en ihnen lag. Er war ein bekannter Verteidiger. Da
seine Klienten viel Geld und viele Prozesse hatten, hatte auch er viele
Prozesse und viel Geld. Die Aufregungen des Berufs, den er liebte, genügten
ihm nicht. Fast jede Nacht saß er in Spielklubs. Die Ruhe, die sein
Haus verbreitete, war ihm höchst zuwider. Und die vorwurfsvollen Augen
seiner Frau brachten ihn zur Verzweiflung. Da beide befürchteten, den
anderen anzutreffen, mieden beide die Villa, sooft das möglich war. Und
Stephan, der Sohn, mußte, wenn er seinen Eltern begegnen wollte, auf
die Gesellschaften gehen, die sie im Winter gaben. Da ihn diese
Veranstaltungen von Jahr zu Jahr mehr abstießen, bis er sie endlich
nicht mehr besuchte, traf er seine Eltern nur noch aus Versehen.
Das meiste, was er über den Vater wußte, hatte er einmal von
einer jungen Schauspielerin erfahren. Das war auf einem Maskenball gewesen,
und sie hatte ihm sehr eingehend den Mann geschildert, der sie damals
finanzierte. Leichtfertige Frauen versuchen ja gelegentlich, Liebhaber zu
erwerben, indem sie die intimen Sitten und Gebräuche der ehemaligen Besitzer
ausplauderten. Im Laufe des Gesprächs hatte es sich herausgestellt,
daß von Justizrat Labude die Rede gewesen war, und Stephan hatte das
Fest fluchtartig verlassen. Fabian kam nicht gern m die Grunewaldvilla. Er
empfand den Aufwand, den solche Häuser mit sich treiben lassen, als albern.
Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß man mitten in
derartigem Luxus das Gefühl, man sei nur auf Besuch, jemals loswerden könne.
Und er fand es, von allen anderen Gründen abgesehen, schon deshalb
vollkommen in Ordnung, daß sich Labudes Eltern in dem Wohnmuseum
entfremdet hatten.
"Schrecklich", sagte er zu dem Freund, der am Schreibtisch saß,
"jedesmal, wenn ich hierher komme, erwarte ich, daß mir euer Diener
Filzpantoffeln überzieht und mit einer Schloßführung beginnt. Falls du
mir erzählen solltest, daß der Große Kurfürst auf diesem Stuhl
hier in die Schlacht von Fehrbellin geritten ist, könnte ich mich bereit
erklären, es zu glauben. Im übrigen danke ich dir für das Geld."
Labude winkte ab. "Du weißt, daß ich mehr davon habe, als
notwendig ist. Lassen wir das. Ich bat dich hierher, weil ich dir erzählen
will, was mir in Hamburg passiert ist."
Fabian stand auf und setzte sich aufs Sofa. Jetzt befand er sich hinter
Labudes Rücken, und der Freund brauchte ihn während des Sprechens nicht
anzusehen. Sie blickten beide zum Fenster hinaus, auf grüne Bäume und auf
rote Villendächer. Das Fenster war offen, und manchmal kam ein Vogel,
spazierte auf dem Fensterbrett hin und her, musterte mit schiefgehaltenem
Kopf das Zimmer und flog wieder in den Garten zurück. Außerdem hörte
man, wie jemand mit einem Rechen die Kieswege harkte.
Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. "Rassow schrieb
mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maximum, vor Studenten aller
Richtungen, über das Thema "Tradition und Sozialismus". Und er schlug mir
vor, als Korreferent oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen
Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Rassow berichtete
den Studenten von seiner Rußlandreise und von seinen Erfahrungen und
Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er wurde von den
Vertretern der sozialistischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen.
Anschließend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den
Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzierte die
kapitalistische Situation Europas und stellte die Forderung auf, daß
die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und daß sie den
kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet
wird, aufhalten müsse. Diese Jugend, sagte ich, sei im Begriff, in
absehbarer Zeit die Führerschaft in Politik, Industrie, Grundbesitz und
Handel zu übernehmen, die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere
Aufgabe, den Kontinent zu reformieren: durch freiwillige Kürzung des
privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik
auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen,
durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts. Ich sagte,
diese neue Front, diese Querverbindung der Klassen sei möglich, da die
Jugend wenigstens die Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und
außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände
einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen. Wenn es schon
ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das
Regime unserer Altersklasse entscheiden. Bei den Vertretern der extremen
Gruppen erntete mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den
Antrag zur Bildung einer radikal-bürgerlichen Initiative einbrachte, fand
das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen Aufruf, der
an alle europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und
ein paar andere wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten
und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialistischen Studenten
eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn wir an allen Universitäten
Gruppen gebildet haben, werden von diesen auch andere intellektuelle
Körperschaften bearbeitet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern
nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne."
"Ich freue mich", sagte Fabian, "ich freue mich sehr, daß du nun
an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst. Hast du dich schon
mit der Gruppe der unabhängigen Demokraten in Verbindung gesetzt? In
Kopenhagen ist ein "Club Europa" gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere
dich nicht zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend. Und
sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht
jemals heiraten werden. Es handelt sich leider um eine Antinomie. Ich bin
der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei
Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann
schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das
ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt
einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist
derselbe. Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein
ist? Aber was meinte Leda dazu?"
"Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht dabei."
"Warum denn nicht?"
"Sie wußte nicht, daß ich in Hamburg war."
Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wieder hin.
Labude breitete die Arme aus und hielt sich an den Ecken der
Schreibtischplatte fest. "Ich wollte Leda überraschen. Ich wollte sie
heimlich beobachten. Denn ich war mißtrauisch geworden. Wenn man in
jedem Monat nur zwei Tage und eine Nacht beisammen ist, dann wird die
Beziehung unterminiert, und wenn so ein Zustand, wie bei uns, jahrelang
dauert, geht die Beziehung in die Brüche. Das hat mit der Qualität der
Partner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich machte dir
vor Monaten einmal Andeutungen, daß Leda sich verändert habe. Sie fing
an, sich zu verstellen. Sie markierte. Die Begrüßung auf dem Bahnhof,
die Zärtlichkeit des Gesprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch
Theater."
Labude hob den Kopf kerzengerade. Er sprach sehr leise. "Natürlich
entfremdet man sich. Man weiß nicht mehr, welche Sorgen der andere
hat. Man kennt die Bekannten nicht, die er findet. Man sieht nicht,
daß er sich verwandelt, und weswegen er's tut. Briefe sind zwecklos.
Und dann reist man hin, gibt sich einen Kuß, geht ins Theater, fragt
nach Neuigkeiten, verbringt eine Nacht miteinander und trennt sich wieder.
Vier Wochen später vollzieht sich derselbe Unfug. Seelische Nähe,
anschließend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der Uhr in der
Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die Liebe krepiert an
der Geographie."
Fabian nahm eine Zigarette und strich das Zündholz behutsam an, als
fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. "Ich habe in den letzten Monaten vor
jeder dieser Zusammenkünfte Angst gehabt. Ich hätte Leda, wenn sie mit
geschlossenen Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den
Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen mögen. Sie log.
Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder sich selber auch? Da sie, obwohl
ich sie brieflich wiederholt dazu aufforderte, Erklärungen vermied,
mußte ich tun, was ich tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in
der wir die Initiativgruppe gegründet hatten, von Rassow und den anderen
sehr bald und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt. Die Fenster waren
dunkel. Vielleicht schlief sie schon. Aber mir war nicht nach Logik zumute.
Ich wartete." Labudes Stimme schwankte. Er griff auf den Schreibtisch, nahm
mehrere Bleistifte und rollte sie nervös zwischen den Händen. Das hölzerne,
klappernde Geräusch begleitete den Fortgang des Berichts. "Die Straße
ist breit und nur an einer Stelle bebaut. Die andere Seite grenzt an
Blumenbeete, Wiesen, Wege und Gebüsch, und dahinter liegt die
Außenalster. Dem Haus gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte ich
mich, rauchte zahllose Zigaretten und wartete. So oft jemand die
Straße entlang kam, dachte ich, das müsse Leda sein. So saß ich
von zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Gespräche und böse
Bilder. Und die Zeit verging. Kurz nach drei bog ein Taxi in die
Straße und hielt vor dem Haus. Ein großer schlanker Mann stieg
aus und bezahlte den Chauffeur. Dann sprang eine Frau aus dem Wagen, eilte
zur Tür, schloß auf, trat ins Haus, hielt die Tür, bis der Mann
gefolgt war, und schloß von innen wieder zu. Das Auto fuhr in die
Stadt zurück."
Labude war aufgestanden. Er warf die Bleistifte auf den Schreibtisch,
ging rasch im Zimmer auf und ab und machte in der äußersten Ecke,
dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf das Tapetenmuster und zeichnete es
mit dem Finger nach. "Es war Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah,
wie sich zwei Schatten hinter den Gardinen bewegten. Das Wohnzimmer wurde
wieder dunkel. Jetzt erhellte sich das Schlafzimmer. Die Balkontür stand
halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen. Du entsinnst dich, sie lacht so
merkwürdig hoch. Manchmal war es ganz still, droben im Haus und unten auf
meiner Straße, und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug."
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat Labude trat
ein, ohne Hut und Mantel. "Tag, Stephan!" sagte er, kam näher und gab seinem
Sohn die Hand. "Lange nicht gesehen, was? War ein paar Tage unterwegs.
Mußte mal ausspannen. Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie
geht's? Siehst schlecht aus. Sorgen? Was über die Habilitationsschrift
gehört? Nein? Langweilige Bande. Hat Mutter geschrieben? Mag noch ein paar
Wochen bleiben. Heißt mit Recht Paradiso, das Nest. Hat's die Frau
gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gespräche, wie? Gibt es ein Fortleben nach
dem Tode? Im Vertrauen gesagt, es gibt keins. Muß alles vor dem Tode
erledigt werden. Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht."
"Fritz, nun komm aber endlich!" rief im Treppenhaus eine Frauenstimme.
Der Justizrat zuckte die Achseln. "Da habt ihr's. Kleine Sängerin,
großes Talent, keine Beschäftigung. Kann sämtliche Opern auswendig.
Bißchen laut auf die Dauer. Na, Wiedersehen. Amüsiert euch lieber,
statt die Menschheit zu erlösen. Wie gesagt, das Leben muß noch vor
dem Tode erledigt werden. Zu näheren Auskünften bin ich gerne bereit. Nicht
so ernst, mein Junge." Er gab beiden die Hand, ging und warf die Tür ins
Schloß. Labude hielt sich nachträglich die Ohren zu, trat an den
Schreibtisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzählung fort:
"Gegen fünf Uhr früh begann es zu regnen. Nach sechs hörte es auf. Der
Himmel wurde hell, und der Tag fing an. In dem Schlafzimmer brannte noch
immer Licht. Das sah im Morgengrauen seltsam aus. Um sieben Uhr
verließ der Mensch das Haus. Er pfiff, als er aus der Tür trat, und
blickte nach oben. Leda stand in ihrem japanischen Schlafrock auf dem Balkon
und winkte. Er winkte wieder. Sie breitete den Schlafrock für einen Moment
noch einmal auseinander, damit er ihren Körper noch einmal sehe. Er warf ein
Kußhändchen, es war zum Speien. Er ging pfeifend die Straße
hinunter. Ich senkte den Kopf. Oben wurde die Balkontür geschlossen."
Fabian wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er blieb
sitzen. Plötzlich hob Labude den Arm und schlug mit der Faust auf den
Schreibtisch. "Diese Kanaille!" schrie er. Fabian sprang vom Sofa, aber der
andere winkte ab und sagte ganz ruhig: "Schon gut. Höre weiter. Mittags
telefonierte ich. Sie war erfreut, daß ich wieder einmal bei ihr sei.
Warum ich nicht geschrieben habe. Ob ich um fünf Uhr kommen wolle. Die
wissenschaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früher auf. Ich lief
durchs Hafenviertel, bis es soweit war. Dann fuhr ich hin. Sie hatte Tee und
Kuchen zurechtgestellt und begrüßte mich zärtlich. Ich trank eine
Tasse Tee und sprach über gleichgültige Dinge. Dann begann sie sich
automatisch zu entkleiden, nahm den Kimono um und legte sich auf die Couch.
Da fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung lösten. Sie
fragte, was mit mir los sei. Es gelte doch für ausgemacht, daß wir
heiraten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob ich sie nicht mehr liebe. Ich
erklärte, daß es sich darum jetzt nicht handle. Die zunehmende
Entfremdung, an der sie die Schuld trage, lasse das Auseinandergehen ratsam
erscheinen.
Sie rekelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite zu gleiten,
und meinte mit kindlicher Stimme, ich sei so kalt. Und die Entfremdung
scheine, wie die unzweideutige Situation eindeutig beweise, eher an mir als
an ihr zu liegen. Sie gab zu, daß es schwer sei, die Strecke zwischen
Hamburg und Berlin seelisch zu überbrücken. Und in sexueller Beziehung gebe
es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich nicht da, und wenn ich da
sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erledigt werden, ob man Hunger hat
oder nicht. Aber wenn wir erst verheiratet wären, würde das anders. Ich
solle übrigens nicht böse sein. Sie habe vor mehreren Wochen einen
ärztlichen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als meine Frau
zur Welt bringen, nicht vorher. Mitgeteilt habe sie mir diesen kleinen
Unfall nicht, um mich nicht zu ängstigen. Sie sei aber wieder auf dem
Posten, und ich solle mich endlich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht.
"Von wem war das wieder rückgängig gemachte Kind?" fragte ich. Sie
setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht.
"Und wer war der Mann, der heute nacht bei dir schlief ?" fragte ich
weiter.
"Du siehst Gespenster", sagte sie. "Du bist eifersüchtig, es ist
geradezu albern."
Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging fort. Sie lief hinter mir her,
die Treppe hinunter, bis vor die Tür. Dort stand sie, nackt, im wehenden
Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und rief, ich solle bleiben. Aber ich
rannte davon und fuhr zur Bahn."
Fabian trat hinter Labude und legte die Hände auf die Schultern des
Freundes. "Warum hast du mir das nicht schon gestern erzählt?"
"Na, ich komme schon darüber weg", sagte Labude.
"Mich so zu belügen."
"Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?"
"Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir ist, als sei ich schwer
krank gewesen!"
"Du bist noch krank", meinte Fabian. "Du hast sie noch lieb."
"Das ist wahr", sagte Labude. "Aber ich bin schon mit ganz anderen
Kerlen fertig geworden als mit mir."
"Wenn sie dir nun schreibt?"
"Der Fall ist erledigt. Ich habe fünf Jahre damit zugebracht, unter
einer falschen Voraussetzung zu leben, das reicht. Das Schlimmste habe ich
dir noch nicht gesagt. Sie liebt mich nicht, und sie hat mich noch nie lieb
gehabt! Erst jetzt, nach dem Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung
auf. Erst als sie neben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die
vergangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Akten!" Labude
schob den Freund zur Tür. "Jetzt gehen wir. Ruth Reiter hat uns eingeladen.
Komm, ich habe verschiedenes nachzuholen."
"Wer ist Ruth Reiter?"
"Ich lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bildhauert, wenn
man ihr glauben darf." "Modellstehen wollte ich schon immer mal", sagte
Fabian und zog den Mantel an.
NEUNTES KAPITEL
Sonderbare junge Mädchen
Ein Todeskandidat wird lebendig
Das Lokal heißt "Cousine"
"Endlich ein paar Männer!" rief die Reiter. "Macht's euch bequem. Die
Kulp hat gerade gestöhnt, so ginge das nicht weiter. Sie hat zwei Tage
keinen Mann gehabt, und der letzte war auch bloß ein Verkehrsunfall.
Sie ist Modezeichnerin, und der Kerl hätte ihr, ohne die kleine
Gegenleistung, keinen Auftrag gegeben. Ein beinahe impotenter Lebegreis
war's, sagte sie."
"Das sind die Schlimmsten", meinte Labude. "Sie probieren
ununterbrochen, um nachzusehen, ob sich der Schaden inzwischen behoben
hat." Er blickte sich nach dem Mädchen um, das Kulp hieß.
Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf einer Chaiselongue und winkte
ihm.
l.abude setzte sich neben die Kulp. Fabian wartete unschlüssig. Das
Atelier war groß. In der Mitte des Raumes, unter der Lampe, vor einer
Reihe von Skulpturen, stand ein holzgezimmerter Tisch, und auf dem Tisch
saß eine nackte, dunkelhaarige Frau. Die Reiter kauerte auf einem
Schemel, nahm den Skizzenblock und zeichnete. "Abendakt", erläuterte sie,
ohne sich umzudrehen. "Heißt Selow. Neue Position, mein Schatz!
Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen. So, Hände im Nacken
verschränken. Halt!" Die nackte Frau, die Selow hieß, hatte sich
aufgerichtet und stand nun breitbeinig auf dem Tisch. Sie war vorzüglich
gebaut und blickte gleichgültig, aus schwermütigen Augen, vor sich hin.
"Baron, was zu trinken, mich friert", sagte sie plötzlich.
"Wahrhaftig, Fräulein Selow hat überall Gänsehaut", pflichtete Fabian
bei. Er war nähergetreten und stand vor dem Modell wie ein Kunstkenner vor
einer weiblichen Bronze.
"Berühren verboten!" Die Stimme der Bildhauerin klang äußerst
unfreundlich.
Fräulein Kulp, die sich in Labudes Armen wie in warmem Badewasser
dehnte, rief Fabian zu: "Hand von der Butter. Der Baron ist eifersüchtig.
Sie hat mit dem Abendakt ein gutgehendes Verhältnis."
"Halt den Rand!" knurrte die Reiter. "Labude, wenn Sie mit der Kulp
etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten, genieren Sie sich nicht. Ich habe
nur diesen Raum, aber der ist an Kummer gewöhnt."
Labude äußerte, er habe moralische Bedenken.
"Was es so alles gibt", meinte die Kulp traurig. Die Reiter blickte
vorübergehend von ihrem Block hoch und sah Fabian an. "Falls Sie sich an der
Kulp beteiligen wollen, halten Sie sich ran! Ihr braucht weiter nichts dazu
als einen Groschen. Labude wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den
Groschen hoch, das regt ihr Sonnengeflecht an. Wer oben liegt, hat den
Vortritt."
"Welche tiefe Wahrheit!" rief die Kulp. "Aber einen Groschen? Du
verdirbst die Preise!"
Fabian sagte höflich, er sei kein Freund von Glücksspielen. Die nackte
Frau stampfte mit dem Fuß auf: "Was zu trinken!"
"Battenberg, neben deinem Lehnstuhl steht ein Tischchen, und auf dem
Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber."
"Gern", sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es. Dann trat ein
fremdes Mädchen in den Lichtkreis der Lampe und reichte dem Abendakt ein
gefülltes Glas. Fabian war überrascht. "Wie viele weibliche Wesen sind
eigentlich hier?" fragte er.
"Ich bin das einzige", erklärte Fräulein Battenberg und lachte. Fabian
sah ihr ins Gesicht und fand, sie passe nicht in das Milieu. Sie spazierte
wieder hinter die Plastiken. Er folgte ihr. Sie setzte sich in den
Lehnstuhl. Er stellte sich neben eine Diana aus Gips, legte den Arm um die
Hüfte der trainierten Göttin und schaute durch das Atelierfenster auf die
Bogen und Veduten der Jugendstilgiebel. Man hörte den Baron kommandieren.
"Letzte Position, mein Schatz, Rumpfbeuge vorwärts, Knie einknicken,
Gesäß heraus, Hände auf die Knie, gut, halt!" Und aus der vorderen
Hälfte des Ateliers klangen kleine, zugespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt
vorübergehend an Atemnot. "Wie kommen Sie eigentlich in diesen Saustall?"
fragte Fabian.
"Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen in die
gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der Straße. Und
weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken
ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt."
"Das freut mich", sagte er. "Ich bin kein ausgesprochener
Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß,
daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt." Sie sah ihn ernst an. "Ich bin
kein Engel, mein Herr. Unsere Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir
anfangen? Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir
trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm. "Da bin ich",
sagen wir freundlich lächelnd. "Ja", sagt er, "da bist du", und kratzt sich
hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten
Herzens schenken wir ihm, was wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind
ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein
wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Männern wurde
ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm, den man absichtlich
irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?"
"Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sorgen. Und die
Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die
Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns.
Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer
Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er
einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus
Verantwortungsgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu
versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen,
daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine
Antinomie, die es früher nicht gab."
Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein Fenster
erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau
saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand
davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß
den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände
vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch,
ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil.
Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im
Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus
beobachtet und sah ihn traurig an.
"Schon wieder ein verhinderter Engel", meinte er.
"Der zweite Mann, den ich liebte und damit belästigte", sagte sie
leise, "ging eines schönen Abends aus der Wohnung, um einen Brief in den
Kasten zu werfen. Er ging die Treppe hinunter und kam nicht wieder." Sie
schüttelte den Kopf, als verstehe sie das Erlebnis noch immer nicht. "Ich
wartete drei Monate darauf, daß er vom Briefkasten zurückkehre.
Komisch, nein? Dann schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit vielen
herzlichen Grüßen. Meine Mutter sagte: "Du bist eine Dirne!", und als
ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten Mann mit achtzehn Jahren und
das erste Kind mit neunzehn Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: "Das war
etwas ganz anderes!" Freilich, das war etwas ganz anderes."
"Warum sind Sie nach Berlin gekommen?"
"Früher verschenkte man sich und wurde wie ein Geschenk bewahrt. Heute
wird man bezahlt und eines Tages, wie jede bezahlte und benutzte Ware,
weggetan. Bezahlung ist billiger, denkt der Mann."
"Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware. Heute ist das
Geschenk eine Ware, die null Mark kostet. Diese Billigkeit macht den Käufer
mißtrauisch. Sicher ein faules Geschäft, denkt er. Und meist hat er
recht. Denn später präsentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich soll er
den moralischen Preis des Geschenks rückvergüten. In seelischer Valuta. Als
Lebensrente zu zahlen."
"Genauso ist es", sagte sie. "Genauso denken die Männer. Aber warum
nennen Sie dann dieses Atelier einen Saustall? Hier sind doch die Frauen so
ähnlich, wie ihr sie haben wollt! Oder etwa nicht? Ich weiß, was euch
zu eurem Glück noch fehlt. Wir sollen zwar kommen und gehen, wann ihr es
wollt. Aber wir sollen weinen, wenn ihr uns fortschickt. Und wir sollen
selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber
die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem berechtigt und zu nichts
verpflichtet, wir zu allem verpflichtet und zu nichts berechtigt, so sieht
euer Paradies aus. Doch das geht zu weit!" Fräulein Battenberg putzte sich
die Nase. Dann fuhr sie fort: "Wenn wir euch nicht behalten dürfen, wollen
wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns kaufen wollt, dann sollt ihr teuer
dafür bezahlen." Sie schwieg. Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht.
"Sie sind deswegen nach Berlin gekommen?" fragte Fabian.
Sie weinte geräuschlos.
Er trat neben sie und streichelte ihre Schulter. "Sie verstehen auch
nichts von Geschäften", sagte er und blickte zwischen zwei Gipsfiguren in
den anderen Teil des Ateliers. Der Abendakt saß auf dem Tisch und
trank Gin. Die Bildhauerin beugte sich über die nackte Frau und küßte
sie auf den wenig gewölbten Bauch und auf die Brust. Die Selow trank
inzwischen das Glas leer und strich der Freundin gleichgültig über den
Rücken. Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die
andere tat. Und im Hintergrund, auf der Chaiselongue, lagen die Kulp und
Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt.
Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und ging
mit schweren Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümpfe an. Ein riesiger
Mann kam durch die Tür. Er atmete keuchend, hatte ein Holzbein und ging an
einem Stock.
"Ist die Kulp da?" fragte er. Die Reiter nickte. Er zog ein paar
Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhauerin und sagte: "Ihr anderen
solltet eine Stunde fortgehen. Die Selow kannst du mir eventuell noch
dalassen." Er sank auf einen Stuhl und lachte schwerfällig. "Nein, nein,
Baron, es war nur Spaß."
Die Kulp kroch von der Chaiselongue, strich sich das Kleid glatt und
gab dem Mann die Hand. "Tag, Wilhelmy, noch immer nicht tot?"
Wilhelmy wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte
den Kopf.
"Lange kann's aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld früher zu Ende
als ich." Er gab ihr ein paar Geldscheine. "Selow!" rief er, "sauf den Gin
nicht aus! Und zieh dich schneller an."
"Geht in die "Cousine". Ich komme nach", sagte die Kulp. Dann rüttelte
sie Labude munter. "Mein Lieber, du wirst rausgeschmissen. Hier ist einer,
dem die Ärzte erzählt haben, daß er noch in diesem Monat stirbt. Er
lauert auf den Tod wie unsereins auf die Periode. Ich helf ihm bloß
ein Viertelstündchen warten. Später treff ich euch wieder." Labude stand
auf. Die Reiter holte ihren Mantel. Fabian kam mit Fräulein Battenberg
hinter den Plastiken vor. Die Selow war mit Anziehen fertig. Sie gingen. Der
Todeskandidat und die Kulp blieben zurück.
"Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr wie beim letzten Mal", sagte
die Bildhauerin auf der Treppe. "Es bringt ihn auf, daß andere länger
leben dürfen als er."
"Die hat nichts dagegen, die liebt die Keile", meinte die Selow. "Und
außerdem, von ihrer Zeichnerei kann sie nicht leben und nicht
sterben."
"Feine Berufe haben wir!" Die Reiter lachte wütend.
Die "Cousine" war ein Klublokal, in dem vorwiegend Frauen verkehrten.
Sie tanzten miteinander. Sie saßen Arm in Arm auf kleinen grünen
Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen. Sie tranken Schnaps, und manche
trugen Smokingjacken und hochgeschlossene Blusen, um den Männern recht
ähnlich zu sein. Die Inhaberin hieß wie ihr Lokal, rauchte schwarze
Zigarren und vermittelte Bekanntschaften. Sie ging von Tisch zu Tisch,
begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und soff wie ein Budiker.
Labude schien sich vor Fabian und vor sich selber zu schämen. Er tanzte mit
dem Abendakt, setzte sich dann mit der Frau an die Theke und drehte dem
Freund den Rücken.
Ruth Reiter war eifersüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte ganz
selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken. Später schob
sie an einen anderen Tisch und unterhielt sich dort mit einer älteren Dame,
die schrecklich geschminkt war und, wenn sie lachte, derartig gackerte,
daß man dachte: Gleich legt sie ein Ei.
"Ich kann unser Gespräch noch nicht vergessen", sagte Fabian zu
Fräulein Battenberg. "Halten Sie wirklich alle Frauen, die hier versammelt
sind, für gebürtige Abnormitäten? Die Blondine da drüben war jahrelang die
Freundin eines Schauspielers, bis er sie ruckartig an die Luft setzte. Dann
ging sie ins Büro und schlief mit dem Prokuristen. Sie kriegte ein Kind und
verlor den Prozeß. Der Prokurist leugnete die Vaterschaft. Das Kind
wurde aufs Land gegeben. Die Blondine bekam eine neue Stellung. Aber sie
hat, vielleicht für immer, mindestens vorübergehend, von den Männern genug,
und mancher, die außer ihr hier sitzt, erging es ähnlich. Die eine
findet keinen Mann, die andere zu viele, die dritte hat panische Angst vor
den Folgen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse sind. Die
Selow, die mit meinem Freunde zusammenhockt, gehört auch zu dieser Sorte.
Sie ist nur lesbisch, weil sie mit dem anderen Geschlecht schmollt."
"Wollen Sie mich nach Hause bringen?" fragte Fräulein Battenberg.
"Es gefällt Ihnen hier nicht?"
Sie schüttelte den Kopf.
Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem Tisch, an dem
die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffnete den Mund. Sie schrie
nicht, sie sprach nichts. Sie brach zusammen. Die Frauen drängten sich
neugierig um die Ohnmächtige. Die Cousine brachte Whisky. "Der Wilhelmy hat
sie wieder geschlagen", sagte die Reiter.
"Ein Hoch auf die Männer!" schrie ein Mädchen und lachte hysterisch.
"Holt den Doktor aus dem Hinterzimmer!" rief die Cousine. Man rannte
durcheinander. Der Klavierspieler, der ebenso witzig wie betrunken war,
intonierte den Trauermarsch von Chopin.
"Das soll der Doktor sein?" fragte Fräulein Battenberg. Durch die
Seitentür trat eine große, hagere Dame im Abendkleid, das Gesicht
glich einem weißgepuderten Totenkopf.
"Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann", sagte Fabian. "Er war
sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmisse unterm Puder? Jetzt ist er
Morphinist und hat polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Er lebt
davon, daß er Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden sie ihn
erwischen, dann vergiftet er sich." Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der
Doktor im Abendkleid folgte. Der Klavierspieler begann einen Tango. Die
Bildhauerin holte den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin eng an
sich und sprach heftig auf sie ein. Die Selow war völlig betrunken, hörte
kaum zu und schloß die Augen. Plötzlich riß sie sich los,
überquerte schwankend das Parkett, schlug den Klavierdeckel zu, daß
das Instrument jammerte, und brüllte: "Nein!"
Es wurde totenstill. Die Bildhauerin stand allein auf der Tanzfläche
und hatte die Hände ineinandergekrampft.
"Nein!" brüllte die Selow noch einmal. "Ich habe genug davon! Bis
dahin! Ich will einen Mann haben! Einen Mann will ich haben! Steig mir doch
den Buckel runter, du geile Ziege!" Sie zerrte Labude von seinem Hocker, gab
ihm einen Kuß, hieb sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann,
kaum daß er den Mantel mitnehmen konnte, zur Tür. "Es lebe der kleine
Unterschied!" schrie sie. Dann waren die beiden verschwunden.
"Es ist wirklich besser, wenn wir gehen." Fabian erhob sich, legte Geld
auf den Tisch und half der Battenberg beim Anziehen. Als sie gingen, stand
Ruth Reiter, auch der Baron genannt, noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand
wagte es, sich ihr zu nähern.
ZEHNTES KAPITEL
Topographie der Unmoral
Die Liebe höret nimmer auf!
Es lebe der kleine Unterschied!
"Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?" fragte sie auf der Straße.
"Sie kennen ihn doch gar nicht!" Er ärgerte sich über ihre Frage und
ärgerte sich über seine Antwort. Sie gingen schweigend nebeneinander. Nach
einer Weile sagte er: "Labude hat Pech gehabt. Er ist nach Hamburg gefahren
und hat zugesehen, wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt. Er organisiert
gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die fünfte
Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun stellt sich über Nacht heraus,
es war alles falsch. Er will das rasch vergessen und versucht es zunächst
auf horizontale Art."
Sie blieben vor einem Geschäft stehen. Der Laden war trotz der
nächtlichen Stunde hell erleuchtet, und die Kleider und Blusen und
Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern wie auf einer kleinen, von der
Sonne beschienenen Insel.
"Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" fragte jemand neben ihnen.
Fräulein Battenberg erschrak und faßte den Arm ihres Begleiters.
"Zehn nach zwölf", sagte Fabian.
"Danke schön. Da muß ich mich beeilen." Der junge Mann, der sie
angesprochen hatte, bückte sich und nestelte umständlich an einem
Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf und fragte verlegen lächelnd:
"Haben Sie zufällig fünfzig Pfennige, die Sie entbehren könnten?" "Zufällig
ja", antwortete Fabian und gab ihm ein Zweimarkstück.
"Oh, das ist schön. Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Da brauche ich
nicht bei der Heilsarmee zu übernachten." Der Fremde zuckte entschuldigend
die Achseln, lüftete den Hut und lief hastig davon.
"Ein gebildeter Mensch", meinte Fräulein Battenberg.
"Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte."
Sie setzten ihren Weg fort. Fabian wußte nicht, wo das Mädchen
wohnte. Er ließ sich führen, obwohl er die Gegend besser kannte als
sie. "Das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist das", sagte er, "Labude
hat, allerdings fünf Jahre zu spät, bemerkt, daß ihn Leda, eben jene
Frau aus Hamburg, niemals lieb hatte. Sie hat ihn nicht betrogen, weil er zu
selten bei ihr war. Sie betrog ihn, weil sie ihn nicht liebte. Er stand ihr
nur individuell nahe, er war nicht ihr Typus. Es gibt auch den umgekehrten
Fall. Man kann jemanden mögen, weil er den rechten Typus verkörpert, aber
man kann seine Individualität nicht leiden."
"Und daß jemand in jeder Beziehung der Richtige ist, kommt das
nicht vor?"
"Man soll nicht gleich das Äußerste hoffen", erwiderte Fabian.
"Und was führt Sie, außer Ihrem kriegerischen Vorsatz, nach Sodom und
Gomorrha?"
"Ich bin Referendar", erklärte sie. "Meine Dissertation betraf eine
Frage zum internationalen Filmrecht, und eine große Berliner
Filmgesellschaft will mich in ihrer Vertragsabteilung volontieren lassen.
Hundertfünfzig Mark im Monat."
"Werden Sie doch Filmschauspielerin!"
"Wenn es sein muß, auch das", sagte sie entschlossen. Und beide
lachten. Sie gingen durch die Geisbergstraße. Nur selten durchquerte
ein Auto die Nachtruhe. In den Vorgärten dufteten Blumenbeete. In einer
Haustür streichelte sich ein Liebespaar.
"Sogar der Mond scheint in dieser Stadt", bemerkte die Kennerin des
internationalen Filmrechts. Fabian drückte ihren Arm ein wenig. "Ist es
nicht fast wie zu Hause?" fragte er. "Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein
und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im Torbogen
sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein Café, in dem Chinesen
mit Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo
parfümierte homosexuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten
Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekanntgeben, und zum
Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte Greisin, die dafür
mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen,
daneben liegt ein Restaurant, wo russische und ungarische Juden einander
anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt
es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gymnasiastinnen
verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen
Skandal, der nur schlecht vertuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem
Zimmer, das er zu Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte,
ein sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider
seineTochter, und das hatte e