und
Ein Lessingporträt geht entzwei
Einsamkeit in Halensee
Labudes Gesicht wurde von der Serviette nur scheinbar zusammengehalten,
es veränderte sich. Als werde das Fleisch dickflüssig und sickere allmählich
ins Körperinnere, so traten die Backenknochen hervor. Die Augen waren tief
in die schwärzlichen Höhlen gesunken. Die Nasenflügel fielen ein und
wirkten verkniffen. Fabian beugte sich vor und dachte: "Warum verwandelst du
dich? Willst du mir den Abschied leicht machen? Ich wünschte, du könntest
reden, denn ich hätte viel zu fragen, mein Lieber. Ist dir jetzt wohl? Bist
du auch jetzt noch, nachdem du starbst, damit zufrieden, daß du tot
bist? Oder bereust du, was du tatest? Und möchtest du rückgängig machen, was
für ewig geschah? Früher habe ich mir eingebildet, ich könne an der Leiche
eines Menschen, den ich liebe, nie begreifen, daß er tot ist. Wie soll
man verstehen, daß jemand nicht mehr da ist, obwohl er sichtbar vor
einem liegt, mit Schlips und Kragen, im selben Anzug wie kurz vorher? dachte
ich. Wie soll man glauben, daß einer, nur, weil er zu atmen
vergaß, eine Portion Fleisch geworden ist, die man drei Tage später
achtlos verscharrt? dachte ich. Wird man, wenn das geschieht, nicht
aufschreien: Hilfe, er erstickt! Ich muß dir sagen, Stephan, ich
verstehe meine Angst, man könnte am Tod und seiner Tragweite zweifeln, nicht
mehr. Du bist tot, mein Guter, und du liegst da wie eine schlecht fixierte
Fotografie von dir, die zusehends vergilbt. Man wird deine Fotografie in den
Ofen werfen, den man Krematorium nennt. Du wirst verbrennen, und niemand
wird um Hilfe rufen, und auch ich werde still sein."
Fabian trat zum Schreibtisch und nahm aus dem gelben Holzkästchen, das
seit Jahren dort stand, eine Zigarette.
Ein Kupferstich hing an der Wand, es war ein Porträt von Lessing. "Sie
sind schuld daran", sagte Fabian zu dem Mann mit dem Zopf und zeigte auf
Labude. Aber Gotthold Ephraim Lessing übersah und überhörte den Vorwurf,
der ihm, hundertfünfzig Jahre nach seinem Tode, gemacht wurde. Er blickte
ernst und höchst charaktervoll geradeaus. Sein breites, bäuerisches Gesicht
verzog keine Miene. "Schon gut", sagte Fabian, drehte dem Bild den Rücken
und setzte sich wieder neben den Freund.
"Siehst du", sagte er zu Labude, "das war ein Kerl", und er wies mit
dem Daumen hinter sich. "Der biß zu und kämpfte und schlug mit dem
Federhalter um sich, als sei der Gänsekiel ein Schleppsäbel. Der war zum
Kämpfen da, du nicht. Der lebte gar nicht seinetwegen, den gab es gar nicht
privat, der wollte gar nichts für sich. Und als er sich doch auf sich
besann, als er vom Schicksal Frau und Kind verlangte, da brach alles über
ihm zusammen und begrub ihn. Und das war in Ordnung. Wer für die anderen
dasein will, der muß sich selber fremd bleiben. Er muß wie ein
Arzt sein, dessen Wartezimmer Tag und Nacht voller Menschen ist, und einer
muß mitten darunter sitzen, der nie an die Reihe kommt und nie darüber
klagt: das ist er selber. Hättest du so zu leben vermocht?"
Fabian strich dem Freund übers Knie und schüttelte den Kopf. "Ich
wünsche dir Glück, denn du bist tot. Du warst ein guter Mensch, du warst ein
anständiger Kerl, du warst mein Freund, aber das, was du vor allem sein
wolltest, das warst du nicht. Dein Charakter existierte in deiner
Vorstellung, und als die zerstört wurde, blieb nichts mehr übrig als ein
Schießeisen und das, was hier auf dem Sofa liegt. Siehst du, nächstens
wird ein gigantischer Kampf einsetzen, erst um die Butter aufs Brot, und
später ums Plüschsofa; die einen wollen es behalten, die anderen wollen es
erobern, und sie werden sich wie die Titanen ohrfeigen, und sie werden
schließlich das Sofa zerhacken, damit es keiner kriegt. Unter den
Anführern werden auf allen Seiten Marktschreier stehen, die stolze Parolen
erfinden und die das eigene Gebrüll besoffen macht. Vielleicht werden sogar
zwei oder drei wirkliche Männer darunter sein. Sollten sie zweimal
hintereinander die Wahrheit sagen, wird man sie aufhängen. Sollten sie
zweimal hintereinander lügen, wird man sie aufhängen. Dich hätte man nicht
einmal gehängt, dich hätte man totgelacht. Du warst kein Reformator, und du
warst kein Revolutionär. Mach dir nichts draus." Labude lag, als höre er zu.
Aber er tat nur so. Die Ansprache verhallte, Fabian wurde müde. "Warum
genügte es dir nicht, schön zu finden, was schön ist?" dachte er. "Dann
hätte dich das Pech mit Herrn Lessing nicht so gekränkt. Dann säßest
du vielleicht in Paris, statt hier zu liegen. Dann hättest du die Augen
offen und blicktest glücklich von Sacré Cœur hinunter auf die
schimmernden Boulevards, über denen die Luft kocht. Oder wir beide
spazierten durch Berlin. Die Bäume sind ganz frisch gestrichen, der blaue
Himmel ist mit Gold ausgelegt; die Mädchen sind appetitlich zubereitet, und
wenn die eine bei einem Filmdirektor übernachtet, sucht man sich eine
bessere. Mein alter Erfinder, der liebte das Leben! Ich habe dir noch gar
nicht erzählt, wie er bei mir im Schrank stand. Er hatte den Hut auf und
hielt den Schirm in der Hand, als habe er Angst, es könne im Schrank
regnen."
Fabian konnte nicht lange geschlafen haben, als er aufschreckte. Er
hörte Stimmen auf der Straße und trat ans Fenster. Ein Auto hielt vor
der Tür, der Diener kam aus dem Haus und öffnete den Schlag. Der Justizrat
stieg aus und hielt dem Diener eine Zeitung entgegen. Der Diener nickte und
zeigte zu dem Fenster hinauf, an dem Fabian lehnte. Eine Frau wollte aus dem
Wagen, der Justizrat stieß sie auf den Sitz zurück. Der Wagen setzte
sich in Bewegung. Die Frau preßte, während das Auto sie wegführte,
das Gesicht an die Scheibe. Der Justizrat ging ins Haus. Der Diener folgte
und hielt die Arme besorgt angehoben, um, wenn es nötig werde, den Justizrat
zu stützen.
Fabian trat auf den Korridor hinaus, denn er wollte nicht zugegen sein,
wenn der Vater den Sohn liegen sah. Der Justizrat kam die Treppe herauf, er
klammerte sich am Geländer fest, und der alte Diener hinter ihm hielt die
Hände schützend vorgestreckt, aber Labudes Vater sank nicht um. Er ging,
ohne Fabian anzusehen, in das erleuchtete Zimmer. Der Diener schloß
die Tür und neigte den Kopf vor, um zu hören, ob er nötig sei. Doch es blieb
still in dem Zimmer. Fabian und der Diener standen davor, jeder auf seinem
Fleck, sie sahen einander nicht an und lauschten gespannt. Ihre Bereitschaft
zum Mitleid wartete auf einen Klagelaut oder dergleichen. Aber sie vernahmen
nichts. Die Szene hinter der Tür ließ sich nicht deuten.
Es klingelte. Der Diener verschwand im Zimmer und kam wieder auf den
Korridor. "Der Herr Justizrat möchte Sie sprechen." Fabian trat ein. Der
alte Labude saß am Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hand
gestützt. Nach einer Weile richtete er sich hoch, stand auf, um den Freund
seines Sohnes zu begrüßen und lächelte künstlich. "Ich habe keine
Beziehung zu tragischen Erlebnissen", sagte er gepreßt. "Das
bißchen Mitgefühl, das mein Egoismus zuläßt, hat durch die
vielen Plädoyers, die ich hielt, und durch die prozessuale Routine überhaupt
einen unechten Glanz angenommen, in dem sich alles andere eher spiegelt als
wahre Teilnahme." Er drehte sich um, betrachtete seinen Sohn, und es sah
aus, als ob er sich bei dem Toten entschuldigen wolle. "Es hat keinen Zweck,
sich Vorwürfe zu machen", fuhr er fort. "Ich war kein Vater, der für den
Sohn lebt. Ich bin ein vergnügungssüchtiger älterer Herr, der in das Leben
verliebt ist. Und dieses Leben verliert seinen Sinn keineswegs durch diese
Tatsache." Er zeigte mit dem vorgestreckten Arm auf die Leiche. "Er hat
gewußt, was er tat. Und wenn er es für das Klügste hielt, brauchen die
anderen nicht zu weinen." "Man könnte, gerade weil Sie so nüchtern darüber
sprechen, vermuten, daß Sie sich Vorwürfe machen", sagte Fabian. "Das
wäre unangebracht. Der sichtbare Anlaß für Stephans Selbstmord liegt
außerhalb unserer Sphäre." "Was wissen Sie darüber? Hat er Briefe
hinterlassen?" fragte der Justizrat.
Fabian verschwieg den Brief. "Eine kurze Notiz gab Auskunft. Der
Geheimrat hat Stephans Habilitationsschrift als ungenügend abgelehnt."
"Ich habe sie nicht gelesen. Man hat nie Zeit. War sie so schlecht?"
fragte der andere.
"Es ist eine der besten und originellsten literarhistorischen Arbeiten,
die ich kenne", erwiderte Fabian. "Hier ist sie." Er nahm eine Kopie des
Manuskripts vom Bücherbord und legte sie auf den Schreibtisch.
Der Justizrat blätterte darin, dann klingelte er, ließ das
Telefonbuch bringen und suchte eine Nummer. "Es ist zwar sehr spät", sagte
er und ging ans Telefon, "aber das kann nichts helfen." Er bekam
Anschluß. "Kann ich den Geheimrat sprechen?" fragte er. "Dann holen
Sie die gnädige Frau an den Apparat. Ja, auch wenn sie schon schläft. Hier
spricht Justizrat Labude." Er wartete. "Entschuldigen Sie die Störung",
sagte er. "Ich höre, daß Ihr Gatte unterwegs ist. In Weimar? So, zur
Tagung der Shakespeare-Gesellschaft. Wann kommt er zurück? Ich werde mir
erlauben, ihn morgen im Institut aufzusuchen. Sie wissen nicht, ob er die
Habilitationsschrift meines Sohnes schon gelesen hat?" Er hörte lange Zeit
zu, dann verabschiedete er sich, legte den Hörer auf die Gabel, drehte sich
zu Fabian herum und fragte: "Verstehen Sie das? Der Geheimrat hat neulich
während des Essens gesagt, die Arbeit über Lessing sei außerordentlich
interessant, und er sei auf die Schlußfolgerung, also auf das Ende
der Arbeit, sehr gespannt. Von Stephans Tod scheint man noch nichts zu
wissen." Fabian sprang erregt auf. "Er hat die Arbeit gelobt? Lehnt man
Arbeiten ab, die man gelobt hat?"
"Daß man Arbeiten, die man schlecht findet, annimmt, ist
jedenfalls häufiger", antwortete der Justizrat. "Wollen Sie mich jetzt
allein lassen? Ich bleibe bei meinem Jungen und werde sein Manuskript lesen.
Fünf Jahre hat er daran gesessen, nicht?" Fabian nickte und gab ihm die
Hand. "Da hängt ja die Todesursache", sagte der alte Labude und zeigte auf
das Lessingporträt. Er nahm das Bild von der Wand, betrachtete es und
zerschlug es, ohne jede sichtbare Aufregung, am Schreibtisch. Dann klingelte
er. Der Diener erschien. "Kehre den Dreck fort und bringe Heftpflaster",
befahl der Justizrat. Er blutete an der rechten Hand. Fabian blickte noch
einmal auf den toten Freund. Dann ging er hinaus und ließ die beiden
allein.
Er war zu müde zum Schlafen, und er war zu müde, die Trauer
aufzubringen, die dieser Tag von ihm forderte. Der Trikotagenreisende aus
der Müllerstraße hielt sich die Backe, hieß er nicht Hetzer?
Seine Frau lag unbefriedigt im Bett, Cornelia war zum zweiten Mal bei
Makart, Fabian sah die Erlebnisse wie lebende Bilder, ohne dritte Dimension,
weit weg am Horizont seines Gedächtnisses. Und auch, daß Labude in
irgendeiner Villa draußen tot auf dem Sofa lag, beschäftigte ihn im
Augenblick nur als Gedanke. Der Schmerz war wie ein Zündholz
heruntergebrannt und erloschen. Er entsann sich aus seiner Kindheit eines
ähnlichen Zustandes: wenn er damals eines Kummers wegen, der ihm riesenhaft
und unheilbar erschien, lange Zeit geweint hatte, war das Reservoir, aus dem
der Schmerz floß, leer geworden. Das Gefühl starb ab, wie später, nach
jedem seiner Herzkrämpfe, das Leben in den Fingern erstarb. Die Trauer, die
ihn ausfüllte, war empfindungslos, der Schmerz war kalt.
Fabian ging die Königsallee entlang. Er kam an der Rathenau-Eiche
vorbei. Zwei Kränze hingen an dem Baum. An dieser Straßenbiegung war
ein kluger Mann ermordet worden. "Rathenau mußte sterben", hatte ein
nationalsozialistischer Schriftsteller einmal zu ihm gesagt. "Er mußte
sterben, seine Hybris trug die Schuld. Er war ein Jude und wollte deutscher
Außenminister werden. Stellen Sie sich vor, in Frankreich kandidierte
ein Kolonialneger für den Quai d'Orsay, das ginge genausowenig." Politik und
Liebe, Ehrgeiz und Freundschaft, Leben und Tod, nichts berührte ihn. Er
schritt, ganz allein mit sich selber, die nächtliche Allee hinunter. Über
dem Lunapark stieg Feuerwerk in den Himmel und sank in bunten feurigen
Garben zur Erde. Aber auf halbem Wege lösten sich die Garben auf, sie
verschwanden spurlos, und neue Raketen drängten krachend in die Luft. Am
Eingang zum Park hing ein Schild: "Fernando, der Weltmeister im Dauertanzen,
überbietet seinen eigenen Rekord. Er will 200 Stunden tanzen. Kein
Weinzwang." Fabian setzte sich in ein Bierlokal, dicht vor der
Eisenbahnunterführung von Halensee. Die Gespräche der Umsitzenden erschienen
ihm vollkommen sinnlos. Ein kleiner illuminierter Zeppelin, auf dem in
großer Leuchtschrift "Trumpfschokolade" stand, flog über den Köpfen
der Stadt zu. Ein Zug mit hellen Fenstern fuhr unter der Brücke hin.
Autobusse und Straßenbahnen passierten in langer Kette die
Straße. Am Nebentisch erzählte ein Mann, dem der Nacken über den
Kragen gerutscht war, Witze, und ein paar Frauen, die bei ihm saßen,
kreischten, als hätten sie Mäuse unterm Rock. "Was soll das alles?" dachte
er, zahlte rasch und ging nach Hause.
Auf dem Tisch lagen etliche Briefe. Die Bewerbungsschreiben waren
zurückgekommen. Nirgends war ein Posten frei, man bedauerte
hochachtungsvoll. Fabian wusch sich. Später ertappte er sich dabei,
daß er regungslos, mit dem Handtuch vor dem nassen Gesicht, auf dem
Sofa saß und, an der unteren Kante des Tuches vorbei, auf den Teppich
stierte. Er trocknete sich ab, warf das Handtuch fort, legte sich um und
schlief ein. Das Licht brannte die ganze Nacht.
ZWANZIGSTES KAPITEL
Cornelia im Privatauto
Der Geheimrat weiß von nichts
Frau Labude wird ohnmächtig
Als er am nächsten Morgen erwachte und das Licht brennen sah, waren ihm
die Ereignisse des Vortags nicht gegenwärtig. Er fühlte sich bedrückt und
elend, doch er wußte noch nicht, warum. Er schloß die Augen, und
erst jetzt, und nur ganz allmählich, vergegenständlichte sich sein Kummer.
Das, was geschehen war, fiel ihm ein, als werfe es jemand von draußen
her durch eine Scheibe. Er wußte wieder, was er vor Müdigkeit
vergessen hatte, und vom Bewußtsein aus sanken die Erinnerungen
tiefer, wuchsen und verwandelten sich im Fallen, es war, als erhöhe sich ihr
spezifisches Gewicht, und dann rollten sie wie Steinschlag auf sein Herz. Er
drehte sich zur Wand und hielt sich die Ohren zu.
Frau Hohlfeld machte, als sie das Frühstück hereintrug, trotz des
brennenden Lichts, und obwohl er statt im Bett auf dem Sofa lag, keinen
Skandal. Sie setzte das Tablett auf den Tisch, löschte das Licht und vollzog
sämtliche Handlungen nach dem Ritus, der in Krankenzimmern üblich ist. "Ich
versichere Sie meines tiefsten Beileids", sagte sie, "ich las es vorhin in
der Zeitung. Ein harter Schlag für Sie. Und die armen Eltern." Der Ton und
die Stimmlage waren gut gemeint. Die Teilnahme war ehrlich. Es war nicht zum
Aushalten.
Er überwand sich und murmelte: "Danke." Bis sie das Zimmer verlassen
hatte, blieb er liegen, dann stand er auf und fuhr in die Kleider. Er
mußte den Geheimrat sprechen. Seit gestern abend marterte ihn ein
Verdacht, der, ohne jedes Zutun, immer quälender wurde. Er mußte in
die Universität. Als er aus dem Haus trat, fuhr ein großer Privatwagen
vor und hielt.
"Fabian!" rief jemand. Es war Cornelia. Sie saß im Wagen und
winkte. Während er nähertrat, stieg sie aus. "Mein armer Fabian", sagte sie
und streichelte seine Hand. "Ich hielt es nicht bis zum Nachmittag aus, und
er lieh mir den Wagen. Stör ich dich?" Dann senkte sie die Stimme. "Der
Chauffeur paßt auf." Lauter sagte sie: "Wo willst du hin?" "Zur
Universität. Er hat sich umgebracht, weil seine Arbeit abgelehnt worden ist.
Ich muß den Geheimrat sprechen."
"Ich bringe dich hin. Darf ich?" fragte sie. "Fahren Sie uns bitte zur
Universität", sagte sie zu dem Chauffeur, sie stiegen in den Wagen und
fuhren stadteinwärts.
"Und wie war es gestern abend bei dir?" fragte Fabian. "Sprich nicht
davon", bat sie. "Ich hatte immer das Gefühl, dir drohe ein Unheil. Makart
erzählte mir von der Rolle, die ich spielen soll, ich hörte kaum zu, so
bedrängte mich meine Vorahnung. Es war wie vor einem Gewitter."
"Was für eine Rolle?" Auf Cornelias Vorahnungen ging er nicht ein. Er
haßte die Angewohnheit, die Zukunft wie eine Bettdecke zu lüften, und
noch mehr haßte er den nachträglichen Stolz, schon vorher recht gehabt
zu haben. Wie plumpvertraulich war diese Art des Umgangs mit dem Schicksal!
Seine Abneigung hatte damit, ob Vorahnungen möglich seien oder nicht,
nichts zu tun. Er empfand es als Anmaßung, sich mit dem, was noch
verhüllt war, herumzuduzen. So passiv er auch zu sein pflegte: mit einer
Fügung in Unvermeidliches hatte das nichts zu schaffen.
"Eine sehr merkwürdige Rolle", sagte sie. "Stell dir vor, daß ich
in dem Film die Frau eines Mannes zu sein habe, der, um seiner verschrobenen
Phantasie Genüge zu tun, von mir verlangt, daß ich mich unablässig
verwandle. Er ist ein pathologischer Mensch und nötigt mich, bald ein
unerfahrenes Mädchen und bald eine raffinierte Frau zu spielen, bald ein
ordinäres Weib und dann wieder ein hirnloses, elegantes Luxusgeschöpf. Dabei
stellt sich, für mich später als für ihn und die Zuschauer, heraus,
daß ich ein ganz anderes Wesen bin, als ich selber glaube. Beide, er
und ich, werden überrascht sein, denn ich werde mich unaufhaltsam,
schließlich gegen seinen Willen, verändern und erst dadurch das
geworden sein, was ich schon immer war. Gemein und herrschsüchtig, stellt
sich heraus, bin ich im Grunde, und in dem Konflikt, den er durch seine
Befehle beschwor, wird er tragisch unterliegen."
"Ist der Einfall von Makart? Sieh dich vor, Cornelia, der Mann ist
gefährlich. Er wird dich diese Verwandlung zwar spielen lassen, aber
insgeheim wird er mit sich selber wetten, ob du in Wirklichkeit so wirst."
"Das wäre kein Unglück, Fabian. Solche Männer wollen überfahren werden.
Der Film wird ein Privatkursus fürs ganze Leben."
Er kramte in den Taschen, fand das Geldbündel, zählte tausend Mark ab
und gab sie Cornelia. "Da, Labude hinterließ mir das Geld. Nimm die
Hälfte. Es beruhigt mich."
"Wenn wir vor drei Tagen zweitausend Mark gehabt hätten", sagte sie.
Fabian beobachtete den Chauffeur, der fortwährend in den kleinen
konkaven Sucherspiegel blickte und sie darin überwachte. "Deine Gouvernante
wird uns noch an einen Baum fahren. Vorn ist die Musik!" schrie er, und der
Chauffeur ließ sie vorübergehend mit dem Blick los.
"Heute nachmittag komme ich ohne ihn", sagte sie. "Ich weiß
nicht, ob ich zu Hause bin", erwiderte er. Sie lehnte sich flüchtig und
schüchtern an ihn. "Ich komme auf alle Fälle, vielleicht kannst du mich
brauchen." Vor der Universität stieg er aus. Sie fuhr mit ihrem
Gefängnisinspektor weiter.
Der Institutsdiener öffnete ihm. Der Geheimrat sei noch nicht da, werde
aber jeden Augenblick von der Reise zurückerwartet. Ob der Assistent da sei?
Jawohl. Im Vorzimmer saßen Justizrat Labude und seine Frau. Sie sah
sehr alt aus, weinte, als Fabian sie begrüßte, und sagte: "Wir haben
uns nicht um ihn gekümmert."
"Es ist sinnlos, sich Vorwürfe zu machen", entgegnete Fabian.
"War er nicht alt genug?" fragte der Justizrat. Seine Frau schluchzte
laut auf, und er verzog die Stirn. "Ich habe heute nacht Stephans Arbeit
gelesen", erzählte er. "Ich verstehe zwar nichts von eurem Fach, und ich
weiß nicht, ob die Grundlagen der Untersuchung stimmen. Aber daß
die Folgerungen klug und scharfsinnig sind, steht außer allem
Zweifel."
"Auch die Grundlagen der Untersuchungen sind in Ordnung", meinte
Fabian. "Die Arbeit ist meisterhaft. Wenn nur der Geheimrat käme!"
Frau Labude weinte vor sich hin. "Warum wollt ihr ihm, nun er tot ist,
die Ursache rauben, derentwegen er starb?" fragte sie. "Kommt, wir wollen
von hier fortgehen!" Sie stand auf und packte die zwei Männer. "Laßt
ihn in Frieden!"
Aber der Justizrat sagte: "Setz dich hin, Luise."
Und dann kam der Geheimrat. Er war ein Mann von altväterlicher Eleganz,
außerdem standen ihm die Augen etwas zu weit aus dem Kopf. Der
Institutsdiener kletterte hinter ihm die Treppe hoch und trug einen
Handkoffer. "Das ist ja fürchterlich", erklärte der Geheimrat und ging, mit
seitlich geneigtem Kopf, auf Labudes Eltern zu. Die Frau des Justizrates
weinte lauter, als er ihr die Hand drückte, und auch der Justizrat war
ergriffen. "Wir kennen uns", sagte der alte Literaturhistoriker zu Fabian.
"Sie waren sein Freund." Er schloß die Tür zu seinem Zimmer auf, bat
näherzutreten, entschuldigte sich für einen Augenblick und wusch sich,
während die anderen stumm um den Tisch saßen, die Hände, wie vor einer
ärztlichen Ordination. Der Diener hielt das Handtuch bereit.
Der Geheimrat sagte, während er sich abtrocknete: "Ich bin für keinen
Menschen zu sprechen." Der Diener entfernte sich, der Geheimrat nahm Platz.
"Ich kaufte mir heute morgen in Naumburg eine Zeitung", berichtete er, "und
das erste, was ich las, war die Meldung von dem tragischen Geschick Ihres
Sohnes. Ist es allzu indiskret, wenn ich die nächstliegende Frage an Sie
stelle? Was, um des Himmels willen, hat Ihren Sohn zu diesem äußersten
Schritt bewogen?"
Der Justizrat ballte die Hand, die auf dem Tisch lag, zur Faust.
"Können Sie sich das nicht denken?" Der Geheimrat schüttelte den Kopf. "Ich
habe nicht die geringste Ahnung."
Labudes Mutter hob die Hände und faltete sie in der Luft. Ihr Blick bat
die Männer, innezuhalten. Aber Labudes Vater beugte sich weit vor. "Mein
Sohn hat sich erschossen, weil Sie seine Arbeit abgelehnt haben."
Der Geheimrat zog das seidene Tuch aus der Tasche und fuhr sich damit
über die Stirn. "Was?" fragte er tonlos. Er stand auf und starrte aus seinen
vorgewölbten Augen die Umsitzenden an, als befürchte er, sie seien
wahnsinnig.
"Aber das ist ja gar nicht möglich", flüsterte er.
"Doch, es ist möglich!" rief der Justizrat. "Nehmen Sie Ihren Mantel,
kommen Sie mit, sehen Sie sich unseren Jungen an! Auf dem Sofa liegt er und
ist so tot, wie man nur sein kann."
Frau Labude blickte aus weitgeöffneten, unbeweglichen Augen und sagte:
"Sie töten ihn zum zweiten Male."
"Das ist ja grauenhaft", murmelte der Geheimrat. Er packte den Arm des
Justizrates. "Ich hätte die Arbeit abgelehnt? Wer hat das behauptet? Wer hat
das behauptet?" rief er. "Ich habe die Arbeit mit dem Bemerken bei der
Fakultät in Umlauf gesetzt, daß sie die reifste literarhistorische
Leistung der letzten Jahre darstelle. Ich habe in meinem Votum geschrieben,
Doktor Stephan Labude könne, infolge dieser Arbeit, auf das lebhafteste
Interesse der Fachkreise Anspruch erheben. Ich habe geschrieben, Doktor
Labude leiste mit diesem Beitrag zur Aufklärung der modernen Forschung
unschätzbare Dienste. Ich habe geschrieben, noch nie sei mir aus
Schülerkreisen eine Schrift von ähnlicher Bedeutung vorgelegt worden und ich
ließe sie in der Schriftenreihe als Sonderdruck erscheinen. Wer hat
behauptet, die Arbeit sei von mir abgelehnt worden?"
Labudes Eltern saßen regungslos.
Fabian zitterte am ganzen Körper. "Einen Augenblick", sagte er heiser,
"ich hole ihn." Dann rannte er hinaus, die Treppe hinunter, ins
Katalogzimmer. Doktor Weckherlin, der wissenschaftliche Gehilfe des
Instituts, saß über eine Kartothek gebückt und ordnete Kärtchen ein,
auf denen die Neuanschaffungen der Bibliothek verzeichnet waren. Er blickte
ungehalten hoch und kniff die kurzsichtigen Augen zusammen. "Was wollen
Sie?" fragte er.
"Sie sollen sofort zum Geheimrat kommen", sagte Fabian, und als der
andere keine Anstalten traf, sondern bloß nickte und in der Kartothek
zu blättern fortfuhr, faßte er ihn am Kragen, zerrte ihn vom Stuhl und
stieß ihn zur Tür hinaus.
"Was erlauben Sie sich eigentlich?" fragte er. Aber Fabian schlug ihm,
statt zu antworten, mit der Faust ins Gesicht. Weckherlin hob den Arm, um
sich zu schützen, und stolperte, ohne länger zu widersprechen, die Treppe
hinauf. Vor dem Zimmer des Geheimrats zögerte er wieder, aber Fabian
riß die Tür auf. Der Geheimrat und Labudes Eltern fuhren zusammen. Der
Assistent blutete aus der Nase.
"Ich muß in Ihrer Gegenwart einige Fragen an diesen Herrn
richten", sagte Fabian. "Doktor Weckherlin, haben Sie gestern mittag meinem
Freund Labude erzählt, seine Arbeit sei abgelehnt worden? Haben Sie erzählt,
der Geheimrat habe geäußert, die Arbeit der Fakultät weiterzugeben,
heiße die Professoren belästigen? Haben Sie ihm erzählt, der Geheimrat
wolle ihm außerdem durch diese private Ablehnung eine öffentliche
Blamage ersparen?"
Frau Labude stöhnte und glitt ohnmächtig vom Stuhl. Keiner der Männer
kümmerte sich um sie. Weckherlin war bis zur Tür zurückgewichen. Die drei
anderen Männer standen vorgeneigt und warteten auf Antwort.
"Weckherlin", flüsterte der Geheimrat und stützte sich schwer auf die
Stuhllehne.
Der Assistent verzog das breite, blasse Gesicht, als wolle er lächeln,
er öffnete wiederholt den Mund. "Wird's bald?" fragte der Justizrat drohend.
Weckherlin legte die Hand auf die Klinke und sprach: "Es war nur ein
Scherz!"
Da schrie Fabian, es war ein unartikulierter Laut, er klang wie der
Schrei eines Tieres. Im nächsten Augenblick sprang er vor und schlug auf den
Assistenten ein, mit beiden Fäusten, unablässig, ohne zu überlegen, wohin er
traf. Besinnungslos, wie ein automatischer Hammer, schlug er zu, immer
wieder. "Du Schuft!" brüllte er und hieb dem anderen beide Fäuste mitten ins
Gesicht. Weckherlin lächelte noch immer, als wolle er sich entschuldigen.
Er hatte vergessen, daß er die Hand auf der Klinke hielt und aus dem
Zimmer fliehen wollte. Er sank unter den Schlägen vorübergehend in die Knie.
Er zog sich an der Klinke wieder hoch, die Tür schnappte auf. Jetzt erst
besann er sich auf seinen Vorsatz, drängte durch die Tür auf den Korridor,
Fabian folgte ihm, sie näherten sich, Schritt für Schritt, der Treppe, die
ins Untergeschoß führte, der eine schlug, der andere blutete.
Unten am Fuß der Treppe sammelten sich Studenten, die der Lärm
aus den Institutsräumen gelockt hatte. Sie standen stumm und abwartend, als
spürten sie, was dort oben geschah, sei gerecht. "Du Hund!" sagte Fabian und
traf den Assistenten unterm Kinn. Weckherlin kippte hintenüber, schlug dumpf
mit dem Kopf auf eine Stufe und rollte klappernd die Holztreppe hinunter.
Fabian lief hinter ihm her und wollte sich über ihn stürzen. Da sprangen ein
paar Studenten vor und hielten ihn fest. "Laßt mich los!" schrie er
und riß wie ein Tobsüchtiger an den Armen, die ihn umklammerten.
"Laßt mich los, ich schlag ihn tot!" Jemand hielt ihm den Mund zu. Der
Institutsdiener kniete neben dem Assistenten. Der versuchte sich
aufzurichten, sank aber stöhnend zurück. Man schleppte ihn ins
Katalogzimmer.
Im Obergeschoß, dicht an der Treppe, standen der Geheimrat und
Labudes Vater. Durch die geöffnete Tür vernahm man langgezogene Klagelaute,
Stephans Mutter war aus der Ohnmacht erwacht.
"Ach so, es war nur ein Scherz!" rief der Justizrat und lachte
verzweifelt.
Der Geheimrat sagte markig, als habe er endlich einen Ausweg gefunden:
"Doktor Weckherlin ist entlassen." Die Studenten gaben Fabian frei, er
senkte den Kopf, vielleicht bedeutete es einen Abschiedsgruß, und
verließ das Institut.
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Juristin wird Filmstar
Eine alte Bekannte
Die Mutter verkauft Schmierseife
Es war nur ein Scherz gewesen!
Herr Weckherlin hatte einen dummen Witz gemacht, und Labude war daran
gestorben. Es war nur scheinbar ein Selbstmord gewesen. Ein Subalternbeamter
des Mittelhochdeutschen hatte den Freund umgebracht. Er hatte ihm
vergiftete Worte ins Ohr geträufelt, wie Arsenik ins Trinkglas. Er hatte,
zum Spaß, auf Labude gezielt und abgedrückt. Und aus der ungeladenen
Waffe war ein tödlicher Schuß gefallen.
Fabian sah, während er durch die Friedrichstraße lief, immer noch
Weckherlins feig lächelndes Gesicht vor Augen, und er fragte sich
nachträglich überrascht: Warum habe ich auf den Kerl eingeschlagen, als
müsse alles vernichtet werden? Warum war meine Wut auf ihn größer als
die Trauer über Labudes unsinniges Ende? Verdient ein Mensch, der, wie
jener, unabsichtlich solches Unheil anstiftet, nicht eher Mitleid als
Haß?
Wird er jemals wieder ruhig schlafen können?
Fabian verstand allmählich seinen Instinkt. Weckherlin hatte es nicht
absichtlich getan. Er hatte Labude treffen wollen, nicht töten, aber
verwunden. Der talentlose Konkurrent hatte sich am Begabten gerächt. Seine
Lüge war eine Sprengkapsel gewesen. Er hatte sie in Labude hineingeworfen
und war davongelaufen, um, aus sicherer Entfernung, schadenfroh die
Explosion zu beobachten.
Weckherlin war entlassen, verprügelt worden war er auch. Aber wäre es
nicht besser gewesen, er hätte seinen Posten nicht verloren und die Schläge
nicht erhalten? Wäre es nicht besser gewesen, Weckherlins Lüge hätte, wenn
Labude schon einmal tot war, weitergelebt? Gestern hatte ihn der Tod des
Freundes mit Traurigkeit beseelt, heute erfüllte er ihn mit Unfrieden. Die
Wahrheit war an den Tag gekommen, wem war damit gedient? Labudes Eltern
etwa, die nun endlich wußten, daß ihr Sohn das Opfer einer
Infamie geworden war? Bevor sie erfuhren, was die Wahrheit war, hatte es
keine Lügen gegeben. Nun hatte die Gerechtigkeit gesiegt, und aus dem
Selbstmord wurde nachträglich ein tragischer Witz. Fabian dachte an Labudes
Begräbnis, und ihn schauderte: Er sah sich schon im Trauergefolge, am Sarg
erkannte er Labudes Eltern, auch der Geheimrat war in der Nähe, und Labudes
Mutter schrie laut auf. Sie riß sich den schwarzen Kreppschleier vom
schwarzen Hut und sank jammernd vornüber.
"Obacht!" sagte jemand ärgerlich. Fabian wurde gestoßen und stand
still. Hätte er die Sache mit Weckherlin vertuschen sollen, statt sie
aufzuklären? Hätte er die Kenntnis des wahren Sachverhalts in sich
einschließen sollen, um die Eltern davor zu bewahren? Warum war Labude
bis in seine letzten Briefe so gründlich, warum war er so ordnungsliebend
gewesen? Warum hatte er sein Motiv beim Namen genannt? Fabian ging weiter.
Er bog in die Leipziger Straße ein. Es war Mittag. Die Angestellten
der Büros und die Verkäuferinnen umdrängten die Haltestellen und stürmten
die Autobusse, die Eßpause war kurz.
Wenn dieser Weckherlin nicht dazwischengekommen wäre, wenn Labude
erfahren hätte, wie seine Arbeit wirklich eingeschätzt wurde, wäre er jetzt
nicht gestorben, mehr noch, der Erfolg hätte ihn befeuert, hätte ihm die
Enttäuschung mit Leda erleichtert und seinem politischen Ehrgeiz Luft
gemacht. Warum hatte er denn an der Arbeit fünf Jahre gesessen? Sich selbst
hatte er beweisen wollen, daß er leistungsfähig war. Er hatte mit
diesem Erfolg gerechnet, er hatte ihn psychologisch abwägend in seine
Entwicklung einkalkuliert, und die Kalkulation war richtig gewesen. Und
doch hatte er Weckherlins Lüge eher geglaubt als seiner eigenen Überzeugung.
Nein, Fabian wollte nicht dabei sein, wenn man den Freund ins Jenseits
beförderte. Er mußte fort aus dieser Stadt. Er starrte auf eines der
vorüberfahrenden Autos. War es nicht Cornelia? Dort neben dem dicken Mann?
Sein Herz setzte aus. Sie war es nicht. Er mußte fort, keine zehn
Pferde hielten ihn länger.
Er ging zum Bahnhof. Er fuhr nicht noch einmal zur Witwe Hohlfeld, er
ließ in deren Zimmer alles, wie es stand und lag, stehen und liegen.
Er besuchte Zacharias nicht mehr, diesen eitlen, verlogenen Menschen. Er
ging zum Bahnhof. Der D-Zug ging in einer Stunde. Fabian besorgte sich eine
Fahrkarte, kaufte Tageszeitungen, setzte sich in den Wartesaal und
durchflog die Blätter.
Auf einer Wirtschaftstagung waren internationale Abkommen großen
Stils gefordert worden. War dergleichen nur Schönrederei? Oder begriff man
allmählich, was alle wußten? Erkannte man, daß die Vernunft das
vernünftigste war? Vielleicht hatte Labude recht gehabt? Vielleicht war es
wirklich nicht nötig, auf die sittliche Hebung der gefallenen Menschheit zu
warten? Vielleicht war das Ziel der Moralisten, wie Fabian einer war,
tatsächlich durch wirtschaftliche Maßnahmen erreichbar? War die
moralische Forderung nur deswegen uneinlösbar, weil sie sinnlos war? War
die Frage der Weltordnung nichts weiter als eine Frage der Geschäftsordnung?
Labude war tot. Ihn hätte so etwas begeistert. In seine Pläne hätte es
sich eingefügt. Fabian saß im Wartesaal, dachte des Freundes Gedanken
und blieb apathisch. Wollte er die Besserung der Zustände? Er wollte die
Besserung der Menschen. Was war ihm jenes Ziel ohne diesen Weg dahin? Er
wünschte jedem Menschen pro Tag zehn Hühner in den Topf, er wünschte jedem
sein Wasserklosett mit Lautsprecher, er wünschte jedem sieben Automobile,
für jeden Tag der Woche eins. Aber was war damit erreicht, wenn damit nichts
anderes erreicht wurde? Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde
gut, wenn es ihm gutginge? Dann mußten ja die Beherrscher der Ölfelder
und der Kohlengruben wahre Engel sein!
Hatte er nicht zu Labude gesagt: "Noch in dem Paradies, das du
erträumst, werden sich die Menschen gegenseitig die Fresse vollhauen?"
War das Elysium, mit zwanzigtausend Mark Durchschnittseinkommen pro
Barbaren, ein menschenwürdiger Abschluß?
Während er, sitzenderweise, seine moralische Haltung gegen die
Konjunkturforscher verteidigte, regten sich wieder jene Zweifel, die seit
langem in seinem Gefühl wie Würmer wühlten. Waren jene humanen, anständigen
Normalmenschen, die er herbeiwünschte, in der Tat wünschenswert? Wurde
dieser Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht schon in
der bloßen Vorstellung infernalisch? War ein derartig mit Edelmut
vergoldetes Zeitalter überhaupt auszuhalten? War es nicht viel eher zum
Blödsinnigwerden? War vielleicht jene Planwirtschaft des reibungslosen
Eigennutzes nicht nur der eher zu verwirklichende, sondern auch der eher
erträgliche Idealzustand? Hatte seine Utopie bloß regulative
Bedeutung, und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu schaffen?
War es nicht, als spräche er zur Menschheit, ganz wie zu einer Geliebten:
"Ich möchte dir die Sterne vom Himmel holen!" Dieses Versprechen war
lobenswert, aber wehe, wenn der Liebhaber es wahrmachte. Was finge die
bedauernswerte Geliebte mit den Sternen an, wenn er sie angeschleppt
brächte! Labude hatte auf dem Boden der Tatsachen gestanden, hatte
marschieren wollen und war gestolpert. Er, Fabian, schwebte, weil er nicht
schwer genug war, im Raum und lebte weiter. Warum lebte er denn noch, wenn
er nicht wußte, wozu? Warum lebte der Freund nicht mehr, der das Wozu
gekannt hatte? Es starben und es lebten die Verkehrten. Im Feuilleton des
Boulevardblattes, das auf seinen Knien lag, sah er Cornelia wieder.
"Juristin wird Filmstar", stand groß unter dem Foto. "Fräulein Dr.
jur. Cornelia Battenberg", war weiterhin zu lesen, "wurde von Edwin Makart,
dem bekannten Filmindustriellen, entdeckt und beginnt schon in den nächsten
Tagen mit den Aufnahmen zu dem Film "Die Masken der Frau Z"."
"Alles Gute", flüsterte Fabian und nickte dem Bild zu. In der anderen
Zeitung sah er sie noch einmal. Sie trug einen imposanten Sommerpelz und
saß in dem Auto, das er schon kannte, am Steuer. Neben ihr hockte ein
dicker, großer Mensch, anscheinend der Entdecker persönlich. Die
Unterschrift bestätigte die Vermutung. Der Mann wirkte brutal und
verschlagen, wie ein Teufel ohne Gymnasialbildung. Edwin Makart, der Mann
mit der Wünschelrute, wurde vom Redakteur behauptet; seine neueste
Entdeckung heiße Cornelia Battenberg. Sie repräsentiere als ehemaliger
Referendar einen neuen Modetyp, die intelligente deutsche Frau.
"Alles Gute", wiederholte Fabian und starrte auf das Foto. Wie lange
war das her! Er blickte auf das Bild, als betrachte er ein Grab. Eine
unsichtbare gespenstische Schere hatte sämtliche Bande, die ihn an diese
Stadt fesselten, zerschnitten. Der Beruf war verloren, der Freund tot,
Cornelia in fremder Hand, was hatte er hier noch zu suchen?
Er trennte die Fotografien sorgfältig aus den Zeitungen, verwahrte die
Ausschnitte im Notizbuch und warf die Zeitungen fort. Nichts hielt ihn
zurück, er verlangte dorthin, woher er gekommen war: nach Hause, in seine
Vaterstadt, zu seiner Mutter. Er war schon lange nicht mehr in Berlin,
obwohl er noch immer auf dem Anhalter Bahnhof saß. Würde er
wiederkommen? Als sich ein paar Leute an seinem Tisch breitmachten, stand er
auf, durchschritt die Sperre und setz