uft war
so ausnehmend zart und fein, dass er ihn nicht festhalten konnte, immer
wieder entzog er sich der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom Pulverdampf der
Petarden, blockiert von den Ausdunstungen der Menschenmassen, zerstuckelt
und zerrieben von den tausend andren Geruchen der Stadt. Aber dann,
plutzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang
als herrliche Andeutung zu riechen... und verschwand alsbald. Grenouille
litt Qualen. Zum ersten Mal war es nicht nur sein gieriger Charakter, dem
eine Krunkung widerfuhr, sondern tatsuchlich sein Herz, das litt. Ihm
schwante sonderbar, dieser Duft sei der Schlussel zur Ordnung aller anderen
Dufte, man habe nichts von den Duften verstanden, wenn man diesen einen
nicht verstand, und er Grenouille, hutte sein Leben verpfuscht, wenn es ihm
nicht gelunge, diesen einen zu besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des
schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen.
Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal
herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft uberhaupt kam. Manchmal
dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde,
minutenlang, und jedesmal uberfiel ihn die grußliche Angst, er hutte
ihn auf immer verloren. Endlich rettete er sich in den verzweifelten
Glauben, der Duft komme vom anderen Ufer des Flusses, irgendwoher aus
sudustlicher Richtung.
Er luste sich von der Mauer des Pavillon de Flore, tauchte in die
Menschenmenge ein und bahnte sich seinen Weg uber die Brucke. Alle paar
Schritte blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um uber die
Kupfe der Menschen hinwegzuschnuppern, roch zunuchst nichts vor lauter
Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, sturker
sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen Fuhrte, tauchte unter, wuhlte
sich weiter durch die Menge der Gaffer und der Feuerwerker, die alle
Augenblicke ihre Fackeln an die Lunten der Raketen hielten, verlor im
beißenden Qualm des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß
und rempelte weiter und wuhlte sich fort, erreichte nach endlosen Minuten
das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einmundung der
Rue de Seine...
Hier blieb er stehen, sammelte sich und roch. Er hatte ihn. Er hielt
ihn fest. Wie ein Band kam der Geruch die Rue de Seine herabgezogen,
unverwechselbar deutlich, dennoch weiterhin sehr zart und sehr fein.
Grenouille spurte, wie sein Herz pochte, und er wusste, dass es nicht die
Anstrengung des Laufens war, die es pochen machte, sondern seine erregte
Hilflosigkeit vor der Gegenwart dieses Geruches. Er versuchte, sich an
irgend etwas Vergleichbares zu erinnern und musste alle Vergleiche
verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische; aber nicht die Frische der Limetten
oder Pomeranzen, nicht die Frische von Myrrhe oder Zimtblatt oder
Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht von Mairegen
oder Frostwind oder von Quellwasser..., und er hatte zugleich Wurme; aber
nicht wie Bergamotte, Zypresse oder Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse,
nicht wie Rosenholz und nicht wie Iris... Dieser Geruch war eine Mischung
aus beidem, aus Fluchtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit,
und dazu gering und schwach und dennoch solid und tragend, wie ein Stuck
dunner schillernder Seide... und auch wieder nicht wie Seide, sondern wie
honigsuße Milch, in der sich Biskuit lust - was j a nun beim besten
Willen nicht zusammenging: Milch und Seide! Unbegreiflich dieser Duft,
unbeschreiblich, in keiner Weise einzuordnen, es durfte ihn eigentlich gar
nicht geben. Und doch war er da in herrlichster Selbstverstundlichkeit.
Grenouille folgte ihm, mit bunglich pochendem Herzen, denn er ahnte, dass
nicht er dem Duft folgte, sondern dass der Duft ihn gefangengenommen hatte
und nun unwiderstehlich zu sich zog.
Er ging die Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die
Huuser standen leer und still. Die Leute waren unten am Fluss beim
Feuerwerk. Kein hektischer Menschengeruch sturte, kein beißender
Pulvergestank. Die Straße duftete nach den ublichen Duften von Wasser,
Kot, Ratten und Gemuseabfall. Daruber aber schwebte zart und deutlich das
Band, das Grenouille leitete. Nach wenigen Schritten war das wenige
Nachtlicht des Himmels von den hohen Huusern verschluckt, und Grenouille
ging weiter im Dunkeln. Er brauchte nichts zu sehen. Der Geruch fuhrte ihn
sicher.
Nach funfzig Metern bog er rechts ab in die Rue des Marais, eine
womuglich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite Gasse. Sonderbarerweise
wurde der Duft nicht sehr viel sturker. Er wurde nur reiner, und dadurch,
durch seine immer grußer werdende Reinheit, bekam er eine immer
muchtigere Anziehungskraft. Grenouille ging ohne eigenen Willen. An einer
Stelle zog ihn der Geruch hart nach rechts, scheinbar mitten in die Mauer
eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang tat sich auf, der in den Hinterhof
fuhrte. Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen Gang, durchschritt
den Hinterhof, bog um eine Ecke, gelangte in einen zweiten, kleineren
Hinterhof, und hier nun endlich war Licht: Der Platz umfasste nur wenige
Schritte im Geviert. An der Mauer sprang ein schruges Holzdach vor. Auf
einem Tisch darunter klebte eine Kerze. Ein Mudchen saß an diesem
Tisch und putzte Mirabellen. Sie nahm die Fruchte aus einem Korb zu ihrer
Linken, entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in
einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille
blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war, den er uber
eine halbe Meile hinweg bis ans andere Ufer des Flusses gerochen hatte:
nicht dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war
das Mudchen.
Fur einen Moment war er so verwirrt, dass er tatsuchlich dachte, er
habe in seinem Leben noch nie etwas so Schunes gesehen wie dieses Mudchen.
Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte
naturlich, er habe noch nie so etwas Schunes gerochen. Aber da er doch
Menschengeruche kannte, viele Tausende, Geruche von Munnern, Frauen,
Kindern, wollte er nicht begreifen, dass ein so exquisiter Duft einem
Menschen entstrumen konnte. ublicherweise rochen Menschen nichtssagend oder
miserabel. Kinder rochen fad, Munner urinus, nach scharfem Schweiß und
Kuse, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus
uninteressant, abstoßend rochen die Menschen... Und so geschah es,
dass Grenouille zum ersten Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und
die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die
Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tatsuchlich nur ein
Augenblick, den er benutigte, um sich optisch zu vergewissern und sich
alsdann desto ruckhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinns
hinzugeben. Nun roch er, dass sie ein Mensch war, roch den Schweiß
ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und
roch mit grußtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie
Meerwind, der Talg ihrer Haare so suß wie Nussul, ihr Geschlecht wie
ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblute..., und die
Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert,
so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles,
was er selbst in seinem Innern an Geruchsgebuuden spielerisch erschaffen
hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend Dufte
schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das huhere
Prinzip, nach dessen Vorbild sich die undern ordnen mussten. Er war die
reine Schunheit.
Fur Grenouille stand fest, dass ohne den Besitz des Duftes sein Leben
keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte
zarteste Verustelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe
Erinnerung an ihn genugte nicht. Er wollte wie mit einem Prugestempel das
apotheotische Parfum ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es
haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser
Zauberformel denken, leben, riechen.
Er ging langsam auf das Mudchen zu, immer nuher, trat unter das Vordach
und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie hurte ihn nicht.
Sie hatte rote Haare und trug ein graues Kleid ohne urmel. Ihre Arme
waren sehr weiß und ihre Hunde gelb vom Saft der aufgeschnittenen
Mirabellen. Grenouille stand uber sie gebeugt und sog ihren Duft jetzt
vullig unvermischt ein, so wie er aufstieg von ihrem Nacken, ihren Haaren,
aus dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in sich hineinstrumen
wie einen sanften Wind. Ihm war noch nie so wohl gewesen. Dem Mudchen aber
wurde es kuhl.
Sie sah Grenouille nicht. Aber sie bekam ein banges Gefuhl, ein
sonderbares Frusteln, wie man es bekommt, wenn einen plutzlich eine alte
abgelegte Angst befullt. Ihr war, als herrsche da ein kalter Zug in ihrem
Rucken, als habe jemand eine Ture aufgestoßen, die in einen
riesengroßen kalten Keller fuhrt. Und sie legte ihr Kuchenmesser weg,
zog die Arme an die Brust und wandte sich um.
Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte,
ihr seine Hunde um den Hals zu legen. Sie versuchte keinen Schrei, ruhrte
sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an.
Ihr feines sommersprossenubersprenkeltes Gesicht, den roten Mund, die
großen funkelnd grunen Augen sah er nicht, denn er hielt seine Augen
fest geschlossen, wuhrend er sie wurgte, und hatte nur die eine Sorge, von
ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren.
Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die
Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie
uberschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er sturzte sein Gesicht auf ihre
Haut und fuhr mit weitgebluhten Nustern von ihrem Bauch zurBrust, zum Hals,
in ihr Gesicht und durch die Haare und zuruck zum Bauch, hinab an ihr
Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom
Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im
Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge.
Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr
hocken, um sich zu versammeln, denn er war ubervoll von ihr. Er wollte
nichts von ihrem Duft verschutten. Erst musste er die innern Schotten dicht
verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese
Zeit kamen die ersten Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue de Seine
herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits
Augustins hinuber, die parallel zur Rue de Seine zum Fluss fuhrte. Wenig
sputer entdeckte man die Tote. Geschrei erhob sich. Fackeln wurden
angezundet. Die Wache kam. Grenouille war lungst am anderen Ufer.
In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine
Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gluck sei, hatte er in seinem Leben
bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zustunde von
dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Gluck und konnte vor
lauter Gluckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als wurde er zum zweiten Mal
geboren, nein, nic ht zum zweiten, zum ersten Mal, denn bisher hatte er
bloß animalisch existiert in huchst nebuluser Kenntnis seiner selbst.
Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich
sei: numlich nichts anderes als ein Genie; und dass sein Leben Sinn und
Zweck und Ziel und huhere Bestimmung habe: numlich keine geringere, als die
Welt der Dufte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle
Mittel besitze: numlich seine exquisite Nase, sein phunomenales Geduchtnis
und, als Wichtigstes von allem, den prugenden Duft dieses Mudchens aus der
Rue des Marais, in welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen
großen Duft, was ein Parfum ausmachte: Zartheit, Kraft, Dauer,
Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Schunheit. Er hatte den Kompass
fur sein kunftiges Leben gefunden. Und wie alle genialen Scheusale, denen
durch ein uußeres Ereignis ein gerades Geleis ins Spiralenchaos ihrer
Seelen gelegt wird, wich Grenouille von dem, was er als Richtung seines
Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht mehr ab. Jetzt wurde ihm klar,
weshalb er so zuh und verbissen am Leben hing: Er musste ein Schupfer von
Duften sein. Und nicht nur irgendeiner. Sondern der grußte Parfumeur
aller Zeiten.
Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum,
das riesige Trummerfeld seiner Erinnerung. Er prufte die Millionen und
Abermillionen von Duftbauklutzen und brachte sie in eine systematische
Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes
zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches zu Ambrosischem. Im Verlauf der
nuchsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der Dufte immer
reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald
schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgebuude aufzurichten:
Huuser, Mauern, Stufen, Turme, Keller, Zimmer, geheime Gemucher... eine
tuglich sich erweiternde, tuglich sich verschunende und perfekter gefugte
innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen. Dass am Anfang dieser
Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn uberhaupt bewusst,
vollkommen gleichgultig. An das Bild des Mudchens aus der Rue des Marais, an
ihr Gesicht, an ihren Kurper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er
hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip
ihres Dufts.
9
Zu jener Zeit gab es in Paris ein gutes Dutzend Parfumeure. Sechs von
ihnen lebten am rechten Ufer, sechs am linken Ufer, und einer akkurat
dazwischen, numlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer mit der
Ile de la Citu verband. Diese Brucke war zu beiden Seiten so dicht mit
vierstuckigen Huusern bebaut, dass man beim uberschreiten den Fluss an
keiner Stelle zu Gesicht bekam, sondern sich auf einer ganz normalen, fest
fundierten und obendrein noch uußerst eleganten Straße wuhnte.
In der Tat galt der Pont au Change fur eine der feinsten Geschuftsadressen
der Stadt. Hier befanden sich die renommiertesten Luden, hier saßen
die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Peruckenmacher und Taschner, die
Verfertiger feinster Dessous und Strumpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelhundler,
Epaulettensticker, Goldknupfegießer und Bankiers. Und hier lag auch
das Geschufts- und Wohnhaus des Parfumeurs und Handschuhmachers Giuseppe
Baldini. uber sein Schaufenster spannte sich ein pruchtiger grunlackierter
Baldachin, daneben hing Baldinis Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon,
aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der Ture lag ein
roter Teppich, der ebenfalls Baldinis Wappen trug, als goldene Stickerei.
uffnete man die Ture, dann erklang ein persisches Glockenspiel, und zwei
silberne Reiher begannen, aus ihren Schnubeln Veilchenwasser in eine
vergoldete Schale zu speien, die ihrerseits die Flakonform von Baldinis
Wappen besaß.
Hinter dem Kontor aus hellem Buchsbaum aber stand Baldini selbst, alt
und starr wie eine Suule, in silberbepuderter Perucke und blauem
goldbetresstem Rock. Eine Wolke von Frangipaniwasser, mit dem er sich
allmorgendlich bespruhte, umgab ihn geradezu sichtbar und ruckte seine
Person in nebelhafte Ferne. In seiner Unbeweglichkeit sah er aus wie sein
eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien
- beides geschah nicht allzu oft -, wurde plutzlich Leben in ihn kommen,
wurde seine Gestalt in sich zusammensinken, klein und wuselig werden und
unter vielen Bucklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen, so schnell,
dass die Frangipaniwasserwolke kaum zu folgen vermuchte, und den Kunden
bitten, Platz zu nehmen zur Vorfuhrung erlesenster Dufte und Kosmetika.
Baldini hatte deren Tausende. Sein Angebot reichte von Essences
absolues, Blutenulen, Tinkturen, Auszugen, Sekreten, Balsamen, Harzen und
sonstigen Drogen in trockener, flussiger oder wachsartiger Form, uber
diverse Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes, Sachets, Bandolinen,
Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen und Schunheitspflusterchen bis hin
zu Badewussern, Lotionen, Riechsalzen, Toilettenessigen und einer Unzahl
echter Parfums. Doch Baldini begnugte sich nicht mit diesen Produkten der
klassischen Schunheitspflege. Sein Ehrgeiz bestand darin, in seinem Laden
alles zu versammeln, was irgendwie duftete oder in irgendeiner Weise dem
Duft diente. Und so fanden sich neben Ruucherpastillen, Ruucherkerzen und
Ruucherbundern auch sumtliche Gewurze vom Anissamen bis zur Zimtrinde,
Sirups, Likure und Obstwusser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige,
Kaffees, Tees, getrocknete und kandierte Fruchte, Feigen, Bonbons,
Schokoladen, Maronen, ja sogar eingelegte Kapern, Gurken und Zwiebeln und
marinierter Thunfisch. Und dann wieder duftender Siegellack, parfumiertes
Briefpapier, nach Rosenul riechende Liebestinte, Schreibmappen aus
spanischem Leder, Federhalter aus weißem Sandelholz, Kustchen und
Truhen aus Zedernholz, Potpourris und Schalen fur Blutenblutter,
Weihrauchbehulter aus Messing, Flakons und Tiegelchen aus Kristall mit
geschliffenen Stupseln aus Bernstein, riechende Handschuhe, Taschentucher,
mit Muskatblute gefullte Nuhnadelkissen und moschusbedampfte Tapeten, die
ein Zimmer lunger als einhundert Jahre mit Duft erfullen konnten.
Naturlich hatten all diese Waren nicht im pompusen, zur Straße
(oder zur Brucke) hin gelegenen Laden Platz, und so mussten, in Ermanglung
eines Kellers, nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste
und zweite Stock sowie fast sumtliche zum Fluss hin gelegenen Ruume des
Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon war, dass im Hause Baldini
ein unbeschreibliches Chaos von Duften herrschte. So erlesen die Qualitut
der einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualitut -,
so unertruglich war ihr geruchlicher Zusammenklang, gleich einem
tausendkupfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie
fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren gegen dieses
Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja sumtlich schwerhurig sind,
und auch seine Frau, die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen
ein weiteres Vordringen der Lagerruume verteidigte, nahm die vielen Geruche
kaum noch als sturend wahr. Anders der Kunde, der zum ersten Mal Baldinis
Laden betrat. Ihm schlug das herrschende Duftgemisch wie eine Faust ins
Gesicht, machte ihn, je nach Konstitution, exaltiert oder benommen,
verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart, dass er oft nicht mehr wusste,
weshalb er uberhaupt gekommen war. Laufburschen vergaßen ihre
Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen
halb hysterischen, halb klaustrophobischen Anfall, sank in Ohnmacht und
konnte nur noch mit schurfstem Riechsalz aus Nelkenul, Ammoniak und
Kampfersprit wiederhergestellt werden.
Unter diesen Umstunden war es eigentlich nicht verwunderlich, dass das
persische Glockenspiel von Giuseppe Baldinis Ladenture immer seltener
erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien.
10
"Chenier!" rief Baldini hinter dem Kontor hervor, wo er seit Stunden
suulenstarr gestanden und die Ture angestarrt hatte, "ziehen Sie Ihre
Perucke an!" Und zwischen Olivenulfussern und hungenden Schinken aus Bayonne
erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas junger als dieser, aber auch schon
ein alter Mann, und kam nach vorn in die feinere Abteilung des Ladens. Er
zog seine Perucke aus der Rocktasche und stulpte sie sich uber. "Sie gehen
aus, Herr Baldini?"
"Nein", sagte Baldini, "ich werde mich fur einige Stunden in mein
Arbeitszimmer zuruckziehen und wunsche, absolut nicht gesturt zu werden."
"Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum."
baldini So ist es. Zur Beduftung einer spanischen Haut fur den Grafen
Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt etwas wie... wie
... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und
stammt angeblich von diesem... diesem Stumper aus der Rue Saint-Andre des
Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier.
baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der Stumper.
>Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es?
chenier Jaja. Dochdoch. Man riecht es jetzt uberall. An jeder
Straßenecke riecht man es. Aber wenn Sie mich fragen - nichts
Besonderes! Es kann sich bestimmt in keiner Weise messen mit dem, welches
Sie komponieren werden, Herr Baldini.
baldini Naturlich nicht.
chenier Es riecht uußerst gewuhnlich, dieses >Amor und
Psyche<.
baldini Vulgur?
chenier Durchaus vulgur, wie alles von Pelissier. Ich glaube, es ist
Limettenul darin.
baldini Wirklich? Was noch?
chenier Orangenblutenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur.
Aber ich kann es nicht sicher sagen.
baldini Es ist mir auch vullig gleichgultig.
chenier Naturlich.
baldini Es ist mir schnurzegal, was der Stumper Pelissier in sein
Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen!
chenier Da haben Sie Recht, Monsieur.
baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen,
erarbeite ich meine Parfums.
chenier Ich weiß, Monsieur.
baldini Gebure sie allein aus mir!
chenier Ich weiß.
baldini Und ich gedenke, fur den Grafen Verhamont etwas zu kreieren,
was wirklich Furore macht.
chenier Davon bin ich uberzeugt, Herr Baldini.
baldini Sie ubernehmen den Laden. Ich brauche Ruhe. Halten Sie mir
alles vom Leibe, Chenier...
Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es
seinem Alter zukam, gebeugt, ja fast wie geprugelt, davon und stieg langsam
die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm
den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der
Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur Ture. Er wusste,
was in den nuchsten Stunden passieren wurde: numlich gar nichts im Laden,
und oben im Arbeitszimmer Baldinis die ubliche Katastrophe. Baldini wurde
seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtrunkten Rock ausziehen, sich an den
Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung wurde
nicht kommen. Er wurde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von
Probefluschchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese
Mischung wurde missraten. Er wurde fluchen, das Fenster aufreißen und
sie in den Fluss hinunterwerfen. Er wurde etwas anderes probieren, auch das
wurde missraten, er wurde nun schreien und toben und in dem schon betuubend
riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er wurde gegen sieben Uhr
abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen:
"Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht geburen,
ich kann die spanische Haut fur den Grafen nicht liefern, ich bin verloren,
ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen Sie mir zu
sterben!" Und Chenier wurde vorschlagen, dass man zu Pelissier schickte um
eine Flasche >Amor und Psyche<, und Baldini wurde zustimmen unter der
Bedingung, dass kein Mensch von dieser Schande erfuhre, Chenier wurde
schwuren, und nachts wurden sie heimlich das Leder fur den Grafen Verhamont
mit dem fremden Parfum beduften. So wurde es sein und nicht anders, und
Chenier wunschte nur, er hutte das ganze Theater schon hinter sich. Baldini
war kein großer Parfumeur mehr. Ja, fruher, in seiner Jugend, vor
dreißig, vierzig Jahren, da hatte er >Rose des Sudens< erfunden
und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große Dufte, denen
er sein Vermugen verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte
die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn
er uberhaupt noch einmal einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es
vollkommen demodiertes, unverkuufliches Zeug, das sie ein Jahr sputer
zehnfach verdunnten und als Springbrunnenwasserzusatz verhukerten. Schade um
ihn, dachte Chenier und uberprufte den Sitz seiner Perucke im Spiegel,
schade um den alten Baldini; schade um sein schunes Geschuft, denn er wird's
herunterbringen; und schade um mich, denn bis er's heruntergebracht haben
wird, bin ich zu alt, um es zu ubernehmen...
11
Zwar hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur
aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers sturte ihn schon lungst
nicht mehr beim Riechen, er trug ihn ja schon seit Jahrzehnten mit sich
herum und nahm ihn uberhaupt nicht mehr wahr. Er hatte auch die Ture des
Arbeitszimmers zugeschlossen und sich Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich
nicht an den Schreibtisch, um zu grubeln und auf eine Eingebung zu warten,
denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben wurde;
er hatte numlich noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und verbraucht, das
stimmte, und auch kein großer Parfumeur mehr; aber er wusste, dass er
im Leben noch nie einer gewesen war. >Rose des Sudens< hatte er von
seinem Vater geerbt und das Rezept fur >Baldinis galantes Bouquet<
einem durchreisenden Genueser Gewurzhundler abgekauft. Die ubrigen seiner
Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war
kein Erfinder. Er war ein sorgfultiger Verfertiger von bewuhrten Geruchen,
wie ein Koch war er, der mit Routine und guten Rezepten eine große
Kuche macht und doch noch nie ein eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen
Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei
fuhrte er nur auf, weil das zum stundischen Berufsbild eines Maitre
Parfumeur et Gantier gehurte. Ein Parfumeur, das war ein halber Alchimist,
der Wunder schuf, so wollten es die Leute - gut so! Dass seine Kunst ein
Handwerk war wie jedes andere auch, das wusste nur er selbst, und das war
sein Stolz. Er wollte gar kein Erfinder sein. Erfindung war ihm sehr
suspekt, denn sie bedeutete immer den Bruch einer Regel. Er dachte auch gar
nicht daran, fur den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er wurde
sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier uberreden lassen, >Amor
und Psyche< von Pelissier zu besorgen. Er hatte es schon. Da stand es,
auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, in einem kleinen Glasflakon mit
geschliffenem Stupsel. Schon vor ein paar Tagen hatte er es gekauft.
Naturlich nicht persunlich. Er konnte doch nicht persunlich zu Pelissier
gehen und ein Parfum kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann, und dieser
wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war geboten. Denn Baldini wollte
das Parfum nicht einfach zum Beduften der spanischen Haut verwenden, dazu
hutte die geringe Menge auch gar nicht ausgereicht. Er hatte etwas
Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren.
Das war ubrigens nicht verboten. Es war nur außerordentlich
unfein. Das Parfum eines Konkurrenten heimlich nachzumachen und unter
eigenem Namen zu verkaufen, war schrecklich unfein. Aber noch unfeiner war
es, sich dabei ertappen zu lassen, und darum durfte Chenier nichts davon
wissen, denn Chenier war geschwutzig.
Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah,
so krumme Wege zu gehen! Wie schlimm, dass man das Kostbarste, was man
besaß, die eigene Ehre, auf so schubige Weise befleckte! Aber was
sollte er tun? Immerhin war der Graf Verhamont ein Kunde, den er keinesfalls
verlieren durfte. Er hatte ja ohnehin kaum noch einen Kunden. Er musste der
Kundschaft ja schon wieder nachlaufen wie zu Beginn der zwanziger Jahre, als
er am Anfang seiner Karriere stand und mit dem Bauchladen durch die
Straßen zog. Weiß Gott kam er, Giuseppe Baldini, Inhaber der
grußten Duftstoffhandlung von Paris, in bester Geschuftslage,
finanziell nur noch uber die Runden, wenn er mit dem Kufferchen in der Hand
Hausbesuche machte. Und das gefiel ihm gar nicht, denn er war schon weit
uber sechzig und hasste es, in kalten Vorzimmern zu warten und alten
Marquisen Tausendblumenwasser und Vierruuberessig vorzufuhren oder ihnen
eine Migrunesalbe aufzuschwatzen. Außerdem herrschte in diesen
Vorzimmern eine ganz ekelhafte Konkurrenz. Da war dieser Emporkummling
Brouet aus der Rue Dauphine, der von sich behauptete, er habe das
grußte Pomadenprogramm Europas; oder Calteau aus der Rue Mauconseil,
der es zum Hoflieferanten der Comtesse von Artois gebracht hatte; oder
dieser vullig unberechenbare Antoine Pelissier aus der Rue
Saint-Andre-des-Arts, der in jeder Saison einen neuen Duft lancierte, nach
welchem die ganze Welt verruckt war. >So ein Parfum von Pelissier konnte
den ganzen Markt in Unordnung bringen. War in einem Jahr Ungarisches Wasser
in Mode, und hatte sich Baldini entsprechend mit Lavendel, Bergamotte und
Rosmarin eingedeckt, um den Bedarf zu befriedigen - so kam Pelissier mit
>Air de Musc< heraus, einem ultraschweren Moschusduft. Jeder Mensch
musste plutzlich tierisch riechen, und Baldini konnte sein Rosmarin zu
Haarwasser verarbeiten und den Lavendel in Riechsuckchen nuhen. Hatte er
dagegen fur das nuchste Jahr entsprechende Mengen an Moschus, Zibet und
Castoreum bestellt, so fiel es Pelissier ein, ein Parfum namens
>Waldblume< zu kreieren, was prompt ein Erfolg wurde. Und hatte
Baldini endlich in nuchtelangen Versuchen oder durch hohe Bestechungsgelder
herausgefunden, woraus >Waldblumen< bestand - da trumpfte Pelissier
schon wieder auf mit >Turkische Nuchte< oder >Lissabonner Duft<
oder >Bouquet de la Cour< oder weiß der Teufel womit sonst.
Dieser Mensch war auf jeden Fall in seiner zugellosen Kreativitut eine
Gefahr fur das ganze Gewerbe. Man wunschte sich die Rigiditut des alten
Zunftrechts zuruck. Man wunschte sich die drakonischsten Maßnahmen
gegen diesen Aus-Der-Reihe-Tunzer, gegen diesen Duftinflationur. Das Patent
gehurte ihm entzogen, ein saftiges Berufsverbot auferlegt..., und uberhaupt
sollte der Kerl erst einmal eine Lehre machen! Denn ein gelernter Parfumeur-
und Handschuhmachermeister war er nicht, dieser Pelissier. Sein Vater war
nichts als ein Essigsieder gewesen, und Essigsieder war auch Pelissier,
nichts anderes. Und bloß weil er als Essigsieder berechtigt war, mit
Spirituosen umzugehen, konnte er uberhaupt ins Gehege der echten Parfumeure
einbrechen und darin herumwuten wie ein Stinktier. - Wozu brauchte man in
jeder Saison einen neuen Duft? War das nutig? Das Publikum war fruher auch
sehr zufrieden gewesen mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die
man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringfugig underte. Jahrtausendelang
hatten die Menschen mit Weihrauch und Myrrhe, ein paar Balsamen, ulen und
getrockneten Wurzkruutern vorlieb genommen. Und auch als sie gelernt hatten,
mit Kolben und Alambic zu destillieren, vermittels Wasserdampf den Kruutern,
Blumen und Hulzern das duftende Prinzip in Form von utherischem ul zu
entreißen, es mit eichenen Pressen aus Samen und Kernen und
Fruchtschalen zu quetschen oder mit sorgsam gefilterten Fetten den
Blutenbluttern zu entlocken, war die Zahl der Dufte noch bescheiden gewesen.
Damals wure eine Figur wie Pelissier gar nicht muglich gewesen, denn damals
brauchte es schon zur Erzeugung einer simplen Pomade Fuhigkeiten, von denen
sich dieser Essigpanscher gar nichts truumen ließ. Man musste nicht
nur destillieren kunnen, man musste auch Salbenmacher sein und Apotheker,
Alchimist und Handwerker, Hundler, Humanist und Gurtner zugleich. Man musste
Hammelnierenfett von jungem Rindertalg unterscheiden kunnen und ein
Viktoriaveilchen von einem solchen aus Parma. Man musste die lateinische
Sprache beherrschen. Man musste wissen, wann der Heliotrop zu ernten ist und
wann das Pelargonium bluht und dass die Blute des Jasmins mit aufgehender
Sonne ihren Duft verliert. Von diesen Dingen hatte dieser Pelissier
selbstredend keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er Paris noch nie verlassen,
in seinem Leben bluhenden Jasmin noch nie gesehen. Geschweige denn, dass er
einen Schimmer von der gigantischen Schufterei besaß, deren es
bedurfte, um aus hunderttausend Jasminbluten einen kleinen Klumpen Concrete
oder ein paar Tropfen Essence Absolue herauszuwringen. Wahrscheinlich kannte
er nur diese, kannte Jasmin nur als konzentrierte dunkelbraune Flussigkeit,
die in einem kleinen Fluschchen neben vielen anderen Fluschchen, aus denen
er seine Modeparfums mixte, im Tresorschrank stand. Nein, eine Figur wie
dieser Schnusel Pelissier hutte in den guten alten handwerklichen Zeiten
kein Bein auf den Boden gebracht. Dazu fehlte ihm alles: Charakter, Bildung,
Genugsamkeit und der Sinn fur zunftische Subordination. Seine
parfumistischen Erfolge verdankte er einzig und allein einer Entdeckung, die
vor nunmehr zweihundert Jahren der geniale Mauritius Frangipani - ein
Italiener ubrigens! - gemacht hatte und die darin bestand, dass Duftstoffe
in Weingeist luslich sind. Indem Frangipani seine Riechpulverchen mit
Alkohol vermischte und damit ihren Duft auf eine fluchtige Flussigkeit
ubertrug, hatte er den Duft befreit von der Materie, hatte den Duft
vergeistigt, den Duft als reinen Duft erfunden, kurz: das Parfum erschaffen.
Was fur eine Tat! Welch epochale Leistung! Vergleichbar wirklich nur den
grußten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der
Schrift durch die Assyrer, der euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato
und der Verwandlung von Trauben in Wein durch die Griechen. Eine wahrhaft
prometheische Tat! Und doch, wie alle großen Geistestaten nicht nur
Licht, sondern auch Schatten werfen und der Menschheit neben Wohltaten auch
Verdruss und Elend bereiten, so hatte leider auch die herrliche Entdeckung
Frangipanis uble Folgen: Denn nun, da man gelernt hatte, den Geist der
Blumen und Kruuter, der Hulzer, Harze und der tierischen Sekrete in
Tinkturen festzubannen und auf Fluschchen abzufullen, entglitt die Kunst des
Parfumierens nach und nach den wenigen universalen handwerklichen Kunnern
und stand Quacksalbern offen, sofern sie nur eine leidlich feine Nase
besaßen, wie zum Beispiel diesem Stinktier Pelissier. Ohne sich darum
zu bekummern, wie der wunderbare Inhalt seiner Fluschchen je entstanden war,
konnte er einfach seinen olfaktorischen Launen folgen und zusammenmischen,
was ihm gerade einfiel oder was das Publikum gerade wunschte.
Bestimmt besaß dieser Bastard Pelissier mit seinen
funfunddreißig Jahren schon jetzt ein grußeres Vermugen als er,
Baldini, es sich in der dritten Generation durch harte beharrliche Arbeit
endlich angehuuft hatte. Und Pelissiers nahm tuglich zu, wuhrend seins,
Baldinis, sich tuglich verminderte. So etwas wure fruher doch gar nicht
muglich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingefuhrter Commergant
um seine schiere Existenz zu kumpfen hatte, das gab es doch erst seit
wenigen Jahrzehnten! Seitdem uberall und in allen Bereichen die hektische
Neuerungssucht ausgebrochen ist, dieser hemmungslose Tatendrang, diese
Experimentierwut, diese Großmannssucht im Handel, im Verkehr und in
den Wissenschaften!
Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man die vielen neuen
Straßen, die uberall gebuddelt wurden, und die neuen Brucken? Wozu?
War es von Vorteil, wenn man bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war
daran gelegen? Wem nutzte es? Oder uber den Atlantik zu fahren, in einem
Monat nach Amerika zu rasen - als wure man nicht jahrtausendelang sehr gut
ohne diesen Kontinent ausgekommen. Was hatte der zivilisierte Mensch im
Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen
sie, das lag im Norden, im ewigen Eise, wo Wilde lebten, die rohe Fische
fraßen. Und noch einen weiteren Kontinent wollten sie entdecken, der
angeblich in der Sudsee la