Patrik Zyuskind. Parfyumer (Na nemeckom yazyke) Patrick Suskind. Das Parfum --------------------------------------------------------------- Patrik Zyuskind. Parfyumer. Na nemeckom yazyke. 1998 OCR, Spellcheck: Il'ya Frank, http://frank.deutschesprache.ru ¡ http://frank.deutschesprache.ru --------------------------------------------------------------- ERSTER TEIL 1 Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehurte. Seine Geschichte soll hier erzuhlt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouches, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen beruhmteren Finstermunnern an Selbstuberhebung, Menschenverachtung, Immoralitut, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hutte, sondern weil sich sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschrunkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinterlusst: auf das fluchtige Reich der Geruche. Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Studten ein fur uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhufe nach Urin, es stanken die Treppenhuuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Kuchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelufteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechend sußen Duft der Nachttupfe. Aus den Kaminen stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die utzenden Laugen, aus den Schlachthufen stank das geronnene Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach verrotteten Zuhnen, aus ihren Mugen nach Zwiebelsaft und an den Kurpern, wenn sie nicht mehr ganz jung waren, nach altem Kuse und nach saurer Milch und nach Geschwulstkrankheiten. Es stanken die Flusse, es stanken die Plutze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brucken und in den Palusten. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der Kunig stank, wie ein Raubtier stank er, und die Kunigin wie eine alte Ziege, sommers wie winters. Denn der zersetzenden Aktivitut der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert noch keine Grenze gesetzt, und so gab es keine menschliche Tutigkeit, keine aufbauende und keine zersturende, keine uußerung des aufkeimenden oder verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen wure. Und naturlich war in Paris der Gestank am grußten, denn Paris war die grußte Stadt Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es einen Ort, an dem der Gestank ganz besonders infernalisch herrschte, zwischen der Rue aux Fers und der Rue de la Ferronnerie, numlich den Cimetiere des Innocents. Achthundert Jahre lang hatte man hierher die Toten des Krankenhauses Hotel-Dieu und der umliegenden Pfarrgemeinden verbracht, achthundert Jahre lang Tag fur Tag die Kadaver zu Dutzenden herbeigekarrt und in lange Gruben geschuttet, achthundert Jahre lang in den Gruften und Beinhuusern Knuchelchen auf Knuchelchen geschichtet. Und erst sputer, am Vorabend der Franzusischen Revolution, nachdem einige der Leichengruben gefuhrlich eingesturzt waren und der Gestank des uberquellenden Friedhofs die Anwohner nicht mehr zu bloßen Protesten, sondern zu wahren Aufstunden trieb, wurde er endlich geschlossen und aufgelassen, wurden die Millionen Knochen und Schudel in die Katakomben von Montmartre geschaufelt, und man errichtete an seiner Stelle einen Marktplatz fur Viktualien. Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Kunigreichs, wurde am 17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der heißesten Tage des Jahres. Die Hitze lag wie Blei uber dem Friedhof und quetschte den nach einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem Hurn riechenden Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles Mutter stand, als die Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux Fers und schuppte Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die Fische, angeblich erst am Morgen aus der Seine gezogen, stanken bereits so sehr, dass ihr Geruch den Leichengeruch uberdeckte. Grenouilles Mutter aber nahm weder den Fisch- noch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen Geruche im huchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr Leib, und der Schmerz tutete alle Empfunglichkeit fur uußere Sinneseindrucke. Sie wollte nur noch, dass der Schmerz aufhure, sie wollte die eklige Geburt so rasch als muglich hinter sich bringen. Es war ihre funfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert, und alle waren Totgeburten oder Halbtotgeburten gewesen, denn das blutige Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekruse, das da schon lag, und lebte auch nicht viel mehr, und abends wurde alles mitsammen weggeschaufelt und hinubergekarrt zum Friedhof oder hinunter zum Fluss. So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter, die noch eine junge Frau war, gerade Mitte zwanzig, die noch ganz hubsch aussah und noch fast alle Zuhne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haar und außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine ernsthafte Krankheit; die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht funf oder zehn Jahre lang, und vielleicht sogar einmal zu heiraten und wirkliche Kinder zu bekommen als ehrenwerte Frau eines verwitweten Handwerkers oder so... Grenouilles Mutter wunschte, dass alles schon voruber wure. Und als die Presswehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und gebar dort, wie schon vier Mal zuvor und nabelte mit dem Fischmesser das neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze und des Gestanks, den sie als solchen nicht wahrnahm, sondern nur als etwas Unertrugliches, Betuubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges Zimmer, in dem zu viel Narzissen stehen -, wurde sie ohnmuchtig, kippte zur Seite, fiel unter dem Tisch hervor mitten auf die Straße und blieb dort liegen, das Messer in der Hand. Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die Polizei. Immer noch liegt dieFrau mit dem Messer in der Hand auf der Straße, la ngsam kommt sie zu sich. Was ihr geschehen sei? "Nichts." Was sie mit dem Messer tue? "Nichts." Woher das Blut an ihren Rucken komme? "Von den Fischen." Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen. Da fungt, wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu schreien an. Man schaut nach, entdeckt unter einem Schwurm von Fliegen und zwischen Gekruse und abgeschlagenen Fischkupfen das Neugeborene, zerrt es heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen. Und weil sie gestundig ist und ohne weiteres zugibt, dass sie das Ding bestimmt wurde haben verrecken lassen, wie sie es im ubrigen schon mit vier anderen getan habe, macht man ihr den Prozess, verurteilt sie wegen mehrfachen Kindermords und schlugt ihr ein paar Wochen sputer auf der Place de Greve den Kopf ab. Das Kind hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das dritte Mal die Amme gewechselt. Keine wollte es lunger als ein paar Tage behalten. Es sei zu gierig, hieß es, sauge fur zwei, entziehe den anderen Stillkindern die Milch und damit ihnen, den Ammen, den Lebensunterhalt, da rentables Stillen bei einem einzigen Suugling unmuglich sei. Der zustundige Polizeioffizier, ein gewisser La Fosse, war die Sache alsbald leid und wollte das Kind schon zur Sammelstelle fur Findlinge und Waisen in der uußeren Rue Saint-Antoine bringen lassen, von wo aus tuglich Kindertransporte ins staatliche Großfindelheim von Rouen abgingen. Da nun aber diese Transporte von Lasttrugern vermittels Bastkiepen durchgefuhrt wurden, in welche man aus Rationalitutsgrunden bis zu vier Suuglinge gleichzeitig steckte; da deshalb die Sterberate unterwegs außerordentlich hoch war; da aus diesem Grund die Kiepentruger angehalten waren, nur getaufte Suuglinge zu befurdern und nur solche, die mit einem ordnungsgemußen Transportschein versehen waren, welcher in Rouen abgestempelt werden musste; da das Kind Grenouille aber weder getauft war noch uberhaupt einen Namen besaß, den man ordnungsgemuß in den Transportschein hutte eintragen kunnen; da es ferner seitens der Polizei nicht gut angungig gewesen wure, ein Kind anonymiter vor den Pforten der Sammelstelle auszusetzen, was allein die Erfullung der ubrigen Formalituten erubrigt haben wurde... - aus einer Reihe von Schwierigkeiten burokratischer und verwaltungstechnischer Art also, die sich bei der Abschiebung des Kleinkinds zu ergeben schienen, und weil im ubrigen die Zeit drungte, nahm der Polizeioffizier La Fosse von seinem ursprunglichen Entschluss wieder Abstand und gab Anweisung, den Knaben bei irgendeiner kirchlichen Institution gegen Aushundigung einer Quittung abzugeben, damit man ihn dort taufe und uber sein weiteres Schicksal entscheide. Im Kloster von Saint-Merri in der Rue Saint-Martin wurde man ihn los. Er erhielt die Taufe und den Namen Jean-Baptiste. Und weil der Prior an diesem Tage gute Laune hatte und seine karitativen Fonds noch nicht erschupft waren, ließ man das Kind nicht nach Rouen exportieren, sondern auf Kosten des Klosters aufpuppeln. Es wurde zu diesem Behuf einer Amme namens Jeanne Bussie in der Rue Saint-Denis ubergeben, welche bis auf weiteres drei Franc pro Woche fur ihre Bemuhungen erhielt. 2 Einige Wochen sputer stand die Amme Jeanne Bussie mit einem Henkelkorb in der Hand vor der Pforte des Klosters von Saint-Merri und sagte dem uffnenden Pater Terrier, einem etwa funfzigjuhrigen kahlkupfigen, leicht nach Essig riechenden Munch "Da!" und stellte den Henkelkorb auf die Schwelle. "Was ist das?" sagte Terrier und beugte sich uber den Korb und schnupperte daran, denn er vermutete Essbares. "Der Bastard der Kindermurderin aus der Rue aux Fers!" Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das Gesicht des schlafenden Suuglings freigelegt hatte. "Gut schaut er aus. Rosig und wohlgenuhrt." "Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil er mich leergepumpt hat bis auf die Knochen. Aber damit ist jetzt Schluss. Jetzt kunnt Ihr ihn selber weiterfuttern mit Ziegenmilch, mit Brei, mit Rubensaft. Er frisst alles, der Bastard." Pater Terrier war ein gemutlicher Mann. In seine Zustundigkeit fiel die Verwaltung des klusterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme und Bedurftige. Und er erwartete, dass man ihm dafur Danke sagte und ihn des weiteren nicht belustigte. Technische Einzelheiten waren ihm sehr zuwider, denn Einzelheiten bedeuteten immer Schwierigkeiten, und Schwierigkeiten bedeuteten eine Sturung seiner Gemutsruhe, und das konnte er gar nicht vertragen. Er urgerte sich, dass er die Pforte uberhaupt geuffnet hatte. Er wunschte, dass diese Person ihren Henkelkorb nuhme und nach Hause ginge und ihn in Ruhe ließe mit ihren Suuglingsproblemen. Langsam richtete er sich auf und sog mit einem Atemzug den Duft von Milch und kusiger Schafswolle ein, den die Amme verstrumte. Es war ein angenehmer Duft. "Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf du hinauswillst. Ich kann mir nur vorstellen, dass es diesem Suugling durchaus nicht schaden wurde, wenn er noch geraume Zeit an deinen Brusten luge." "Ihm nicht", schnarrte die Amme zuruck, "aber mir. Zehn Pfund habe ich abgenommen und dabei gegessen fur drei. Und wofur? Fur drei Franc in der Woche!" "Ach, ich verstehe", sagte Terrier fast erleichtert, "ich bin im Bilde: Es geht also wieder einmal ums Geld." "Nein!" sagte die Amme. "Doch! Immer geht es ums Geld. Wenn an diese Pforte geklopft wird, geht es ums Geld. Einmal wunschte ich mir, dass ich uffnete, und es stunde ein Mensch da, dem es um etwas anderes ginge. Jemand, der beispielsweise eine kleine Aufmerksamkeit vorbeibruchte. Beispielsweise etwas Obst oder ein paar Nusse. Es gibt doch im Herbst eine Menge Dinge, die man vorbeibringen kunnte. Blumen vielleicht. Oder wenn bloß jemand kume und freundlich sagte: >Gott zum Gruße, Pater Terrier, ich wunsche Ihnen einen schunen Tag!< Aber das werde ich wohl nie mehr erleben. Wenn es kein Bettler ist, dann ist es ein Hundler, und wenn es kein Hundler ist, dann ist es ein Handwerker, und wenn er kein Almosen will, dann prusentiert er eine Rechnung. Ich kann schon gar nicht mehr auf die Straße gehen. Wenn ich auf die Straße gehe, bin ich nach drei Schritten umzingelt von Individuen, die Geld wollen!" "Nicht von mir", sagte die Amme. "Aber ich sage dir eines: Du bist nicht die einzige Amme im Sprengel. Es gibt Hunderte von erstklassigen Ziehmuttern, die sich darum reißen werden, diesen entzuckenden Suugling fur drei Franc pro Woche an die Brust zu legen oder ihm Brei oder Sufte oder sonstige Nuhrmittel einzuflußen..." "Dann gebt ihn einer von denen!" "... Andrerseits ist es nicht gut, ein Kind so herumzuschubsen. Wer weiß, ob es mit anderer Milch so gut gedeiht wie mit deiner. Es ist den Duft deiner Brust gewuhnt, musst du wissen, und den Schlag deines Herzens." Und abermals nahm er einen tiefen Atemzug vom warmen Dunst, den die Amme verstrumte, und sagte dann, als er merkte, dass seine Worte keinen Eindruck auf sie gemacht hatten: "Nimm jetzt das Kind mit nach Hause! Ich werde die Sache mit dem Prior besprechen. Ich werde ihm vorschlagen, dir kunftig vier Franc in der Woche zu geben." "Nein", sagte die Amme. "Also gut: funf!" "Nein." "Wie viel verlangst du denn noch?" schrie Terrier sie an. "Funf Franc sind ein Haufen Geld fur die untergeordnete Aufgabe, ein kleines Kind zu ernuhren!" "Ich will uberhaupt kein Geld", sagte die Amme. "Ich will den Bastard aus dem Haus haben." "Aber warum denn, liebe Frau?" sagte Terrier und fingerte wieder in dem Henkelkorb herum. "Er ist doch ein allerliebstes Kind. Er sieht rosa aus, er schreit nicht, er schluft gut, und er ist getauft." "Er ist vom Teufel besessen." Rasch zog Terrier seine Finger aus dem Korb. "Unmuglich! Es ist absolut unmuglich, dass ein Suugling vom Teufel besessen ist. Ein Suugling ist kein Mensch, sondern ein Vormensch und besitzt noch keine voll ausgebildete Seele. Infolgedessen ist er fur den Teufel uninteressant. Spricht er vielleicht schon? Zuckt es in ihm? Bewegt er Dinge im Zimmer? Geht ein ubler Gestank von ihm aus?" "Er riecht uberhaupt nicht", sagte die Amme. "Da hast du es! Das ist ein eindeutiges Zeichen. Wenn er vom Teufel besessen wure, musste er stinken." Und um die Amme zu beruhigen und seinen eigenen Mut unter Beweis zu stellen, hob Terrier den Henkelkorb hoch und hielt ihn sich unter die Nase. "Ich rieche nichts Absonderliches", sagte er, nachdem er eine Weile geschnuppert hatte, "wirklich nichts Absonderliches. Mir scheint allerdings, als ob da etwas aus der Windel ruche." Und er hielt ihr den Korb hin, damit sie seinen Eindruck bestutige."Das meine ich nicht", sagte die Amme unwirsch und schob den Korb von sich. "Ich meine nicht das, was in der Windel ist. Seine Exkremente riechen wohl. Er selbst, der Bastard selbst, riecht nicht." "Weil er gesund ist", rief Terrier, "weil er gesund ist, deshalb riecht er nicht! Nur kranke Kinder riechen, das ist doch bekannt. Bekanntlich riecht ein Kind, das Blattern hat, nach Pferdedung, und eines, welches Scharlachfieber hat, nach alten upfeln, und ein schwindsuchtiges Kind, das riecht nach Zwiebeln. Es ist gesund, das ist alles, was ihm fehlt. Soll es denn stinken? Stinken denn deine eigenen Kinder?" "Nein", sagte die Amme. "Meine Kinder riechen so, wie Menschenkinder riechen sollen." Terrier stellte den Henkelkorb vorsichtig auf den Boden zuruck, denn er fuhlte, wie die ersten Wallungen von Wut uber die Widerborstigkeit der Person in ihm aufstiegen. Es war nicht auszuschließen, dass er im Fortgang des Disputes beide Arme zur freieren Gestik benutigte, und er wollte nicht, dass der Suugling dadurch Schaden nuhme. Vorerst allerdings verknotete er seine Hunde hinter dem Rucken, streckte der Amme seinen spitzen Bauch entgegen und fragte scharf: "Du behauptest also zu wissen, wie ein Menschenkind, das ja immerhin auch - daran muchte ich erinnern, zumal wenn es getauft ist - ein Gotteskind ist, zu riechen habe?" "Ja", sagte die Amme. "Und behauptest ferner, dass, wenn es nicht ruche, wie du meintest, dass es riechen solle - du, die Amme Jeanne Bussie aus der Rue Saint-Denis! -, es dann ein Kind des Teufels sei?" Er schwang die Linke hinter seinem Rucken hervor und hielt ihr drohend den gebogenen Zeigefinger wie ein Fragezeichen vors Gesicht. Die Amme uberlegte. Es war ihr nicht recht, dass das Gespruch mit einem Mal zu einem theologischen Verhur ausartete, bei dem sie nur unterliegen konnte. "Das will ich nicht gesagt haben", antwortete sie ausweichend. "Ob die Sache etwas mit dem Teufel zu tun hat oder nicht, das musst Ihr selbst entscheiden, Pater Terrier, dafur bin ich nicht zustundig. Ich weiß nur eins: dass mich vor diesem Suugling graust, weil er nicht riecht, wie Kinder riechen sollen." "Aha", sagte Terrier befriedigt und ließ seinen Arm wieder zuruckpendeln. "Das mit dem Teufel nehmen wir also wieder zuruck. Gut. Aber nun sage mir gefulligst: Wie riecht ein Suugling denn, wenn er so riecht, wie du glaubst, dass er riechen solle? Na?" "Gut riecht er", sagte die Amme. "Was heisst >gut<?" brullte Terrier sie an. "Gut riecht vieles. Ein Bund Lavendel riecht gut. Suppenfleisch riecht gut. Die Gurten von Arabien riechen gut. Wie riecht ein Suugling, will ich wissen?" Die Amme zugerte. Sie wusste wohl, wie Suuglinge rochen, sie wusste es ganz genau, sie hatte doch schon Dutzende genuhrt, gepflegt, geschaukelt, gekusst... sie konnte sie nachts mit der Nase finden, sie trug den Suuglingsgeruch selbst jetzt deutlich in der Nase. Aber sie hatte ihn noch nie mit Worten bezeichnet. "Na?" bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingernugeln. "Also -", begann die Amme, "es ist nicht ganz leicht zu sagen, weil... weil, sie riechen nicht uberall gleich, obwohl sie uberall gut riechen, Pater, verstehen Sie, also an den Fußen zum Beispiel, da riechen sie wie ein glatter warmer Stein - nein eher wie Topfen... oder wie Butter, wie frische Butter, ja genau: wie frische Butter riechen sie. Und am Kurper riechen sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch gelegt hat. Und am Kopf, da oben, hinten auf dem Kopf, wo das Haar den Wirbel macht, da, schauen Sie, Pater, da, wo bei Ihnen nichts mehr ist...", und sie tippte Terrier, der uber diesen Schwall detaillierter Dummheit fur einen Moment sprachlos geworden war und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die Glatze, "... hier, genau hier, da riechen sie am besten. Da riechen sie nach Karamel, das riecht so suß, so wunderbar, Pater, Sie machen sich keine Vorstellung! Wenn man sie da gerochen hat, dann liebt man sie, ganz gleich ob es die eignen oder fremde sind. Und so und nicht anders mussen kleine Kinder riechen. Und wenn sie nicht so riechen, wenn sie da oben gar nicht riechen, noch weniger als kalte Luft, so wie der da, der Bastard, dann... Sie kunnen das erkluren, wie Sie wollen, Pater, aber ich" - und sie verschrunkte entschlossen die Arme unter ihrem Busen und warf einen so angeekelten Blick auf den Henkelkorb zu ihren Fußen, als enthielte er Kruten -, "ich, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!" Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr sich ein paarmal mit dem Finger uber die Glatze, als wolle er dort Haare ordnen, legte den Finger wie zufullig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich. "Wie Karamel...?" fragte er und versuchte, seinen strengen Ton wiederzufinden... "Karamel! Was weisst du von Karamel? Hast du schon mal welches gegessen?" "Nicht direkt", sagte die Amme. "Aber ich war einmal in einem großen Hotel in der Rue Saint-Honore und habe zugesehen, wie es gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, dass ich es nicht mehr vergessen habe." "Jaja. Schon recht", sagte Terrier und entfernte den Finger von der Nase. "Bitte schweige jetzt! Es ist fur mich uberaus anstrengend, mich weiterhin auf diesem Niveau mit dir zu unterhalten. Ich stelle fest, du weigerst dich, aus welchen Grunden auch immer, den dir anvertrauten Suugling Jean-Baptiste Grenouille weiter zu ernuhren, und erstattest ihn hiermit seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zuruck. Ich finde das betrublich, aber ich kann es wohl nicht undern. Du bist entlassen." Damit packte er den Henkelkorb, nahm noch einen Atemzug von dem verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf das Tor ins Schloss. Dann ging er in sein Buro. 3 Pater Terrier war ein gebildeter Mann. Er hatte nicht nur Theologie studiert, sondern auch die Philosophen gelesen und beschuftigte sich nebenbei mit Botanik und Alchemie. Er hielt einiges auf die Kraft seines kritischen Geistes. Zwar wure er nicht so weit gegangen, wie manche es taten, die Wunder, die Orakel oder die Wahrheit der Texte der Heiligen Schrift in Frage zu stellen, auch wenn sie strenggenommen mit Vernunft allein nicht zu erkluren waren, ja dieser sogar oft direkt widersprachen. Von solchen Problemen ließ er lieber seine Finger, sie waren ihm zu ungemutlich und wurden ihn nur in die peinlichste Unsicherheit und Unruhe sturzen, wo man doch, gerade um sich seiner Vernunft zu bedienen, der Sicherheit und der Ruhe bedurfte. Was er aber aufs entschiedenste bekumpfte, waren die abergluubischen Vorstellungen des einfachen Volkes: Hexerei und Kartenlesen, Amulettgetrage, buser Blick, Beschwurungen, Vollmondhokuspokus und was sie sonst noch alles trieben - es war ja tief deprimierend zu sehen, dass solche heidnischen Gebruuche nach uber tausendjuhriger fester Installation der christlichen Religion immer noch nicht ausgerottet waren! Auch die meisten Fulle von sogenannter Teufelsbesessenheit und Satansbundelei erwiesen sich bei nuherer Betrachtung als abergluubisches Spektakel. Zwar, die Existenz des Satans selbst zu leugnen, seine Macht zu bezweifeln - so weit wurde Terrier nicht gehen; solche Probleme zu entscheiden, die die Grundfesten der Theologie beruhrten, waren andere Instanzen berufen als ein kleiner einfacher Munch. Auf der anderen Seite lag es klar zutage, dass, wenn eine einfultige Person wie jene Amme behauptete, sie habe einen Teufelsspuk entdeckt, der Teufel nie und nimmer seine Hand im Spiel haben konnte. Gerade dass sie ihn entdeckt zu haben glaubte, war ein sicherer Beweis dafur, dass da nichts Teuflisches zu entdecken war, denn so dumm stellte sich der Teufel auch wieder nicht an, dass er sich von der Amme Jeanne Bussie entlarven ließ. Und noch dazu mit der Nase! Mit dem primitiven Geruchsorgan, dem niedrigsten der Sinne! Als ruche die Hulle nach Schwefel und das Paradies nach Weihrauch und Myrrhe! Schlimmster Aberglaube, wie in dunkelster heidnischster Vorzeit, als die Menschen noch wie Tiere lebten, als sie noch keine scharfen Augen besaßen, die Farbe nicht kannten, aber Blut riechen zu kunnen glaubten, meinten, Freund von Feind zu erriechen, von kannibalischen Riesen und Werwulfen gewittert und von Erinnyen gerochen zu werden, und ihren scheußlichen Guttern stinkende, qualmende Brandopfer brachten. Entsetzlich! >Es sieht der Narr mit der Nase< mehr als mit den Augen, und wahrscheinlich musste das Licht der gottgegebenen Vernunft noch tausend weitere Jahre leuchten, ehe die letzten Reste des primitiven Glaubens verscheucht waren. "Ach, und das arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem Korb und schlummert, ahnt nichts von den ekligen Verduchtigungen, die gegen es erhoben werden. Du ruchest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt die unverschumte Person zu behaupten. Ja, was sagen wir denn dazu? Duziduzi!" Und er wiegte den Korb sachte auf den Knien, streichelte dem Suugling mit dem Finger uber den Kopf und sagte von Zeit zu Zeit "duziduzi", was er fur einen auf Kleinkinder zurtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt. "Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!" Nach einer Weile zog er den Finger zuruck, hielt ihn sich unter die Nase, schnupperte, roch aber nichts als das Sauerkraut, das er mittags gegessen hatte. Er zugerte einen Moment, blickte sich um, ob ihn auch niemand beobachte, hob den Korb empor, senkte seine dicke Nase hinein. Ganz knapp, so dass die dunnen rutlichen Kindshaare seine Nustern kitzelten, schnoberte er uber den Kopf des Suuglings, in der Erwartung, einen Geruch aufzusaugen. Er wusste nicht so recht, wie Suuglinge am Kopf zu riechen hatten. Naturlich nicht nach Karamel, so viel stand fest, denn Karamel war ja geschmolzener Zucker, und wie sollte ein Suugling, der bisher nur Milch getrunken hatte, nach geschmolzenem Zucker riechen. Nach Milch kunnte er riechen, nach Ammenmilch. Aber er roch nicht nach Milch. Nach Haaren konnte er riechen, nach Haut und Haaren und vielleicht nach ein bisschen Kinderschweiß. Und Terrier schnupperte und stellte sich darauf ein, Haut, Haare und ein bisschen Kinderschweiß zu riechen. Aber er roch nichts. Beim besten Willen nichts. Wahrscheinlich riecht ein Suugling nicht, dachte er, so wird das sein. Ein Suugling, sofern reinlich gehalten, riecht eben nicht, genausowenig wie er spricht, luuft oder schreibt. Diese Dinge kommen erst mit dem Alter. Strenggenommen strumt der Mensch sogar erst Duft aus, wenn er pubertiert. So ist das und nicht anders. Schreibt nicht schon Horaz "Es buckelt der Jungling, es duftet erbluhend die Jungfrau wie eine weiße Narzisse..."?- und die Rumer verstanden etwas davon! Der Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft - also ein sundiger Duft. Wie sollte also ein Suugling, der doch noch nicht einmal im Traume die fleischliche Sunde kennt, riechen? Wie sollte er riechen? Duziduzi? Gar nicht! Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und hutschte ihn sachte. Das Kind schlief noch immer fest. Seine rechte Faust schaute unter der Decke hervor, klein und rot, und zuckte manchmal ruhrend gegen die Wange. Terrier luchelte und kam sich plutzlich sehr gemutlich vor. Fur einen Moment gestattete er sich den phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des Kindes. Er wure kein Munch geworden, sondern ein normaler Burger, ein rechtschaffener Handwerker vielleicht, hutte ein Weib genommen, ein warmes wollig und milchig duftendes Weib, und hutte mit ihr einen Sohn gezeugt und hutschte ihn nun hier auf seinen eigenen Knien, sein eigenes Kind, duziduziduzi... Es war ihm wohl bei diesem Gedanken. Der Gedanke hatte etwas so Ordentliches. Ein Vater hutscht seinen Sohn auf den Knien, duziduzi, es war ein Bild so alt wie die Welt und immer ein neues und richtiges Bild, solange die Welt bestand, ach ja! Es wurde Terrier ein bisschen warm ums Herz und sentimental im Gemut. Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase bewegte sich, sie zog sich nach oben und schnupperte. Sie sog die Luft ein und schnaubte sie in kurzen Stußen aus, wie bei einem unvollkommenen Niesen. Dann rumpfte sich die Nase, und das Kind tat die Augen auf. Die Augen waren von unbestimmter Farbe, zwischen austerngrau und opalweiß-cremig, von einer Art schleimigem Schleier uberzogen und offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck, dass sie ihn gar nicht gewahrten. Anders die Nase. Wuhrend die matten Augen des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu fixieren, und Terrier hatte das sehr sonderbare Gefuhl, als sei dieses Ziel er, seine Person, Terrier selbst. Die winzigen Nasenflugel um die zwei winzigen Lucher mitten im Gesicht des Kindes bluhten sich wie eine aufgehende Blute. Oder eher wie die Nupfe jener kleinen fleischfressenden Pflanzen, die man im botanischen Garten des Kunigs hielt. Und wie von diesen schien ein unheimlicher Sog von ihnen auszugehen. Es war Terrier, als sehe ihn das Kind mit seinen Nustern, als sehe es ihn scharf und prufend an, durchdringender, als man es mit Augen kunnte, als verschlunge es etwas mit seiner Nase, das von ihm, Terrier, ausging, und das er nicht zuruckhalten und nicht verbergen konnte... Das geruchlose Kind roch ihn schamlos ab, so war es! Es witterte ihn aus! Und er kam sich mit einem Mal stinkend vor, nach Schweiß und Essig, nach Sauerkraut und ungewaschenen Kleidern. Er kam sich nackt und hußlich vor, wie begafft von jemandem, der seinerseits nichts von sich preisgab. Selbst durch seine Haut schien es hindurchzuriechen, in sein Innerstes hinein. Die zartesten Gefuhle, die schmutzigsten Gedanken lagen bloß vor dieser gierigen kleinen Nase, die noch gar keine rechte Nase war, sondern nur ein Stups, ein sich stundig kruuselndes und bluhendes und bebendes winziges luchriges Organ. Terrier schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas ubelriechendem, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Vorbei der anheimelnde Gedanke, es handle sich ums eigne Fleisch und Blut. Zerstoben das sentimentale Idyll von Vater und Sohn und duftender Mutter. Wie weggerissen der gemutlich umhullende Gedankenschleier, den er sich um das Kind und sich selbst zurecht phantasiert hatte: Ein fremdes, kaltes Wesen lag auf seinen Knien, ein feindseliges Animal, und wenn er nicht ein so besonnener und von Gottesfurcht und rationaler Einsicht geleiteter Charakter gewesen wure, so hutte er es in einem Anflug von Ekel wie eine Spinne von sich geschleudert. Mit einem Ruck stand Terrier auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er wollte das Ding loshaben, muglichst schnell, muglichst gleich, muglichst sofort. Und da begann es zu schreien. Es kniff die Augen zusammen, riss seinen roten Schlund auf und kreischte so widerwurtig schrill, dass Terrier das Blut in den Adern erstarrte. Er schuttelte den Korb mit ausgestreckter Hand und schrie "Duziduzi", um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es brullte nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor Brullen zerplatzen. Weg damit! dachte Terrier, augenblicklich weg mit diesem... >Teufel< wollte er sagen und riss sich zusammen und verkniff es sich,... weg mit diesem Unhold, mit diesem unertruglichen Kind! Aber wohin? Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenhuuser im Quartier, aber das war ihm zu nah, zu dicht auf der Haut war ihm das, weiter weg musste das Ding, so weit, dass man's nicht hurte, so weit, dass man's ihm nicht jede Stunde wieder vor die Ture stellen konnte, nach Muglichkeit musste es in einen anderen Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am allerbesten extra muros, in den Faubourg Saint-Antoine, das war's!, dahin kam der schreiende Balg, weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloss. Und er raffte seine Soutane und ergriff den brullenden Korb und rannte davon, rannte durch das Gassengewirr zur Rue du Faubourg Saint-Antoine, die Seine hinauf nach Osten, zur Stadt hinaus, weit, weit hinaus bis zur Rue de Charonne und diese fast bis zum Ende, wo er, in der Nuhe des Klosters der Madeleine de Trenelle, die Adresse einer gewissen Madame Gaillard kannte, welche Kostkinder jeglichen Alters und jeglicher Art aufnahm, solange nur jemand dafur zahlte, und dort gab er das immer noch schreiende Kind ab, zahlte fur ein Jahr im voraus und floh zuruck in die Stadt, warf, im Kloster angekommen, seine Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf bis Fuß und kroch in seiner Kammer ins Bett, wo er viele Kreuze schlug, lange betete und endlich erleichtert entschlief. 4 Madame Gaillard, obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte das Leben schon hinter sich. uußerlich sah sie so alt aus, wie es ihrem wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und dreimal und hundertmal so alt, numlich wie die Mumie eines Mudchens; innerlich aber war sie lungst tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken uber die Stirn bekommen, knapp oberhalb der Nasenwurzel, und seither den Geruchssinn verloren und jedes Gefuhl fur menschliche Wurme und menschliche Kulte und uberhaupt jede Leidenschaft. Zurtlichkeit war ihr mit diesem einen Schlag ebenso fremd geworden wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung. Sie empfand nichts, als sie sputer ein Mann beschlief, und ebenso nichts, als sie ihre Kinder gebar. Sie trauerte nicht uber die, die ihr starben, und freute sich nicht an denen, die ihr blieben. Als ihr Mann sie prugelte, zuckte sie nicht, und sie verspurte keine Erleichterung, als er im Hotel-Dieu an der Cholera starb. Die zwei einzigen Sensationen, die sie kannte, waren eine ganz leichte Gemutsverdusterung, wenn die monatliche Migrune nahte, und eine ganz leichte Gemutsaufhellung, wenn die Migrune wieder wich. Sonst spurte diese abgestorbene Frau nichts. Auf der anderen Seite... oder vielleicht gerade wegen ihrer vollkommenen Emotionslosigkeit, besaß Madame Gaillard einen gnadenlosen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr anvertrauten Kinder und benachteiligte keines. Sie verabreichte drei Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen dreimal am Tag und nur bis zum zweiten Geburtstag. Wer danach noch in die Hose schiss, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige und eine Mahlzeit weniger. Exakt die Hulfte des Kostgelds verwandte sie fur die Zuglinge, exakt die Hulfte behielt sie fur sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht, ihren Gewinn zu erhuhen; aber sie legte in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol zu, auch nicht, wenn es auf Leben und Tod ging. Das Geschuft hutte sich sonst fur sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das Geld. Sie hatte sich das ganz genau ausgerechnet. Im Alter wollte sie sich eine Rente kaufen und daruberhinaus noch so viel besitzen, dass sie es sich leisten konnte, zu Hause zu sterben und nicht im Hotel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod selbst hatte sie kaltgelassen. Aber ihr graute vor diesem uffentlichen gemeinsamen Sterben mit Hunderten von fremden Menschen. Sie wollte sich einen privaten Tod leisten, und dazu brauchte sie die volle Marge vom Kostgeld: Zwar, es gab Winter, da starben ihr von den zwei Dutzend kleinen Pensionuren drei oder vier. Doch damit lag sie immer noch erheblich besser als die meisten anderen privaten Ziehmutter und ubertraf die großen staatlichen oder kirchlichen Findelhuuser, deren Verlustquote oft neun Zehntel betrug, bei weitem. Es gab ja auch viel Ersatz. Paris produzierte im Jahr uber zehntausend neue Findelkinder, Bastarde und Waisen. So ließ sich mancher Ausfall verschmerzen. Fur den kleinen Grenouille war das Etablissement der Madame Gaillard ein Segen. Wahrscheinlich hutte er nirgendwo anders uberleben kunnen. Hier aber, bei dieser seelenarmen Frau gedieh er. Er besaß eine zuhe Konstitution. Wer wie er die eigene Geburt im Abfall uberlebt hatte, ließ sich nicht mehr so leicht aus der Welt bugsieren. Er konnte tagelang wussrige Suppen essen, er kam mit der dunnsten Milch aus, vertrug das faulste Gemuse und verdorbenes Fleisch. Im Verlauf seiner Kindheit uberlebte er die Masern, die Ruhr, die Windpocken, die Cholera, einen Sechsmetersturz in einen Brunnen und die Verbruhung der Brust mit kochendem Wasser. Zwar trug er Narben davon und Schrunde und Grind und einen leicht verkruppelten Fuß, der ihn hatschen machte, aber er lebte. Er war zuh wie ein resistentes Bakterium und genugsam wie ein Zeck, der still auf einem Baum sitzt und von einem winzigen Blutstrupfchen lebt, das er vor Jahren erbeutet hat. Ein minimales Quantum an Nahrung und Kleidung brauchte er fur seinen Kurper. Fur seine Seele brauchte er nic