern hindurch wØrde ich das ersehnte schnalzende
GerÄusch gehÃrt haben, wenn er den StÃpsel aus der Giftflasche gezogen
hÄtte.
Es fehlte vielleicht nur eine Stunde, und mein Lebenswerk war
vollbracht.
Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.
Lassen Sie sich das NÄhere von Wenzel erzÄhlen, mir wird es zu bitter,
alles das niederschreiben zu mØssen.
Nennen Sie es Aberglaube, - aber, wie ich sah, dañ Blut vergossen
worden war - die Dinge im Laden waren befleckt davon, - kam es mir vor, als
sei mir seine Seele entwischt.
Etwas in mir, - ein feiner, untrØglicher Instinkt - sagt mir, dañ es
nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von fremder Hand stirbt oder von eigener:
- dañ Wassertrum sein Blut mit sich in die Erde hÄtte nehmen mØssen, dann
erst wÄre meine Mission erfØllt gewesen. - Jetzt, wo es anders gekommen ist,
fØhle ich mich als Ausgestoñener, als ein Werkzeug, das nicht wØrdig
befunden wurde in der Hand des Todesengels.
Aber ich will mich nicht auflehnen. Mein Hañ ist von der Art, die Øbers
Grab hinaus geht, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich vergieñen
kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich der Schatten auf
Schritt und Tritt. - - -
Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich drauñen bei
ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.
Ich glaube, ich weiñ es bereits, aber ich will noch warten, bis das
innere Wort, das zu mir spricht, klar wird wie eine Quelle. - Wir Menschen
sind unrein, und oft bedarf es langen Fastens und Wachens, bis wir das
FlØstern unserer Seele verstehen. - - -
In der verflossenen Woche wurde mir offiziell vom Gericht mitgeteilt,
dañ mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.
Dañ ich fØr mich keinen Kreuzer davon anrØhre, brauche ich Ihnen wohl
nicht zu versichern, Herr Pernath. - Ich werde mich hØten, ›ihm‹ - fØr
›drØben‹ eine Handhabe zu geben.
Die HÄuser, die er besessen hat, lasse ich versteigern, die
GegenstÄnde, die er berØhrt hat, werden verbrannt, und was an Geld und
Geldeswert sich dann ergibt, fÄllt nach meinem Tode zu einem Drittel Ihnen
zu. -
Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann
Sie beruhigen. Was Sie bekommen, ist Ihr rechtmÄñiges Eigentum mit Zinsen
und Zinseszinsen. Schon lange wuñte ich, dañ Wassertrum vor Jahren Ihren
Vater und seine Familie um alles gebracht hat, - erst jetzt bin ich in der
Lage, es aktenmÄñig nachweisen zu kÃnnen.
Ein zweites Drittel wird unter die zwÃlf Mitglieder des "Bataillons"
verteilt, die den Dr. Hulbert noch persÃnlich gekannt haben. Ich will, dañ
jeder von ihnen reich wird und Zutritt bekommt zur Prager - "guten
Gesellschaft".
Das letzte Drittel gehÃrt zu gleichen Teilen den nÄchsten sieben
RaubmÃrdern des Landes, die mangels zureichender Beweise freigesprochen
werden mØssen.
Ich bin das dem Ãffentlichen ärgernis schuldig.
So. Das wÄre wohl alles.
Und jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie
zuweilen
Ihres
aufrichtigen und dankbaren
Innocenz Charousek."
Tief erschØttert legte ich den Brief aus der Hand. Ich konnte mich
nicht freuen Øber die Nachricht von meiner bevorstehenden Enthaftung.
Charousek! Armer Mensch! Wie ein Bruder kØmmerte er sich um mein
Schicksal. Bloñ, weil ich ihm einst 100 fl geschenkt hatte. Wenn ich ihm nur
einmal noch die Hand drØcken kÃnnte!
Ich fØhlte: ja, er hatte recht; der Tag wØrde nie kommen.
Ich sah ihn vor mir: seine flackernden Augen, die schwindsØchtigen
Schultern, die hohe, noble Stirn.
Vielleicht, dañ alles ganz anders gekommen wÄre, wenn eine hilfreiche
Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen hÄtte.
Noch einmal las ich den Brief durch.
Wieviel Methode in Charouseks Irrsinn lag! Ob er Øberhaupt irrsinnig
war?
Ich schÄmte mich beinahe, diesen Gedanken auch nur einen Augenblick
geduldet zu haben.
Sagten seine Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch wie Hillel,
wie Mirjam, wie ich selbst; ein Mensch, Øber den die eigene Seele Gewalt
gewonnen hatte, - den sie durch die wilden Schluchten und KlØfte des Lebens
emporfØhrte in die Firnenwelt eines unbetreten Landes.
Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen, stand er nicht reiner
da, als irgendeiner von denen, die naserØmpfend umhergehen und angelernte
Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen vorgeben?
Er hielt das Gebot, das ihm ein ØbermÄchtiger Trieb diktierte, ohne an
eine "Belohnung" hier oder jenseits auch nur zu denken.
Was er getan hatte, war es etwas anderes als frÃmmste PflichterfØllung
in des Wortes verborgenster Bedeutung?
"Feig, hinterlistig, mordgierig, krank, eine problematische - eine
Verbrechernatur" - ich hÃrte fÃrmlich, wie das Urteil der Menge Øber ihn
lauten muñte, wenn sie mit ihren blinden Stallaternen in seine Seele
hineinzuleuchten kÄme, - dieser geifernden Menge, die nie und nimmer
begreifen wird, dañ die giftige Herbstzeitlose tausendfach schÃner und edler
ist als der nØtzliche Schnittlauch. - - -
Wieder ging das TØrschloñ drauñen, und ich hÃrte, dañ man einen
Menschen hereinschob.
Ich drehte mich nicht einmal um, so sehr war ich erfØllt von dem
Eindruck des Briefes.
Kein Wort Øber Angelina, nichts von Hillel stand darin.
Freilich: Charousek muñte in grÃñter Eile geschrieben haben, die
Schrift verriet es mir.
Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich Øberbracht werden wØrde?
Ich hoffte heimlich auf den morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang
der Gefangenen im Hof. - Da war es noch am leichtesten, dañ mir irgendeiner
vom "Bataillon" etwas zusteckte.
Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen GrØbeleien:
"WØrden Sie gestatten, mein Herr, dañ ich mich Ihnen vorstelle? Mein
Name ist Laponder. Amadeus Laponder".
Ich drehte mich um.
Ein kleiner, schmÄchtiger, noch ziemlich junger Mann in gewÄhlter
Kleidung, nur ohne Hut, wie alle Untersuchungsgefangenen, verbeugte sich
korrekt vor mir.
Er war glattrasiert wie ein Schauspieler, und seine groñen, hellgrØn
glÄnzenden, mandelfÃrmigen Augen hatten das EigentØmliche an sich, dañ, so
geradeaus sie auch auf mich gerichtet waren, sie mich doch nicht zu sehen
schienen. - Es lag so etwas wie - Geistesabwesenheit darin.
Ich murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich
wieder umdrehen, konnte aber lange den Blick von dem Menschen nicht wenden,
so fremdartig wirkte er auf mich mit dem pagodenhaften LÄcheln, das die
aufwÄrts gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen bestÄndig seinem
Gesicht aufdrØckten.
Er sah fast aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit
seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut, der mÄdchenhaft schmalen Nase und
den zarten NØstern.
"Amadeus Laponder, Amadeus Laponder", wiederholte ich vor mich hin.
"Was er wohl begangen haben mag?"
"Waren Sie schon beim VerhÃr", fragte ich nach einer Weile.
"Ich komme soeben von dort. - Hoffentlich werde ich Sie hier nicht
lange inkommodieren mØssen", antwortete Herr Laponder liebenswØrdig.
"Armer Teufel," dachte ich mir, "er ahnt nicht, was einem
Untersuchungsgefangenen bevorsteht."
Ich wollte ihn langsam vorbereiten:
"Man gewÃhnt sich allmÄhlich an das Stillsitzen, wenn einmal die
ersten, schlimmsten Tage vorØber sind." - - -
Er machte ein verbindliches Gesicht.
Pause.
"Hat das VerhÃr lange gedauert, Herr Laponder?"
Er lÄchelte zerstreut:
"Nein. Ich wurde bloñ gefragt, ob ich gestÄndig sei, und muñte das
Protokoll unterschreiben."
"Sie haben unterschrieben, dañ Sie gestÄndig sind?" fuhr es mir heraus.
"Allerdings."
Er sagte es, als ob es sich von selbst verstØnde.
Es kann nichts Schlimmes sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar
keine Aufregung zeigt. Wahrscheinlich eine Herausforderung zum Duell oder
etwas ähnliches.
"Ich bin leider schon so lange hier, dañ es mir wie ein Menschenleben
vorkommt"; - ich seufzte unwillkØrlich, und er machte sofort eine
teilnehmende Miene. "Ich wØnsche Ihnen, dañ Sie das nicht mitzumachen
brauchen, Herr Laponder. Nach allem, was ich sehe, werden Sie bald auf
freiem Fuñ sein."
"Wie man's nimmt", antwortete er ruhig, aber es klang wie ein
versteckter Doppelsinn.
"Sie glauben nicht?", fragte ich lÄchelnd. Er schØttelte den Kopf.
"Wie soll ich das verstehen? - Was haben Sie denn gar so Schreckliches
begangen? Verzeihen Sie, Herr Laponder, es ist nicht Neugierde von mir, -
lediglich Teilnahme, dañ ich frage."
Er zÃgerte einen Augenblick, dann sagte er, ohne mit der Wimper zu
zucken:
"Lustmord."
Mir war, als hÄtte er mich mit einem Stock Øber den Kopf geschlagen.
Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.
Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht das
leiseste Minenspiel in seinem automatenhaft lÄchelnden Gesicht verriet, dañ
er Øber mein plÃtzlich verÄndertes Benehmen verletzt gewesen wÄre.
Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. -
- -
Als ich mich nach Einbruch der Dunkelheit niederlegte, folgte er
sogleich meinem Beispiel, entkleidete sich, hÄngte sorgsam seine Kleider an
den Wandnagel, streckte sich aus und schien, nach seinen ruhigen, tiefen
AtemzØgen zu schlieñen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu sein.
Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.
Das bestÄndige GefØhl, ein solches Scheusal in meiner nÄchsten NÄhe zu
haben und dieselbe Luft mit ihm atmen zu mØssen, war mir so grÄñlich und
aufregend, dañ die EindrØcke des Tages, Charouseks Brief und all das erlebte
Neue tief in den Hintergrund traten.
Ich hatte mich so gelegt, dañ ich den MÃrder bestÄndig im Auge behielt,
denn ich wØrde es nicht haben ertragen kÃnnen, ihn hinter mir zu wissen.
Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchdÄmmert, und ich konnte
sehen, dañ Laponder regungslos, fast starr, dalag.
Seine ZØge hatten etwas Leichenhaftes bekommen, und der halbgeÃffnete
Mund erhÃhte diesen Eindruck.
Viele Stunden hindurch Änderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.
Erst spÄt nach Mitternacht, als ein dØnner Mondstrahl auf sein Gesicht
fiel, kam eine leise Unruhe Øber ihn und er bewegte unaufhÃrlich die Lippen,
wie jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu sein, -
ein zweisilbiger Satz vielleicht, - so wie:
"Lañ mich. Lañ mich, Lañ mich."
Die nÄchsten paar Tage vergingen, ohne dañ ich Notiz von ihm genommen
hÄtte, und auch er brach niemals das Schweigen.
Sein Benehmen blieb nach wie vor gleich liebenswØrdig. Sooft ich auf
und ab gehen wollte, sah er es mir sofort an und zog hÃflich, wenn er auf
der Pritsche sañ, die FØñe zurØck, um mir nicht im Wege zu sein.
Ich fing an, mir VorwØrfe wegen meiner Schroffheit zu machen, konnte
aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.
So sehr ich gehofft hatte, mich an seine NÄhe gewÃhnen zu kÃnnen, - es
ging nicht.
Selbst in den NÄchten hielt es mich wach. Kaum eine Viertelstunde
verbrachte ich im Schlaf.
Abend fØr Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete
respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte sie
pedantisch in Falten, hÄngte sie auf, und so weiter und so weiter.
Eines Nachts - es mochte um die zweite Stunde sein - stand ich
schlaftrunken vor MØdigkeit wieder auf dem Wandbrett, starrte in den
Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes ãl auf dem kupfernen Gesicht
der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.
Da hÃrte ich plÃtzlich leise ihre Stimme hinter mir.
Sofort war ich wach, Øberwach, - fuhr herum und horchte.
Eine Minute verging.
Schon glaubte ich, ich hÄtte mich getÄuscht, da kam es wieder. Ich
konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:
"Frag' mich. Frag' mich."
Es war bestimmt Mirjams Stimme.
Schlotternd vor Aufregung stieg ich, so leise ich konnte, herab und
trat an das Bett Laponders.
Das Mondlicht schien voll auf sein Gesicht, und ich konnte deutlich
unterscheiden, dañ er die Lider offen hatte, doch nur das Weiñe der AugÄpfel
war sichtbar.
An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, dañ er im Tiefschlaf lag.
Nur die Lippen bewegten sich wieder wie neulich. Und allmÄhlich
verstand ich die Worte, die hinter seinen ZÄhnen hervordrangen:
"Frag' mich. Frag' mich."
Die Stimme war der von Mirjam tÄuschend Ähnlich.
"Mirjam? Mirjam?" rief ich unwillkØrlich, dÄmpfte aber sofort den Ton,
um den SchlÄfer nicht zu erwecken.
Ich wartete, bis sein Gesicht wieder starr geworden war, dann
wiederholte ich leise:
"Mirjam? Mirjam?"
Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:
"Ja."
Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen. Nach einer Weile hÃrte ich
Mirjams Stimme flØstern - so unverkennbar ihre Stimme, dañ mir KÄlteschauer
Øber die Haut liefen.
Ich trank die Worte so gierig, dañ ich nur den Sinn begriff. Sie sprach
von Liebe zu mir und von dem unsagbaren GlØck, dañ wir uns endlich gefunden
hÄtten - und uns nie wieder trennen wØrden - hastig - ohne Pause, wie
jemand, der fØrchtet, unterbrochen zu werden und jede Sekunde ausnØtzen
will.
Dann wurde die Stimme stockend - erlosch zeitweilig ganz.
"Mirjam?" fragte ich, bebend vor Angst und mit eingezogenem Atem,
"Mirjam, bist du gestorben?"
Lange keine Antwort.
Dann fast unverstÄndlich:
"Nein. - Ich lebe. - Ich schlafe."
Nichts mehr.
Ich lauschte und lauschte.
Vergebens.
Nichts mehr.
Vor Ergriffenheit und Zittern muñte ich mich auf die Kante der Pritsche
stØtzen, um nicht vornØber auf Laponder zu fallen.
Die TÄuschung war so vollstÄndig gewesen, dañ ich Mirjam momentelang
tatsÄchlich vor mir liegen zu sehen glaubte und alle meine Kraft
zusammennehmen muñte, um nicht einen Kuñ auf die Lippen des MÃrders zu
drØcken.
"Henoch! Henoch!" - hÃrte ich ihn plÃtzlich lallen, dann immer klarer
und artikulierter: "Henoch! Henoch!"
Sofort erkannte ich Hillel.
"Bist du es, Hillel?"
Keine Antwort.
Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dañ man Schlafenden, um sie zum
Reden zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen dØrfe, sondern gegen das
Nervengeflecht in der Magengrube richten mØsse.
Ich tat es:
"Hillel?"
"Ja, ich hÃre dich!"
"Ist Mirjam gesund? Weiñt du alles?" fragte ich schnell.
"Ja. Ich weiñ alles. Wuñte es lÄngst. - Sei ohne Sorge, Henoch, und
fØrchte dich nicht!"
"Kannst du mir verzeihen, Hillel?"
"Ich sage dir doch: sei ohne Sorge."
"Werden wir uns bald wiedersehen?" - Ich fØrchtete, die Antwort nicht
mehr verstehen zu kÃnnen; schon der letzte Satz war nur noch gehaucht
worden.
"Ich hoffe es. Ich will warten - auf dich - wenn ich kann - dann muñ
ich - Land -"
"Wohin? In welches Land?" - ich fiel beinahe auf Laponder - "In welches
Land? In welches Land?"
"- Land - Gad - sØdlich - PalÄstina -"
Die Stimme erstarb.
Hundert Fragen schÃssen mir in der Verwirrung durch den Kopf: Warum
nennt er mich Henoch? Zwakh, Jaromir, die Uhr, Vrieslander, Angelina,
Charousek.
"Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner zuweilen", kam es plÃtzlich
wieder laut und deutlich von den Lippen des MÃrders. Diesmal in Charouseks
Tonfall, aber Ähnlich so, als hÄtte ich selbst es gesagt.
Ich erinnerte mich: es war wÃrtlich der Schluñsatz aus Charouseks
Brief. -
Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die
Kopfenden des Strohsacks. In einer Viertelstunde muñte es aus der Zelle
verschwunden sein.
Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:
Der MÃrder lag unbeweglich da wie eine Leiche und hatte die Lider
geschlossen.
Ich machte mir die heftigsten VorwØrfe, alle die Tage Øber in Laponder
nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. -
Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler - ein
GeschÃpf, das unter dem Einfluñ des Vollmonds stand.
Vielleicht hatte er den Lustmord in einer Art DÄmmerzustand begangen.
Bestimmt sogar. -
Jetzt, wo der Morgen graute, war die Starrheit aus seinen ZØgen
gewichen und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.
So ruhig kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem
Gewissen hat, sagte ich mir.
Ich konnte den Moment, wo er aufwachen wØrde, kaum erwarten.
Ob er wohl wØñte, was geschehen war?
Endlich schlug er die Augen auf, begegnete meinem Blick und sah zur
Seite.
Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: "Verzeihen Sie mir, Herr
Laponder, dañ ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war das
Ungewohnte, das -"
"Seien Sie Øberzeugt, mein Herr, ich begreife vollkommen," unterbrach
er mich lebhaft, "dañ es ein scheuñliches GefØhl sein muñ, mit einem
LustmÃrder beisammen zu sein."
"Reden Sie nicht mehr davon", bat ich. "Es ist mir heute nacht so
mancherlei durch den Kopf gegangen, und ich werde den Gedanken nicht los,
Sie kÃnnten vielleicht - - -" ich suchte nach Worten.
"Sie halten mich fØr krank", half er mir heraus.
Ich bejahte: "Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schlieñen zu dØrfen.
Ich - ich - darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?"
"Ich bitte darum."
"Es klingt etwas merkwØrdig, - aber - wØrden Sie mir sagen, was Sie
heute getrÄumt haben?"
Er schØttelte lÄchelnd den Kopf: "Ich trÄume nie."
"Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen."
Er blickte Øberrascht auf. Dachte eine Weile nach. Dann sagte er
bestimmt:
"Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben." - Ich
gab es zu. "Denn wie gesagt, ich trÄume nie. Ich - ich wandere", setzte er
nach einer Pause halblaut hinzu.
"Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?"
Er schien nicht recht mit der Sprache heraus zu wollen, und ich hielt
es fØr angezeigt, ihm die GrØnde zu nennen, die mich bewogen hatten, in ihn
zu dringen, und erzÄhlte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.
"Sie kÃnnen sich fest darauf verlassen," sagte er ernst, als ich zu
Ende war, "dañ alles auf Richtigkeit beruht, was ich im Schlaf gesprochen
habe. Wenn ich vorhin bemerkte, dañ ich nicht trÄume, sondern ›wandere‹, so
meine ich damit, dañ mein Traumleben anders beschaffen ist als das - sagen
wir: normaler Menschen. Nennen Sie es, wenn Sie wollen, ein Austreten aus
dem KÃrper. - - So war ich z. B. heute nacht in einem hÃchst sonderbaren
Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch eine FalltØr fØhrte."
"Wie sah es aus?" fragte ich rasch. "War es unbewohnt? Leer?"
"Nein; es standen MÃbel darin; aber nicht viele. Und ein Bett, in dem
ein junges MÄdchen schlief - oder wie scheintot lag, - und ein Mann sañ
neben ihr und hielt seine Hand Øber ihre Stirn." - Laponder schilderte die
Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und Mirjam.
Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.
"Bitte, erzÄhlen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?"
"Sonst noch jemand? Warten Sie - - - nein: sonst war niemand mehr im
Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch. - Dann ging ich
eine Wendeltreppe hinunter."
"Sie war zerbrochen?" fiel ich ein.
"Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von ihr zweigte
seitlich eine Kammer ab, darin sañ ein Mann mit silbernen Schnallen an den
Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich noch nie einen Menschen gesehen
habe: von gelber Gesichtsfarbe und mit schrÄgstehenden Augen; - er war
vornØber gebeugt und schien auf etwas zu warten. Auf einen Auftrag
vielleicht."
"Ein Buch - ein altes groñes Buch haben Sie nirgends gesehen?",
forschte ich.
Er rieb sich die Stirn:
"Ein Buch sagen Sie? - Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es
war aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit einem groñen, goldenen ›A‹
fing die Seite an."
"Mit einem ›I‹, meinen Sie wohl?"
"Nein, mit einem ›A‹."
"Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein ›I‹?"
"Nein, es war bestimmt ein ›A‹."
Ich schØttelte den Kopf und fing an zu zweifeln. Offenbar hatte
Laponder im Halbschlaf in meinem Vorstellungsinhalt gelesen und alles wirr
durcheinander gebracht: Hillel, Mirjam, den Golem, das Buch Ibbur und den
unterirdischen Gang.
"Haben Sie die Gabe zu ›wandern‹, wie Sie es nennen, schon lang?",
fragte ich.
"Seit meinem 21. Jahr - - -", er stockte, schien nicht gern davon zu
reden; da nahm seine Miene plÃtzlich den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens
an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas sÄhe.
Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und
bat - fast flehentlich:
"Um Himmels willen, sagen Sie mir alles. Es ist heute der letzte Tag,
den ich bei Ihnen verbringen darf. Vielleicht schon in einer Stunde werde
ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhÃren - -."
Ich unterbrÄche ihn entsetzt:
"Dann mØssen Sie mich mitnehmen als Zeugen! Ich werde beschwÃren, dañ
Sie krank sind. - Sie sind mondsØchtig. Es darf nicht sein, dañ man Sie
hinrichtet, ohne Ihren Geisteszustand untersucht zu haben. So nehmen Sie
doch Vernunft an!"
Er wehrte nervÃs ab: "Das ist doch so nebensÄchlich, - bitte, sagen Sie
mir alles!"
"Aber was soll ich Ihnen denn sagen? - Reden wir doch lieber von Ihnen
und - -"
"Sie mØssen, ich weiñ das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben,
die mich nah angehen, - nÄher als Sie ahnen kÃnnen; - - ich bitte Sie, sagen
Sie mir alles!", flehte er.
Ich konnte es nicht fassen, dañ ihn mein Leben mehr interessierte als
seine eigenen, doch wahrhaftig genØgend dringenden Angelegenheiten; um ihn
aber zu beruhigen, erzÄhlte ich ihm alles, was mir an Unbegreiflichem
geschehen war.
Bei jedem grÃñeren Abschnitt nickte er zufrieden, wie jemand, der eine
Sache bis zum Grund durchschaut.
Als ich zu der Stelle kam, wo die Erscheinung ohne Kopf vor mir
gestanden und mir die schwarzroten KÃrner hingehalten hatte, konnte er es
kaum erwarten, den Schluñ zu erfahren.
"Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm", murmelte er sinnend.
"Ich hÄtte nie gedacht, dañ es einen dritten ›Weg‹ geben kÃnnte.
"Es war das kein dritter Weg", sagte ich, "es war derselbe, wie wenn
ich die KÃrner abgelehnt hÄtte."
Er lÄchelte.
"Glauben Sie nicht, Herr Laponder?"
"Wenn Sie sie abgelehnt hÄtten, wÄren Sie wohl auch den ›Weg des
Lebens‹ gegangen, aber die KÃrner, die magische KrÄfte bedeuten, wÄren nicht
zurØckgeblieben. - So sind sie auf den Boden gerollt, wie Sie sagen. Das
heiñt: sie sind hiergeblieben und werden von Ihren Vorfahren so lange
gehØtet, bis die Zeit des Keimens da ist. Dann werden die KrÄfte, die in
Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden."
Ich verstand nicht: "Von meinen Vorfahren werden die KÃrner behØtet?"
"Sie mØssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie erlebt haben",
erklÄrte Laponder. "Der Kreis der blÄulich strahlenden Menschen, der Sie
umstand, war die Kette der ererbten ›Iche‹, die jeder von einer Mutter
Geborene mit sich herumschleppt. Die Seele ist nichts ›Einzelnes‹, - sie
soll es erst werden, und das nennt man dann: ›Unsterblichkeit‹; Ihre Seele
ist noch zusammengesetzt aus vielen ›Ichen‹ - so, wie ein Ameisenstaat aus
vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren in
sich: - die HÄupter Ihres Geschlechtes. Bei allen Wesen ist es so. Wie
kÃnnte denn ein Huhn, das aus einem Ei kØnstlich erbrØtet wurde, sich
sogleich die richtige Nahrung suchen, wenn nicht die Erfahrung von
Jahrmillionen in ihm stÄke? - Das Vorhandensein des ›Instinkts‹ verrÄt die
Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele. - Aber, verzeihen Sie, ich
wollte Sie nicht unterbrechen."
Ich erzÄhlte zu Ende. Alles. Auch das, was Mirjam Øber den
"Hermaphroditen" gesagt hatte.
Als ich innehielt und aufblickte, bemerkte ich, dañ Laponder weiñ
geworden war wie der Kalk an der Wand und TrÄnen Øber seine Wangen liefen.
Rasch stand ich auf, tat, als sÄhe ich es nicht, und ging in der Zelle
auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben wØrde.
Dann setzte ich mich ihm gegenØber und bot meine ganze Beredsamkeit
auf, ihn zu Øberzeugen, wie dringend nÃtig es wÄre, den Richtern gegenØber
auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.
"Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden hÄtten!", schloñ ich.
"Aber ich muñte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt", sagte er
naiv.
"Halten Sie denn eine LØge fØr schlimmer als - als einen Lustmord?",
fragte ich verblØfft.
"Im allgemeinen vielleicht nicht, in meinem Fall gewiñ. - Sehen Sie:
als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde, ob ich gestØnde, hatte ich
die Kraft, die Wahrheit zu sagen. Es stand also in meiner Wahl, zu lØgen
oder nicht zu lØgen. - Als ich den Lustmord beging - - bitte, ersparen Sie
mir die Details: es war so grÄñlich, dañ ich die Erinnerung nicht wieder
aufleben lassen mÃchte - - als ich den Lustmord beging, da hatte ich keine
Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen klarem Bewuñtsein handelte, so hatte ich
dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt
hatte, wachte auf und war stÄrker als ich. Glauben Sie, wenn ich die Wahl
gehabt haben wØrde, ich hÄtte gemordet? - Nie habe ich getÃtet - nicht
einmal das kleinste Tier, - und jetzt wÄre ich es schon gar nicht mehr
imstande.
Nehmen Sie an, es wÄre Menschengesetz: zu morden, und auf die
Unterlassung stØnde der Tod - Ähnlich, wie es im Krieg der Fall ist, -
augenblicklich hÄtte ich mir den Tod verdient. - Weil mir keine Wahl bliebe.
Ich kÃnnte ganz einfach nicht morden. Damals, als ich den Lustmord beging,
lag die Sache umgekehrt."
"Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer fØhlen, mØssen Sie
alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!", wandte ich ein.
Laponder machte eine abwehrende Handbewegung: "Sie irren! Die Richter
haben von ihrem Standpunkt aus ganz recht. Sollen sie einen Menschen wie
mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder Øbermorgen wieder
das Unheil losbricht?"
"Nein; aber in einer Heilanstalt fØr Geisteskranke sollte man Sie
internieren. Das ist es doch, was ich sage!"
"Wenn ich irrsinnig wÄre, hÄtten Sie recht", erwiderte Laponder
gleichmØtig. "Aber ich bin nicht irrsinnig. Ich bin etwas ganz anderes, -
etwas, was dem Irrsinn sehr Ähnlich sieht, aber gerade das Gegenteil ist.
Bitte, hÃren Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. - - - Was Sie mir
vorhin von dem Phantom ohne Kopf - ein Symbol natØrlich: dieses Phantom; den
SchlØssel kÃnnen Sie leicht finden, wenn Sie darØber nachdenken - erzÄhlten,
ist mir einst genauso passiert. Nur habe ich die KÃrner angenommen. Ich gehe
also den ›Weg des Todes‹! - FØr mich ist das Heiligste, das ich denken kann:
meine Schritte vom Geistigen in mir lenken zu lassen. Blind, vertrauensvoll,
wohin der Weg auch fØhren mag: ob zum Galgen oder zum Thron, ob zur Armut
oder zum Reichtum. Niemals habe ich gezÃgert, wenn die Wahl in meine Hand
gelegt war.
Darum habe ich auch nicht gelogen, als die Wahl in meiner Hand lag.
Kennen Sie die Worte des Propheten Micha:
"Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,
und was der Herr von dir fordert,"?
WØrde ich gelogen haben, hÄtte ich eine Ursache geschaffen, weil ich
die Wahl hatte; - - als ich den Mord beging, schuf ich keine Ursache; nur
die Wirkung einer in mir schlummernden, lÄngst gelegten Ursache, Øber die
ich keine Gewalt mehr besañ, wurde frei.
Also sind meine HÄnde rein.
Dadurch, dañ das Geistige in mir mich zum MÃrder werden lieñ, hat es
eine Hinrichtung an mir vollzogen; dadurch, dañ mich die Menschen an den
Galgen knØpfen, wird mein Schicksal losgelÃst von dem ihrigen: - ich komme
zur Freiheit."
Er ist ein Heiliger, fØhlte ich, und das Haar strÄubte sich mir vor
Schauder Øber meine eigene Kleinheit.
"Sie haben mir erzÄhlt, dañ Sie durch den hypnotischen Eingriff eines
Arztes in Ihr Bewuñtsein lange die Erinnerung an Ihre Jugendzeit vergessen
hatten", fuhr er fort. "Es ist das das Kennzeichen - das Stigma - aller
derer, die von der ›Schlange des geistigen Reiches‹ gebissen sind. Es
scheint fast, als mØñten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden, wie
ein Edelreis auf den wilden Baum, ehe das Wunder der Erweckung geschehen
kann; - was sonst durch den Tod getrennt wird, geschieht hier durch
ErlÃschen der Erinnerung - manchmal nur durch eine plÃtzliche innere Umkehr.
Bei mir war es so, dañ ich scheinbar ohne Äuñere Ursache in meinem 21.
Jahr eines Morgens wie verÄndert erwachte. Was mir bis dahin lieb gewesen,
erschien mir mit einemmal gleichgØltig: Das Leben kam mir dumm vor wie eine
Indianergeschichte und verlor an Wirklichkeit; die TrÄume wurden zu
Gewiñheit - zu apodiktischer, beweiskrÄftiger Gewiñheit, verstehen Sie wohl:
zu beweiskrÄftiger, realer Gewiñheit, und das Leben des Tages wurde zum
Traum.
Alle Menschen kÃnnten das, wenn sie den SchlØssel hÄtten. Und der
SchlØssel liegt einzig und allein darin, dañ man sich seiner ›Ichgestalt‹,
sozusagen seiner Haut, im Schlaf bewuñt wird, - die schmale Ritze findet,
durch die sich das Bewuñtsein zwÄngt zwischen Wachsein und Tiefschlaf.
Darum sagte ich vorhin: ›ich wandere‹ und nicht: ›ich trÄume‹.
Das Ringen nach der Unsterblichkeit ist ein Kampf um das Zepter gegen
die uns innewohnenden KlÄnge und Gespenster; und das Warten auf das
KÃnigwerden des eigenen ›Ichs‹ ist das Warten auf den Messias.
Der schemenhafte Habal Garmin, den Sie gesehen haben, der ›Hauch der
Knochen‹ der Kabbala, das war der KÃnig. Wenn er gekrÃnt sein wird, dann -
reiñt der Strick entzwei, mit dem Sie durch die Äuñeren Sinne und den
Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.
Wieso es kommen konnte, dañ ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben
Øber Nacht zum LustmÃrder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist wie
ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben nur die
eine. Ist die Kugel rot, heiñt der Mensch: ›schlecht‹. Ist sie gelb, dann
ist der Mensch: ›gut‹. Laufen zwei hintereinander - eine rote und eine
gelbe, dann hat ›man‹ einen ›ungefestigten‹ Charakter. Wir von der ›Schlange
Gebissenen‹, machen in einem Leben durch, was sonst an der ganzen Rasse in
einem Weltenalter geschieht: die farbigen Kugeln rasen hintereinander her
durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind - - dann sind wir Propheten, -
sind die Spiegel Gottes geworden."
Laponder schwieg.
Lange konnte ich kein Wort sprechen. Seine Rede hatte mich fast
betÄubt.
"Weshalb fragten Sie mich vorhin so Ängstlich nach meinen Erlebnissen,
wo Sie doch so viel, viel hÃher stehen als ich?", fing ich endlich wieder
an.
"Sie irren," sagte Laponder, "ich stehe weit unter Ihnen. - Ich fragte
Sie, weil ich fØhlte, dañ Sie den SchlØssel besitzen, der mir noch fehlte."
"Ich? Einen SchlØssel. O Gott!"
"Jawohl Sie! Und Sie haben ihn mir gegeben. - Ich glaube nicht, dañ es
einen glØcklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin."
Drauñen entstand ein GerÄusch; die Riegel wurden zurØckgeschoben, -
Laponder achtete kaum darauf:
"Das mit dem Hermaphroditen war der SchlØssel. Jetzt habe ich die
Gewiñheit. Schon deshalb bin ich froh, dañ man mich holen kommt, denn bald
bin ich am Ziel."
Vor TrÄnen konnte ich Laponders Gesicht nicht mehr unterscheiden, ich
hÃrte nur das LÄcheln in seiner Stimme.
"Und jetzt: Leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken Sie: das, was man
morgen aufhenkt, sind nur meine Kleider; Sie haben mir das SchÃnste
erÃffnet, - das Letzte, was ich noch nicht wuñte. Jetzt geht's zur Hochzeit
- - -," er stand auf und folgte dem GefangenwÄrter - "es hÄngt mit dem
Lustmord eng zusammen", waren die letzten Worte, die ich hÃrte und nur
dunkel begriff.
Sooft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel stand, glaubte ich immer
wieder Laponders schlafendes Gesicht auf der grauen Leinwand des Bettes
liegen zu sehen.
In den nÄchsten Tagen, nachdem er weggefØhrt worden war, hatte ich ein
HÄmmern und Zimmern aus dem Hinrichtungshof heraufdrÃhnen hÃren, das
manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.
Ich erriet, was es bedeutete, und hielt mir stundenlang die Ohren zu
vor Verzweiflung.
Monat um Monat verfloñ. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden
des kØmmerlichen Laubs im Hof; roch es an dem pelzigen Hauch, der aus den
Mauern drang.
Wenn mein Blick bei den RundgÄngen auf den sterbenden Baum fiel und das
eingewachsene Glasbild der Heiligen in seiner Rinde, zog ich unwillkØrlich
jedesmal den Vergleich, wie tief sich auch Laponders Gesicht in mich
eingegraben hatte. BestÄndig trug ich es in mir herum, dieses Buddhagesicht
mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen, immerwÄhrenden LÄcheln.
Ein einziges Mal noch - im September - hatte mich der
Untersuchungsrichter holen lassen und miñtrauisch gefragt, wie ich es
begrØnden kÃnne, dañ ich bei dem Bankschalter gesagt, ich mØsse dringend
verreisen, und warum ich in den Stunden vor meiner Verhaftung so unruhig
gewesen wÄre und meine sÄmtlichen Edelsteine zu mir gesteckt hÄtte.
Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu
nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch hÃhnisch gemeckert. -
Bis dahin war ich allein in meiner Zelle gewesen und konnte meinen
Gedanken, meiner Trauer um Charousek, der, wie ich fØhlte, lÄngst tot sein
muñte, und Laponder und meiner Sehnsucht nach Mirjam nachhÄngen.
Dann kamen wieder neue Gefangene: diebische Kommis mit verlebten
Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer, - "Waisenkinder", wie der schwarze
VÕssatka sie genannt haben wØrde, - und verpesteten mir die Luft und die
Stimmung.
Eines Tages gab einer von ihnen voll EntrØstung zum besten, dañ vor
geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum GlØck hÄtte man
den TÄter sogleich erwischt und kurzen Prozeñ mit ihm gemacht.
"Laponder hat er geheiñen, der Schuft, der gottserbÄrmliche", schrie
ein Kerl mit einer Raubtierschnauze, der wegen Kindsmiñhandlung zu - 14
Tagen GefÄngnis verurteilt worden war, dazwischen. "Auf frischer Tat
habn's'n g'fañt. Die Lampen is umg'fallen bei dem Krawall und's Zimmer is
ausbrennt. Die Leich' von dem MÄdel is dabei so verkohlt, dañ mer bis zum
heutigen Tage noch nÃt hat rausbringen kÃnnen, wer sie eigentlich war.
Schwarze Haar hat's g'habt und a schmal's G'sicht, dÃs is alls, was mer
weiñ. Und der Laponder hat net ums Verrecken rausg'rØckt mit ihrem Namen. -
Wann's nach mir gangen wÄr, i hÄtt ihm d'Haut ab'zogen und Pfeffer drauf
g'streut. - DÃs san halt die feinen Herren! MÃrder san's, alle z'samm. - - -
- Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann aner a MÄdel los sein wØll",
setzte er mit zynischem LÄcheln hinzu.
Die Wut kochte in mir, und am liebsten hÄtte ich den Halunken zu Boden
geschlagen.
Nacht fØr Nacht schnarchte er in dem Bett, auf dem Laponder gelegen.
Ich atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.
Aber selbst da war ich ihn noch nicht los: seine Rede hatte sich wie
ein Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.
Fast bestÄndig, hauptsÄchlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der
grausige Verdacht, Mirjam kÃnnte das Opfer Laponders gewesen sein.
Je mehr ich dagegen ankÄmpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem
Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.
Manchmal, besonders wenn der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es
besser: ich konnte mir die Stunden, die ich mit Laponder verlebt, dann
lebendig machen, und das tiefe GefØhl fØr ihn verscheuchte mir die Qual, -
aber nur zu oft kamen die grÄñlichen Minuten wieder, wo ich Mirjam ermordet
und verkohlt im Geiste vor mir sah und glaubte, vor Angst den Verstand
verlieren zu mØssen.
Die schwachen Anhaltspunkte, die ich fØr meinen Verdacht hatte,
verdichteten sich in solchen Zeiten zu einem geschlossenen Ganzen, - zu
einem GemÄlde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.
Anfang November gegen 10 Uhr abends, es war bereits stockfinster und
die Verzweiflung in mir hatte einen derartigen HÃhepunkt erreicht, dañ ich
mich, um nicht laut aufzuschreien, in meinen Strohsack verbiñ wie ein
verdurstendes Tier, Ãffnete plÃtzlich der GefangenwÄrter die Zelle und
forderte mich auf, mit ihm zum Untersuchungsrichter zu kommen. Ich fØhlte
mich so schwach, dañ ich mehr taumelte als ging.
Die Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu dØrfen, war
lÄngst in mir gestorben.
Ich machte mich darauf gefañt, wieder eine kalte Frage gestellt zu
bekommen, das stereotype Gemecker hinter dem Schreibtisch zu hÃren und dann
zurØck in die Finsternis zu mØssen.
Der Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein
alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.
Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen wØrde.
Es fiel mir auf, dañ der GefangenwÄrter mit hereingekommen war und mir
gutmØtig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als dañ ich mir
Øber die Bedeutung alles dessen hÄtte klarwerden kÃnnen.
"Die Untersuchung hat ergeben", fing der Schreiber an, meckerte, stieg
auf einen Sessel und kramte erst lange auf dem BØcherbord nach
SchriftstØcken, ehe er fortfuhr: "hat ergeben, dañ der in Frage kommende
Karl Zottmann vor seinem Tode anlÄñlich einer heimlichen Zusammenkunft mit
der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die damaliger
Zeit den Spitznamen ›die rote Rosina‹ fØhrte, dann spÄter von einem
taubstummen, nunmehr unter polizeilicher Aufsicht stehenden
Silhubettenschneider namens Jaromir KwÂñnitschka aus dem Weinsalon ›Kautsky‹
losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner Durchlaucht dem FØrsten
Ferri AthenstÄdt im gemeinsamen, wilden Konkubinate als Maiteresse lebt, von
hinterlistiger Hand in ein unterirdisches, aufgelassenes KellergewÃlbe des
Hauses Nummer conscriptionis 21873, gebrochen durch rÃmisch III, der
Hahnpañgasse, laufende Numero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und
sich selbst, beziehungsweise dem Tode durch Verhungern oder Erfrieren
Øberlassen wurde. - - Der obenerwÄhnte Zottmann nÄmlich", erklÄrte der
Schreiber mit einem Blick Øber die Brille hinweg und blÄtterte ein paarmal
um.
"Die Untersuchung hat weiters ergeben, dañ der obenerwÄhnte Karl
Zottmann allem Anscheine nach - nach eingetretenem Ableben - seiner
sÄmtlichen bei ihm getragenen Habseligkeiten, insbesondere seiner sub
faszikel rÃmisch P gebrochen durch ›BÄh‹ beigeschlossenen doppelmanteligen
Taschenuhr" - der Schreiber hob die Uhr an der Kette in die HÃhe - "beraubt
wurde. Der eidesstattlichen Aussage des Silhubettenschnitzers Jaromir
KwÂñnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17 Jahren verstorbenen
HostienbÄckers gleichen Namens: die Uhr im Bette seines inzwischen flØchtig
gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den AltwarenhÄndler und mehrfachen,
inzwischen aus dem Leben geschiedenen RealitÄtenbesitzer Aaron Wassertrum
gegen Inempfangnahme von Geldeswert verÄuñert zu haben, konnte mangels
GlaubwØrdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.
Die Untersuchung hat weiters ergeben, dañ die Leiche des erwÄhnten Karl
Zottmann in der rØckwÄrtigen Hosentasche zur Zeit ihrer Auffindung ein
Notizbuch bei sich trug, in der sie vermutlich bereits einige Tage vor
erfolgtem Ableben mehrere den Tatbestand erhellende und die Ergreifung des
TÄters durch die k. k. BehÃrden erleichternde Eintragungen vorgenommen
hatte.
Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge
auf den nunmehr durch die Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend
verdÄchtig gewordenen Loisa KwÂñnitschka, zurzeit flØchtig, gelenkt und
unter einem verfØgt, die Untersuchungshaft gegen Athanasius Pernath,
Gemmenschneider, dermalen noch unbescholten, aufzuheben, und das Verfahren
gegen ihn einzustellen.
Prag im Juli
gezeichnet
Dr. Freiherr von Leisetreter."
Der Boden schwankte unter meinen FØñen, und ich verlor eine Minute das
Bewuñtsein.
Als ich erwachte, sañ ich auf einem Stuhl, und der GefangenwÄrter
klopfte mir freundlich auf die Schulter.
Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich
und sagte zu mir:
"Die Verlesung der VerfØgung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr
Name mit einem ›PÄh‹ beginnt und naturgemÄñ im Alphabet erst gegen Schluñ
vorkommen kann." - Dann las er weiter:
"øberdies ist der Athanasius Pernath, Gemmenschneider, in Kenntnis zu
setzen, dañ ihm laut testamentarischer VerfØgung des im Mai mit Tod
abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek ein Drittel von dessen gesamter
Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und ist er zur Unterfertigung des
Protokolls hiermit anzuhalten."
Der Schreiber hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing
an zu schmieren.
Ich erwartete gewohnheitsmÄñig, dañ er meckern wØrde, aber er meckerte
nicht.
"Innocenz Charousek", murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.
Der GefangenwÄrter beugte sich Øber mich und flØsterte mir ins Ohr:
"Kurz vor seinem Tode war er bei mir, der Herr Dr. Charousek, und hat
sich nach Ihnen erkundigt. Er lÄñt Sie viel-vielmals grØñen, hat er g'sagt.
Ich hab's natØrlich damals nicht ausrichten dØrfen. Es ist streng verboten.
Ein schreckliches Ende hat er Øbrigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er
hat sich selbst entleibt. Man hat ihn tot auf dem GrabhØgel des Aaron
Wassertrum, auf der Brust liegend, gefunden. - Er hat zwei tiefe LÃcher in
die Erde gegraben gehabt, sich die Pulsadern aufgeschnitten und dann die
Arme in die LÃcher gesteckt. So ist er verblutet. Er ist wahrscheinlich
wahnsinnig gewesen, der Herr Dr. Char - - -"
Der Schreiber schob gerÄuschvoll seinen Stuhl zurØck und reichte mir
die Feder zum Unterschreiben.
Dann richtete er sich stolz auf und sagte genau im Tonfall seines
freiherrlichen Vorgesetzten:
"GefangenwÄrter, fØhren Sie den Mann hinaus."
Wie vor langer, langer Zeit hatte wiederum der Mann mit SÄbel und
Unterhosen im Torzimmer seine KaffeemØhle vom Schoñ genommen; nur dañ er
mich diesmal nicht untersuchte und mir meine Edelsteine, das Portemonnaie
mit den zehn Gulden darin, meinen Mantel und alles Øbrige zurØckgab. - - -
Dann stand ich auf der Strañe.
"Mirjam! Mirjam! Jetzt endlich naht das Widersehen!" - Ich unterdrØckte
einen Schrei wildesten EntzØckens.
Es muñte Mitternacht sein. Der Vollmond schwebte glanzlos wie ein
fahler Messingteller hinter Dunstschleiern.
Das Pflaster war mit einer zÄhen Schicht von Schmutz bedeckt.
Ich wankte auf eine Droschke zu, die im Nebel aussah wie ein
zusammengebrochenes vorsintflutliches Ungeheuer. Meine Beine versagten fast
den Dienst; ich hatte das Gehen verlernt und taumelte - auf empfindungslosen
Sohlen wie ein RØckenmarkskranker. - -
"Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie kÃnnen, in die Hahnpañgasse 7!
- Haben Sie mich verstanden?: - Hahnpañgasse 7."
Nach wenigen Metern Fahrt blieb die Droschke stehn.
"HahnpañgassÄ, gnÄ' Herr?"
"Ja, ja, nur rasch."
Wieder fuhr der Wagen ein StØck weiter. Wieder blieb er stehen.
"Um Himmels willen, was gibt's denn?"
"HahnpañgassÄØ, gnÄ' Herr?"
"Ja, ja. Ja doch."
"In die HahnpañgassÄ kann me doch nicht fahrrÄhn!"
"Warum denn nicht?"
"Ise sich doch ieberall Pflaste aufgrissen, Judenstadt wirde sich doch
assaniert."
"Also fahren Sie eben, soweit Sie kÃnnen, aber jetzt rasch gefÄlligst."
Die Droschke machte einen einzigen Galoppsprung und stolperte dann
gemÄchlich weiter.
Ich lieñ die klapprigen Fenster herunter und sog mit gierigen Lungen
die Nachtluft ein.
Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich neu: die HÄuser, die
Strañen, die geschlossenen LÄden. Ein weiñer Hund trabte einsam und
miñgelaunt auf dem nassen Trottoir vorØber. Ich sah ihm nach. - Wie
sonderbar!! Ein Hund! Ich hatte ganz vergessen, dañ es solche Tiere gab. -
Vor Freude kindisch rief ich ihm nach: "Aber, aber! Wie kann man nur so
verdrossen sein." - - -
Was Hillel wohl sagen wØrde!? - Und Mirjam?
Nur noch wenige Minuten und ich war bei ihnen. Nicht eher wollte ich
aufhÃren, an ihre TØr zu klopfen, bis ich sie aus den Federn getrieben.
Jetzt war ja alles gut - all der Jammer dieses Jahres vorØber! -
WØrde das ein Weihnachten werden!
Diesmal durfte ich es nicht verschlafen, wie das letztemal.
Einen Augenblick lahmte mich wieder das alte Entsetzen: die Worte des
StrÄflings mit der Raubtierschnauze fielen mir ein. Das verbrannte Gesicht -
der Lustmord - aber nein, nein! - Ich schØttelte es gewaltsam ab: nein,
nein, es konnte, es konnte nicht sein. - Mirjam lebte! Ich hatte doch ihre
Stimme aus Laponders Mund gehÃrt.
Nur noch eine Minute - eine halbe - - und dann -
Die Droschke hielt vor einem TrØmmerhaufen. Barrikaden aus
Pflastersteinen Øberall!
Rote Laternen brannten darauf.
Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern.
Halden von Schutt und Mauerbrocken versperrten den Weg. Ich kletterte
umher, versank bis ans Knie.
Das hier, das muñte doch die Hahnpañgasse sein?!
MØhsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum.
Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte?
Die Vorderseite war eingerissen.
Ich kletterte auf einen ErdhØgel; tief unter mir lief ein schwarzer,
gemauerter Gang die ehemalige Gasse entlang. Ich schaute empor: wie riesige
Bienenzellen hingen die bloñgelegten WohnrÄume nebeneinander in der Luft,
halb vom Fackelschein, halb von dem trØben Mondlicht beschienen.
Das dort oben, das muñte mein Zimmer sein - ich erkannte es an der
Bemalung der WÄnde.
Nur noch ein Streifen davon war Øbrig.
Und daranstoñend das Atelier - Saviolis. Mir wurde plÃtzlich ganz leer
im Herzen. Wie seltsam! Das Atelier! - Angelina! - - So weit, so unabsehbar
fern lag das alles hinter mir!
Ich drehte mich um: von dem Haus, in dem Wassertrum gewohnt, kein Stein
mehr auf dem andern. Alles dem Erdboden gleichgemacht: der TrÃdlerladen, die
Kellerwohnung Charouseks - - - alles, alles.
"Der Mensch geht dahin wie ein Schatten" - fiel mir ein Satz ein, den
ich einmal irgendwo gelesen.
Ich fragte einen Arbeiter, ob er nicht wisse, wo die Leute jetzt
wohnten, die hier ausgezogen seien; ob er vielleicht den Archivar Schemajah
Hillel kenne.
"Nix daitsch", war die Antwort.
Ich schenkte dem Mann einen Gulden: er verstand zwar sofort deutsch,
konnte mir aber keine Auskunft geben.
Auch von seinen Kameraden niemand.
Vielleicht, dañ beim "Loisitschek" etwas zu erfahren wÄre?
Der "Loisitschek" sei gesperrt, hieñ es, das Haus wØrde renoviert.
Also irgend jemand in der Nachbarschaft wecken! - Ging das nicht?
"Weit a breit wohnt sich keine Katz," sagte der Arbeiter; "weil ise
behÄrdlich verbotten. Von wÄgen Typhus."
"Der ›Ungelt‹? Der wird doch offen haben?"
"Ungelt ise sich geschlossen."
"Bestimmt?"
"Bestimmt!"
Aufs Geratewohl nannte ich ein paar Namen von HÃcklern und
Tabaktrafikantinnen, die in der NÄhe gewohnt hatten; dann die Namen Zwakh,
Vrieslander, Prokop - -
Bei allen schØttelte der Mann den Kopf.
"Vielleicht kennen Sie den Jaromir KwÂñnitschka?"
Der Arbeiter horchte auf.
"Jaromir? Ise sich taubstumm?"
Ich jubelte. Gott sei Dank. Wenigstens ein Bekannter.
"Ja, er ist taubstumm. Wo wohnt er?"
"Schneid 'e sich Bildeln aus? Aus schwarzem Pappjir?"
"Ja. Er ist es schon. Wo kann ich ihn wohl treffen?"
So umstÄndlich wie mÃglich bezeichnete mir der Mann ein NachtcafÊhaus
in der inneren Stadt und fing sofort wieder an zu schaufeln.
øber eine Stunde lang watete ich durch Schuttfelder, balancierte Øber
schwankende Bretter und kroch unter Querbalken durch, die die Strañen
versperrten. Das ganze Judenviertel war eine einzige SteinwØste, als hÄtte
ein Erdbeben die Stadt zerstÃrt.
Atemlos vor Aufregung, schmutzbedeckt und mit zerrissenen Schuhen fand
ich mich endlich aus dem Labyrinth heraus.
Ein paar HÄuserreihen, und ich stand vor der gesuchten Spelunke.
"Cafe Chaos" stand darØber geschrieben.
Ein menschenleeres, winziges Lokal, das kaum genØgend Platz lieñ fØr
die paar Tische, die an die WÄnde gerØckt waren.
In der Mitte auf einem dreibeinigen Billard schlief ein Kellner und
schnarchte.
Ein Marktweib, mit einem GemØsekorb vor sich, sañ in der Ecke und
nickte Øber einem Glase Caj.
Endlich geruhte der Kellner aufzustehen und mich zu fragen, was ich
wØnschte. Bei dem frechen Blick, mit dem er mich vom Kopf bis zu Fuñ
musterte, kam mir erst zum Bewuñtsem, wie abgerissen ich aussehen muñte.
Ich warf einen Blick in den Spiegel und entsetzte mich: ein fremdes,
blutleeres Gesicht, faltig, grau wie Kitt, mit struppigem Bart und wirrem,
langem Haar starrte mir entgegen.
Ob der Silhouettenschneider Jaromir nicht dagewesen sei, fragte ich und
bestellte schwarzen Kaffee.
"Woañ net, wo er so lang bleibt", war die gegÄhnte Antwort.
Dann legte sich der Kellner wieder auf das Billard und schlief weiter.
Ich nahm das "Prager Tagblatt" von der Wand und - wartete.
Die Buchstaben liefen wie Ameisen Øber die Seiten, und ich begriff
nicht ein einziges Wort von dem, was ich las.
Die Stunden vergingen, und hinter den Scheiben zeigte sich bereits das
verdÄchtige tiefe Dunkelblau, das den Einbruch der MorgendÄmmerung fØr ein
Lokal mit Gasbeleuchtung anzeigt.
Hie und da spÄhten ein paar Schutzleute mit grØnlich schillernden
FederbØschen herein und gingen in langsamem, schwerem Schritt wieder weiter.
Drei ØbernÄchtig aussehende Soldaten traten ein.
Ein Strañenkehrer nahm einen Schnaps.
Endlich, endlich: Jaromir.
Er hatte sich so verÄndert, dañ ich ihn anfangs gar nicht
wiedererkannte: die Augen erloschen, die VorderzÄhne ausgefallen, das Haar
schØtter und tiefe HÃhlen hinter den Ohren.
Ich war so froh, nach so langer Zeit wieder ein bekanntes Gesicht zu
sehen, dañ ich aufsprang, ihm entgegenging und seine Hand fañte.
Er benahm sich auñerordentlich scheu und blickte immerwÄhrend nach der
TØre. Durch alle mÃglichen Gesten suchte ich ihm begreiflich zu machen, dañ
ich mich freute, ihn getroffen zu haben. - Er schien es mir lange nicht zu
glauben.
Aber, was fØr Fragen ich auch stellte, stets die gleiche hilflose
Handbewegung des Nichtverstehens bei ihm.
Wie konnte ich mich nur verstÄndlich machen?!
Halt! Eine Idee!
Ich lieñ mir einen Bleistift geben und zeichnete nacheinander die
Gesichter von Zwakh, Vrieslander und Prokop auf.
"Was? Alle nicht mehr in Prag?"
Er fuchtelte lebhaft in der Luft herum, machte die GebÄrde des
GeldzÄhlens, marschierte mit den Fingern Øber den Tisch, schlug sich auf den
HandrØcken. Ich erriet: alle drei hatten wahrscheinlich von Charousek Geld
bekommen und zogen jetzt als kaufmÄnnische Kompagnie mit dem vergrÃñerten
Marionettentheater durch die Welt.
"Und Hillel? Wo wohnt er jetzt?" - Ich zeichnete sein Gesicht, ein Haus
dazu und ein Fragezeichen.
Das Fragezeichen verstand Jaromir nicht; - er konnte nicht lesen, aber
er begriff, was ich wollte, - nahm ein Streichholz, warf es scheinbar in die
HÃhe und lieñ es nach Taschenspielerart geschickt verschwinden.
Was bedeutete das? Hillel sollte auch verreist sein?
Ich zeichnete das jØdische Rathaus auf.
Der Taubstumme schØttelte heftig den Kopf.
"Hillel ist also nicht mehr dort?"
"Nein!" (KopfschØtteln.)
"Wo ist er denn?"
Wieder das Spiel mit dem Streichholz.
"Er meint halt, dañ der Herr weg ist, und niem'd weiñ nicht, wohin",
mischte sich der Strañenkehrer, der uns die ganze Zeit Øber interessiert
zugesehen hatte, belehrend ein.
Vor Schreck krampfte sich mir das Herz zusammen: Hillel fort! - Jetzt
war ich ganz allein auf der Welt. - - Die GegenstÄnde im Zimmer fingen vor
meinen Augen an zu flimmern.
"Und Mirjam?"
Meine Hand zitterte so stark, dañ ich ihr Gesicht lange nicht Ähnlich
zeichnen konnte.
"Ist Mirjam auch verschwunden?"
"Ja. Auch verschwunden. Spurlos."
Ich stÃhnte laut auf, lief im Zimmer hin und her, dañ die drei Soldaten
einander fragend anblickten.
Jaromir suchte mich zu beruhigen und bemØhte sich, mir noch etwas
anderes mitzuteilen, was er erfahren zu haben schien: er legte den Kopf auf
den Arm, wie jemand, der schlÄft.
Ich hielt mich an der Tischplatte: "Um Gottes Christi willen, Mirjam
ist gestorben?"
KopfschØtteln. Jaromir wiederholte die GebÄrde des Schlafens.
"War Mirjam krank gewesen?" Ich zeichnete eine Medizinflasche.
KopfschØtteln. Wieder legte Jaromir die Stirn auf den Arm. - - -
Das Zwielicht kam, eine Gasflamme nach der andern erlosch und noch
immer konnte ich nicht herausbringen, was die Geste bedeuten sollte.
Ich gab es auf. Dachte nach.
Das einzige, was mir zu tun blieb, war, in aller FrØhe auf das jØdische
Rathaus zu gehen, um dort Erkundigungen einzuziehen, wohin Hillel mit Mirjam
gereist sein kÃnne.
Ich muñte ihm nach. - - -
Wortlos sañ ich neben Jaromir. Stumm und taub wie er.
Als ich nach einer langen Zeit aufblickte, sah ich, dañ er mit einer
Schere an einer Silhouette herumschnitt.
Ich erkannte das Profil Rosinas. Er reichte mir das Blatt Øber den
Tisch herØber, legte die Hand auf die Augen und - weinte still vor sich hin.
- -
Dann sprang er plÃtzlich auf und taumelte ohne Gruñ zur TØr hinaus.
Der Archivar Schemajah Hillel sei eines Tages ohne Grund ausgeblieben
und nicht mehr wiedergekommen; seine Tochter habe er jedenfalls mitgenommen,
denn auch sie sei von niemand mehr gesehen worden seit jener Zeit, hatte man
mir auf dem jØdischen Rathaus gesagt. Das war alles, was ich erfahren
konnte.
Keine Spur, wohin sie sich gewandt haben mochten.
Auf der Bank hieñ es, mein Geld sei gerichtlich immer noch mit Beschlag
belegt, man erwarte aber tÄglich den Bescheid, es mir auszahlen zu dØrfen.
Also auch die Erbschaft Charouseks muñte noch den Amtsweg gehen, und
ich wartete doch mit brennender Ungeduld auf das Geld, um dann alles
aufzubieten, Hillels und Mirjams Spur zu suchen.
Ich hatte meine Edelsteine verkauft, die ich noch in der Tasche gehabt,
und mir zwei kleine, mÃblierte, aneinanderstoñende Dachkammern in der
Altschulgasse - die einzige Gasse, die von der Assanierung der Judenstadt
verschont geblieben, - gemietet.
Sonderbarer Zufall: es war dasselbe wohlbekannte Haus, von dem die Sage
ging, der Golem sei einst darin verschwunden.
Ich hatte mich bei den Bewohnern - zumeist kleine Kaufleute oder
Handwerker - erkundigt, was denn Wahres an dem GerØcht von dem "Zimmer ohne
Zugang" sei, und war ausgelacht worden. - Wie man einen derartigen Unsinn
denn glauben kÃnne!
Meine eigenen Erlebnisse, die sich darauf bezogen, hatten im GefÄngnis
die BlÄsse eines lÄngst verwehten Traumbildes angenommen und ich sah in
ihnen nur noch Symbole ohne Blut und Leben, - strich sie aus dem Buch meiner
Erinnerungen.
Die Worte Laponders, die ich zuweilen so klar in mir hÃrte, als sÄñe er
mir gegenØber wie damals in der Zelle und sprÄche zu mir, bestÄrkten mich
darin, dañ ich rein innerlich geschaut haben mØsse, was mir ehedem greifbare
Wirklichkeit geschienen.
War denn nicht alles vergangen und verschwunden, was ich einst besessen
hatte? Das Buch Ibbur, das phantastische Tarockspiel, Angelina und sogar
meine alten Freunde Zwakh, Vrieslander und Prokop! - - -
Es war Weihnachtsabend, und ich hatte mir einen kleinen Baum mit roten
Kerzen nach Hause gebracht. Ich wollte noch einmal jung sein und
Lichterglanz um mich haben und den Duft von Tannennadeln und brennendem
Wachs.
Ehe das Jahr noch zu Ende ging, war ich vielleicht schon unterwegs und
suchte in StÄdten und DÃrfern, oder wohin es mich innerlich ziehen wØrde,
nach Hillel und Mirjam.
Alle Ungeduld, alles Warten war allmÄhlich von mir gewichen und alle
Furcht, Mirjam kÃnne ermordet worden sein, und mit dem Herzen wuñte ich, ich
wØrde sie beide finden.
Es war ein bestÄndiges glØckliches LÄcheln in mir, und wenn ich meine
Hand auf etwas legte, kam mir's vor, als ginge ein Heilen von ihr aus. Die
Zufriedenheit eines Menschen, der nach langer Wanderung heimkehrt und die
TØrme seiner Vaterstadt von weitem blinken sieht, erfØllte mich auf ganz
sonderbare Weise.
Einmal war ich noch in dem kleinen Kaffeehaus gewesen, um Jaromir zum
Weihnachtsabend zu mir zu holen. - Er habe sich nie mehr blicken lassen,
erfuhr ich, und schon wollte ich betrØbt wieder gehen, da kam ein alter
TabulettkrÄmer herein und bot kleine, wertlose AntiquitÄten zum Kauf an.
Ich kramte in seinem Kasten unter all den UhranhÄngseln, kleinen
Kruzifixen, Kammnadeln und Broschen herum, da fiel mir ein Herz aus rotem
Stein an einem verschossenen Seidenbande in die Hand, und ich erkannte es
voll Erstaunen als das Andenken, das mir Angelina, als sie noch ein kleines
MÄdchen gewesen, einst beim Springbrunnen in ihrem Schloñ geschenkt hatte.
Und mit einem Schlag stand meine Jugendzeit vor mir, als sÄhe ich in
einen Guckkasten tief hinein in ein kindlich gemaltes Bild. -
Lange, lange stand ich erschØttert da und starrte auf das kleine, rote
Herz in meiner Hand. - - -
Ich sañ in der Dachkammer und lauschte dem Knistern der Tannennadeln,
wenn hie und da ein kleiner Zweig Øber den Wachskerzen zu glimmen begann.
"Vielleicht spielt gerade jetzt in dieser Stunde der alte Zwakh
irgendwo in der Welt seinen ›Marionettenweihnachtsabend‹", malte ich mir
aus, - "und deklamiert mit geheimnisvoller Stimme die Strophe seines
Lieblingsdichters Oskar Wiener":
Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Es hÄngt an einem Seidenbande.
O du, o gib das Herz nicht her;
Ich war ihm treu und hatt' es lieb,
Und diente sieben Jahre schwer
Um dieses Herz, und hatt' es lieb!"
EigentØmlich feierlich wurde mir plÃtzlich zumute.
Die Kerzen waren heruntergebrannt. Nur eine einzige flackerte noch.
Rauch ballte sich im Zimmer.
Als ob mich eine Hand zÃge, wandte ich mich plÃtzlich um und:
Da stand mein Ebenbild auf der Schwelle. Mein DoppelgÄnger. In einem
weiñen Mantel. Eine Krone auf dem Kopf.
Nur einen Augenblick.
Dann brachen Flammen durch das Holz der TØr, und eine Wolke
erstickenden heiñen Qualms schlug herein:
Feuersbrunst im Haus! Feuer! Feuer!
Ich reiñe das Fenster auf. Klettere auf das Dach hinaus.
Von weitem rast schon das gellende Klingeln der Feuerwehr heran.
Blitzende Helme und abgehackte Kommandorufe.
Dann das gespenstische, rhythmische, schlapfende Atmen der Pumpen, wie
die DÄmonen des Wassers sich ducken zum Sprung auf ihren Todfeind: das
Feuer.
Glas klirrt und rote Lohe schieñt aus allen Fenstern.
Matratzen werden hinuntergeworfen, die ganze Strañe liegt voll davon,
Menschen springen nach, werden verwundet weggetragen.
In mir aber jauchzt etwas auf in wilder jubelnder Ekstase; ich weiñ
nicht warum. Das Haar strÄubt sich mir.
Ich laufe auf den Schornstein zu, um nicht versengt zu werden, denn die
Flammen greifen nach mir.
Das Seil eines Rauchfangkehrers ist herumgewickelt.
Ich rolle es auf, schlinge es um Handgelenk und Bein, wie ich es als
Knabe beim Turnen gelernt habe, und lasse mich ruhig an der Fassade des
Hauses hinab. -
Komme an einem Fenster vorbei. Blicke hinein:
Drin ist alles blendend erleuchtet.
Und da sehe ich - - - da sehe ich - - - mein ganzer KÃrper wird ein
einziger hallender Freudenschrei:
"Hillel! Mirjam! Hillel!"
Ich will auf die GitterstÄbe losspringen.
Greife daneben. Verliere den Halt am Seil.
Einen Augenblick hÄnge ich, Kopf abwÄrts, die Beine gekreuzt, zwischen
Himmel und Erde.
Das Seil singt bei dem Ruck. Knirschend dehnen sich die Fasern.
Ich falle.
Mein Bewuñtsein erlischt.
Noch im Sturz greife ich nach dem Fenstersims, aber ich gleite ab. Kein
Halt:
der Stein ist glatt.
Glatt wie ein StØck Fett.
"- - - wie ein StØck fett!"
Das ist der Stein, der aussieht wie ein StØck Fett.
Die Worte gellen mir noch in den Ohren. Dann richte ich mich auf und
muñ mich besinnen, wo ich bin.
Ich liege im Bett und wohne im Hotel.
Ich heiñe doch gar nicht Pernath.
Habe ich das alles nur getrÄumt?
Nein! So trÄumt man nicht.
Ich schaue auf die Uhr: kaum eine Stunde habe ich geschlafen. Es ist
halb drei.
Und dort hÄngt der fremde Hut, den ich heute im Dom auf dem Hradschin
verwechselt habe, als ich beim Hochamt auf der Betbank sañ.
Steht ein Name darin?
Ich nehme ihn und lese in goldenen Buchstaben auf dem weiñen
Seidenfutter den fremden und doch so bekannten Namen:
Jetzt lÄñt es mir keine Ruhe mehr; ich ziehe mich hastig an und laufe
die Treppe hinunter.
"Portier! Aufmachen! Ich gehe noch eine Stunde spazieren."
"Wohin, bitt schÄn?"
"In die Judenstadt. In die Hahnpañgasse. Gibt's Øberhaupt eine Strañe,
die so heiñt?"
"Freilich, freilich" - der Portier lÄchelt malitiÃs - "aber in der
Judenstadt, ich mache aufmerksam: ist nicht mehr viel los. Alles neu gebaut,
bitte."
"Macht nichts. Wo liegt die Hahnpañgasse?"
Der dicke Finger des Portiers deutet auf die Karte: "Hier, bitte."
"Und die Schenke ›Zum Loisitschek‹?"
"Hier, bitte."
"Geben Sie mir ein groñes StØck Papier."
"Hier, bitte."
Ich wickle Pernaths Hut hinein. MerkwØrdig: er ist fast neu, tadellos
sauber und doch so brØchig, als wÄre er uralt. -
Unterwegs Øberlege ich:
Alles, was dieser Athanasius Pernath erlebt hat, habe ich im Traum
miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehÃrt, mitgefØhlt, als wÄre ich er
gewesen. Warum weiñ ich denn aber nicht, was er in dem Augenblick, als der
Strick riñ und er "Hillel, Hillel!" rief, hinter dem Gitterfenster erblickt
hat?
Er hat sich in diesem Augenblick von mir getrennt, begreife ich.
Ich muñ diesen Athanasius Pernath auffinden, und wenn ich drei Tage und
drei NÄchte herumlaufen sollte, nehme ich mir vor. - - -
Also das ist die Hahnpañgasse?
Nicht annÄhernd so habe ich sie im Traum gesehen! -
Lauter neue HÄuser.
Eine Minute spÄter sitze ich im CafÊ Loisitschek. Ein stilloses,
ziemlich sauberes Lokal.
Im Hintergrund allerdings eine Estrade mit HolzgelÄnder; eine gewisse
ähnlichkeit mit dem alten getrÄumten "Loisitschek" ist nicht zu leugnen.
"Befehlen, bitt' schÃn?", fragt die Kellnerin, ein dralles MÄdel, in
einen rotsamtenen Frack buchstÄblich hineingeknallt.
"Kognak, FrÄulein. - So, danke."
"- Hm. FrÄulein!"
"Bitte?"
"Wem gehÃrt das Kaffeehaus?"
"Dem Herrn Kommerzialrat Loisitschek. - Das ganze Haus gehÃrt ihm. Ein
sehr feiner reicher Herr."
- Aha, der Kerl mit den SchweinszÄhnen an der Uhrkette! erinnere ich
mich. -
Ich habe einen guten Einfall, der mich orientieren wird:
"FrÄulein!"
"Bitte?"
"Wann ist die steinerne BrØcke eingestØrzt?"
"Vor dreiunddreiñig Jahren."
"Hm. Vor dreiunddreiñig Jahren!" - ich Øberlege: der Gemmenschneider
Pernath muñ also jetzt fast neunzig sein.
"FrÄulein!"
"Bitte?"
"Ist hier niemand unter den GÄsten, der sich noch erinnern kann, wie
die alte Judenstadt von damals ausgesehen hat? Ich bin Schriftsteller und
interessiere mich dafØr."
Die Kellnerin denkt nach: "Von den GÄsten? Nein. - Aber warten S': der
Billardmarqueur, der dort mit einem Studenten Carambol spielt, - sehen Sie
ihn? Der mit der Hakennase, der Alte, - der hat immer hier gelebt und wird
Ihnen alles sagen. Soll ich ihn rufen, wenn er fertig ist?"
Ich folgte dem Blick des MÄdchens:
Ein schlanker, weiñhaariger, alter Mann lehnt drØben am Spiegel und
kreidet seine Queue. Ein verwØstetes, aber seltsam vornehmes Gesicht. Woran
erinnert er mich nur?
"FrÄulein, wie heiñt der Marqueur?"
Die Kellnerin stØtzt sich im Stehen mit dem Ellenbogen auf den Tisch,
leckt an einem Bleistift, schreibt in Windeseile ihren Vornamen unzÄhlige
Male auf die Marmorplatte und lÃscht ihn jedesmal mit nassem Finger rasch
wieder aus. Dazwischen wirft sie mir mehr oder minder sengende Glutblicke
zu; - je nachdem sie ihr gelingen. UnerlÄñlich ist natØrlich das
gleichzeitige Emporziehen der Augenbrauen, denn es erhÃht das MÄrchenhafte
des Blickes.
"FrÄulein, wie heiñt der Marqueur?", wiederhole ich meine Frage. Ich
sehe ihr an, sie hÄtte lieber gehÃrt: FrÄulein, warum tragen Sie nicht nur
einen Frack? oder etwas ähnliches, aber ich frage es nicht; mir geht mein
Traum zu sehr im Kopf herum.
"No, wie wird er denn heiñen," schmollt sie, "Ferri heiñt er halt.
Ferri AthenstÄdt."
"So so? Ferri AthenstÄdt! - Hm, - also wieder ein alter Bekannter."
"ErzÄhlen Sie mir doch recht, recht viel von ihm, FrÄulein," girre ich,
muñ mich aber sofort mit einem Kognak stÄrken, "Sie plaudern gar so herzig!"
(Ich ekle mich vor mir selber.)
Sie neigt sich geheimnisvoll dicht zu mir, damit mich ihre Haare im
Gesicht kitzeln, und flØstert:
"Der Ferri, der war Ihnen frØher ein ganz ein Geriebener. - Er soll von
uraltem Adel gewesen sein - es ist natØrlich nur so ein Gerede, weil er
keinen Bart nicht trÄgt - und furchtbar viel Geld g'habt habn. Eine
rothaarige JØdin, die schon von Jugend auf eine ›Person‹ war" - sie schrieb
wieder rasch ein paarmal ihren Namen auf - "hat ihn dann ganz ausgezogen. -
Punkto Geld mein' ich natØrlich. No, und wie er dann kein Geld nicht mehr
gehabt hat, ist sie weg und hat sich von einem hohen Herrn heiraten lassen:
von dem ..." - sie flØsterte mir einen Namen ins Ohr, den ich nicht
verstehe. "Der hohe Herr hat dann natØrlich auf alle Ehre verzichten mØssen
und sich von da an nur mehr Ritter von DÄmmerich nennen dØrfen. No ja. Aber
dañ sie frØher eine ›Person‹ g'wesen ist, hat er ihr halt doch nicht
wegwaschen kÃnnen. Ich sag immer -."
"Fritzi! Zahlen!" ruft jemand von der Estrade herab. -
Ich lasse meine Blicke durch das Lokal wandern, da hÃre ich plÃtzlich
ein leises metallisches Zirpen, wie von einer Grille, hinter mir.
Ich drehe mich neugierig um. Traue meinen Augen nicht:
Das Gesicht zur Wand gekehrt, alt wie Methusalem, eine Spieldose, so
klein wie eine Zigarettenschachtel, in zitternden SkeletthÄnden sitzt ganz
in sich zusammengesunken - der blinde, greise Nephtali Schaffranek in der
Ecke und leiert mit der winzigen Kurbel.
Ich trete zu ihm.
Im FlØsterton singt er konfus vor sich hin:
"Frau Pick,
Frau Hock.
Und rote, blaue Stern
die schmusen allerhand.
Von Messinung, an RÄucherl und Rohn."
"Wissen Sie, wie der alte Mann heiñt?" frage ich einen vorbeieilenden
Kellner.
"Nein, mein Herr, niemand kennt weder ihn noch seinen Namen. Er selbst
hat ihn vergessen. Er ist ganz allein auf der Welt. Bitte, er ist 110 Jahre
alt! Er kriegt bei uns jede Nacht einen sogenannten Gnadenkaffee."
Ich beugte mich Øber den Greis, - rufe ihm ein Wort ins Ohr:
"Schaffranek!"
Es durchfÄhrt ihn wie ein Blitz. Er murmelt etwas, streicht sich
sinnend Øber die Stirn.
"Verstehen Sie mich, Herr Schaffranek?"
Er nickt.
"Passen Sie mal gut auf! Ich mÃchte Sie etwas fragen, aus alter Zeit.
Wenn Sie mir alles gut beantworten, bekommen Sie den Gulden, den ich hier
auf den Tisch lege."
"Gulden", wiederholt der Greis und fÄngt sofort an, wie ein Rasender
auf seiner zirpenden Spieldose zu kurbeln.
Ich halte seine Hand fest: "Denken Sie einmal nach! - Haben Sie nicht
vor etwa 33 Jahren einen Gemmenschneider namens Pernath gekannt?"
"Hadrbolletz! Hosenschneider!" - lallt er asthmatisch auf und lacht
Øbers ganze Gesicht, in der Meinung, ich hÄtte ihm einen famosen Witz
erzÄhlt.
"Nein, nicht Hadrbolletz: - - Pernath!"
"Pereles?!" - er jubelt fÃrmlich.
"Nein, auch nicht Pereies. - Per-nath!"
"Pascheies?!" - er krÄht vor Freude. - -
Ich gebe enttÄuscht meinen Versuch auf.
"Sie wollten mich sprechen, mein Herr?", - der Marqueur Ferri
AthenstÄdt steht vor mir und verbeugt sich kØhl.
"Ja. Ganz richtig. - Wir kÃnnen dabei eine Partie Billard spielen."
"Spielen Sie um Geld, mein Herr? Ich gebe Ihnen 90 auf 100 vor."
"Also gut: um einen Gulden. Fangen Sie vielleicht an, Marqueur."
Seine Durchlaucht nimmt das Queue, zielt, gickst, macht ein Ärgerliches
Gesicht. Ich kenne das: er lÄñt mich bis 9 kommen, und dann macht er in
einer Serie "aus".
Mir wird immer kurioser zumute. Ich gehe direkt auf mein Ziel los:
"Entsinnen Sie sich, Herr Marqueur: vor langer Zeit, etwa in den
Jahren, als die steinerne BrØcke einstØrzte, in der damaligen Judenstadt
einen gewissen - Athanasius Pernath gekannt zu haben?"
Ein Mann in einer rotweiñgestreiften Leinwandjacke, mit Schielaugen und
kleinen goldenen Ohrringen, der auf einer Bank an der Wand sitzt und eine
Zeitung liest, fÄhrt auf, stiert mich an und bekreuzigt sich.
"Pernath? Pernath?" wiederholt der Marqueur und denkt angestrengt nach
- "Pernath? - War er nicht groñ, schlank? Braunes Haar, melierten
kurzgeschnittenen Spitzbart?"
"Ja. Ganz richtig."
"Etwa vierzig Jahre alt damals? Er sah aus wie --", Seine Durchlaucht
starrt mich plÃtzlich Øberrascht an. - "Sie sind ein Verwandter von ihm,
mein Herr?!"
Der SchielÄugige bekreuzigt sich.
"Ich? Ein Verwandter? Komische Idee. - Nein. Ich interessiere mich nur
fØr ihn. Wissen Sie noch mehr?", sage ich gelassen, fØhle aber, dañ mir
eiskalt im Herzen wird.
Ferri AthenstÄdt denkt wieder nach.
"Wenn ich nicht irre, galt er seinerzeit fØr verrØckt. - Einmal
behauptete er, er hieñe - warten Sie mal, - ja: Laponder! Und dann wieder
gab er sich fØr einen gewissen - Charousek aus."
"Kein Wort wahr!" fÄhrt der SchielÄugige dazwischen. "Den Charousek
hat's wirklich gegeben. Mein Vater hat doch mehrere 1000 fl von ihm geerbt."
"Wer ist dieser Mann?", fragte ich den Marqueur halblaut.
"Er ist FÄhrmann und heiñt Tschamrda. - Was den Pernath betrifft, so
erinnere ich mich nur, oder glaube es wenigstens - dañ er in spÄteren Jahren
eine sehr schÃne, dunkelhÄutige JØdin geheiratet hat."
"Mirjam!" sage ich mir und werde so aufgeregt, dañ mir die HÄnde
zittern und ich nicht mehr weiterspielen kann.
Der FÄhrmann bekreuzigt sich.
"Ja, was ist denn heute mit Ihnen los, Herr Tschamrda?", fragt der
Marqueur erstaunt.
"Der Pernath hat niemals nicht gelebt", schreit der SchielÄugige los.
"Ich glaub's nicht."
Ich schenke dem Mann sofort einen Kognak ein, damit er gesprÄchiger
wird.
"Es gibt ja wohl Leut', die sagen, der Pernath lebt noch immer", rØckt
der FÄhrmann endlich heraus, "er is, hÃr ich. Kammschneider und wohnt auf
dem Hradschin."
"Wo auf dem Hradschin?"
Der FÄhrmann bekreuzigt sich:
"Das ist es ja eben! Er wohnt, wo kein lebender Mensch wohnen kann: an
der Mauer zur letzten Latern."
"Kennen Sie sein Haus, Herr - Herr - Tschamrda?"
"Nicht um die Welt mÃcht ich dort hinaufgehen!", protestiert der
SchielÄugige. "WofØr halten Sie mich? Jesus, Maria und Josef!"
"Aber den Weg hinauf kÃnnten Sie mir doch von weitem zeigen, Herr
Tschamrda?"
"Das schon", brummte der FÄhrmann. "Wenn Sie warten wollen bis 6 Uhr
frØh; dann geh ich zur Moldau hinunter. Aber ich rat Ihnen ab! Sie stØrzen
in den Hirschgraben und brechen Hals und Knochen! Heilige Muttergottes!"
Wir gehen zusammen durch den Morgen; frischer Wind weht vom Flusse her.
Ich fØhle vor Erwartung kaum den Boden unter mir.
PlÃtzlich taucht das Haus in der Altschulgasse vor mir auf.
Jedes Fenster erkenne ich wieder: die geschweifte Dachrinne, das
Gitter, die fettig glÄnzenden Steinsimse - alles, alles!
"Wann ist dieses Haus abgebrannt?", frage ich den SchielÄugigen. Es
braust mir in den Ohren vor Spannung.
"Abgebrannt? Niemals nicht!"
"Doch! Ich weiñ es bestimmt."
"Nein."
"Aber ich weiñ es doch! Wollen Sie wetten?"
"Wieviel?"
"Einen Gulden."
"Gemacht!" - Und Tschamrda holt den Hausmeister heraus. "Ist dieses
Haus jemals abgebrannt?"
"I woher denn!" Der Mann lacht. -
Ich kann und kann es nicht glauben.
"Schon siebzig Jahr' wohn ich drin," beteuert der Hausmeister, "ich
mØñt's doch wahrhaftig wissen."
- - - Sonderbar, sonderbar! - - -
Der FÄhrmann rudert mich in seinem Kahn, der aus acht ungehobelten
Brettern besteht, mit komischen schiefen Zuckbewegungen Øber die Moldau. Die
gelben Wasser schÄumen gegen das Holz. Die DÄcher des Hradschins glitzern
rot in der Morgensonne. Ein unbeschreiblich feierliches GefØhl ergreift
Besitz von mir. Ein leise dÄmmerndes GefØhl wie aus einem frØheren Dasein,
als sei die Welt um mich her verzaubert - eine traumhafte Erkenntnis, als
lebte ich zuweilen an mehreren Orten zugleich.
Ich steige aus.
"Wieviel bin ich schuldig, Herr Tschamrda?"
"Einen Kreuzer. Wenn Sie mitg'holfen hÄtten rudern, - hÄtt's zwei
Kreuzer 'kost."
Denselben Weg, den ich heute nacht im Schlaf schon einmal gegangen,
wandere ich wieder empor: die kleine, einsame Schloñstiege. Mir klopft das
Herz und ich weiñ voraus: jetzt kommt der kahle Baum, dessen äste Øber die
Mauer herØbergreifen.
Nein: er ist mit weiñen BlØten besÄt.
Die Luft ist voll von sØñem Fliederhauch.
Zu meinen FØñen liegt die Stadt im ersten Licht wie eine Vision der
Verheiñung.
Kein Laut. Nur Duft und Glanz.
Mit geschlossenen Augen kÃnnte ich mich hinauffinden in die kleine,
kuriose Alchimistengasse, so vertraut ist mir plÃtzlich jeder Schritt.
Aber, wo heute nacht das Holzgitter vor dem weiñschimmemden Haus
gestanden hat, schlieñt jetzt ein prachtvolles, gebauchtes, vergoldetes
Gitter die Gasse ab.
Zwei EibenbÄume ragen aus blØhendem, niederem GestrÄuch und flankieren
das Eingangstor der Mauer, die hinter dem Gitter entlang lÄuft.
Ich strecke mich, um Øber das Strauchwerk hinØberzusehen, und bin
geblendet von neuer Pracht:
Die Gartenmauer ist ganz mit Mosaik bedeckt. TØrkisblau mit goldenen,
eigenartig gemuschelten Fresken, die den Kult des Ägyptischen Gottes Osiris
darstellen.
Das FlØgeltor ist der Gott selbst: ein Hermaphrodit aus zwei HÄlften,
die die TØre bilden, - die rechte weiblich, die linke mÄnnlich. - Er sitzt
auf einem kostbaren, flachen Thron aus Perlmutter - im Halbrelief - und sein
goldener Kopf ist der eines Hasen. Die Ohren sind in die HÃhe gestellt und
dicht aneinander, dañ sie aussehen wie die beiden Seiten eines
aufgeschlagenen Buches. -
Es riecht nach Tau, und Hyazinthenduft weht Øber die Mauer herØber. - -
-
Lange stehe ich wie versteinert da und staune. Mir wird, als trÄte eine
fremde Welt vor mich, und ein alter GÄrtner oder Diener mit silbernen
Schnallenschuhen, Jabot und sonderbar zugeschnittenem Rock kommt von links
hinter dem Gitter auf mich zu und fragt mich durch die StÄbe, was ich
wØnsche.
Ich reiche ihm stumm den eingewickelten Hut Athanasius Pernaths hinein.
Er nimmt ihn und geht durch das FlØgeltor.
Als es sich Ãffnet, sehe ich dahinter ein tempelartiges, marmornes Haus
und auf seinen Stufen:
und an ihn gelehnt:
und beide schauen hinab in die Stadt.
Einen Augenblick wendet sich Mirjam um, erblickt mich, lÄchelt und
flØstert Athanasius Pernath etwas zu.
Ich bin gebannt von ihrer SchÃnheit.
Sie ist so jung, wie ich sie heut nacht im Traum gesehen.
Athanasius Pernath dreht sich langsam zu mir, und mein Herz bleibt
stehen:
Mir ist, als sÄhe ich mich im Spiegel, so Ähnlich ist sein Gesicht dem
meinigen.
Dann fallen die FlØgel des Tores zu, und ich erkenne nur noch den
schimmernden Hermaphroditen.
Der alte Diener gibt mir meinen Hut und sagt - ich hÃre seine Stimme
wie aus den Tiefen der Erde -:
"Herr Athanasius Pernath lÄñt verbindlichst danken und bittet, ihn
nicht fØr ungastfreundlich zu halten, dañ er Sie nicht einlÄdt, in den
Garten zu kommen, aber es ist strenges Hausgesetz so von alters her.
Ihren Hut, soll ich ausrichten, habe er nicht aufgesetzt, da ihm die
Verwechslung sofort aufgefallen sei.
Er wolle nur hoffen, dañ der seinige Ihnen keine Kopfschmerzen
verursacht habe."
Last-modified: Tue, 21 Jan 2003 08:55:12 GMT