u>ber das ihr
rotes Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so schun
gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie. Und dann dauerte es vielleicht
nur zwei Herzschluge lunger, als er erwartet hatte, bevor sie wieder
auftauchte - und er war zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschluge
lang gedacht, er habe sie fur immer verloren.
In der gleichen Nacht wachte er aus einem entsetzlichen Traum auf, an
dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, der aber mit Laure zu tun
hatte, und er sturzte in ihr Zimmer, uberzeugt, sie sei tot, luge gemordet,
geschundet und geschoren im Bett - und fand sie unversehrt.
Er ging zuruck in sein Gemach, schweißnass und bebend vor
Aufregung, nein, nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, jetzt endlich
gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn gepackt hatte, und indem
er es sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich
war, so hatte er von Anfang an nicht an die Wirkung des bischuflichen
Bannfluchs geglaubt; auch nicht daran, dass der Murder jetzt in Grenoble
umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt uberhaupt verlassen hatte. Nein,
er lebte noch hier, mitten unter den Grassern, und irgendwann wurde er
wieder zuschlagen. Im August und September hatte Richis einige der
ermordeten Mudchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie
er zugeben musste, fasziniert, denn sie waren alle, und jede auf sehr
spezielle Weise, von ausgesuchter Schunheit gewesen. Niemals hutte er
gedacht, dass es in Grasse so viel unerkannte Schunheit gab. Der Murder
hatte ihm die Augen geuffnet. Der Murder besaß einen exquisiten
Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf
die gleiche ordentliche Weise ausgefuhrt waren, auch die Wahl der Opfer
verriet eine beinahe ukonomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis nicht,
was der Murder eigentlich von seinem Opfer begehrte, denn ihr Bestes: die
Schunheit und den Reiz ihrer Jugend konnte er ihnen ja nicht geraubt
haben... oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der Murder, so absurd das
klingen mochte, kein destruktiver Geist zu sein, sondern ein sorgfultig
sammelnder. Wenn man sich numlich - so dachte Richis all die Opfer nicht
mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines huheren Prinzips
vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen
als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen duchte, dann musste das aus
solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Schunheit
schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, wure nicht mehr von
menschlicher, sondern von guttlicher Art. (Wie wir sehen, war Richis ein
aufgeklurt denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen
nicht zuruckschreckte, und wenn er nicht in geruchlichen, sondern in
optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.)
Gesetzt nun den Fall - so dachte Richis weiter -, der Murder war solch
ein Sammler von Schunheit und arbeitete am Bildnis der Vollkommenheit, und
sei es auch nur in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt ferner, er
war ein Mann von huchstem Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der
Tat zu sein schien, dann konnte man nicht annehmen, dass er auf den
kostbarsten Baustein zu jenem Bildnis verzichtete, den es auf Erden zu
finden gab: auf die Schunheit von Laure. Sein ganzes bisheriges Mordwerk
wure nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Gebuudes.
Richis, wuhrend er diese entsetzliche Folgerung zog, saß im
Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich daruber, wie ruhig er geworden
war. Er frustelte und zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die ihn
seit Wochen geplagt hatte, war verschwunden und dem Bewusstsein einer
konkreten Gefahr gewichen: Des Murders Sinn und Trachten war ganz offenbar
auf Laure gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk fur
diesen letzten krunenden Mord. Zwar blieb unklar, welchen materiellen Zweck
die Morde haben sollten und ob sie einen solchen uberhaupt besaßen.
Aber das Wesentliche, numlich des Murders systematische Methode und sein
ideelles Motiv, hatte Richis durchschaut. Und je lunger er daruber
nachdachte, desto besser gefielen ihm beide und desto grußer wurde
seine Hochachtung vor dem Murder - eine Hochachtung freilich, die sogleich
wie aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zuruckstrahlte, denn immerhin
war er, Richis, es ja gewesen, der mit seinem feinen analytischen Verstand
dem Gegner auf die Schliche gekommen war.
Wenn er, Richis, selbst ein Murder wure und von des Murders selben
leidenschaftlichen Ideen besessen, hutte er auch nicht anders vorgehen
kunnen, als jener bisher vorgegangen war, und wurde wie dieser alles
daransetzen, sein Wahnsinnswerk durch einen Mord an Laure, der herrlichen,
der einzigartigen, zu krunen.
Dieser letzte Gedanke gefiel ihm ganz besonders gut. Dass er in der
Lage war, sich gedanklich in die Lage des kunftigen Murders seiner Tochter
zu versetzen, machte ihn dem Murder numlich haushoch uberlegen. Denn der
Murder, das stand fest, war bei all seiner Intelligenz gewiss nicht in der
Lage, sich in Richis' Lage zu versetzen - und sei's nur, weil er gewiss
nicht ahnen konnte, dass Richis sich lungst in seine, des Murders Lage
versetzt hatte. Im Grunde war das nicht anders als im Geschuftsleben auch -
mutatis mutandis, versteht sich. Einem Konkurrenten, dessen Absichten man
durchschaut hatte, war man uberlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr
aufs Kreuz legen; nicht, wenn man Antoine Richis hieß, mit allen
Wassern gewaschen war und eine Kumpfernatur besaß. Schließlich
waren ihm der grußte Duftstoffhandel Frankreichs, sein Reichtum und
das Amt des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen,
sondern er hatte sie sich erkumpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren
beizeiten erkannt, die Plune der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher
ausgestochen hatte. Und seine kunftigen Ziele, die Macht und Nobilitut
seiner Nachkommenschaft, wurde er ebenso erreichen. Und nicht anders wurde
er die Plune jenes Murders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz
an Laure - und wure es nur deshalb, weil Laure auch den Schlussstein im
Gebuude seiner, Richis', eigenen Plune bildete. Er liebte sie, gewiss; aber
er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner huchsten
Ambitionen, das ließ er sich von niemandem entwinden, das hielt er
fest mit Zuhnen und mit Klauen.
Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine nuchtlichen
uberlegungen betreffs Kampf mit dem Dumon auf die Ebene einer geschuftlichen
Auseinandersetzung herabzudrucken, spurte er, wie frischer Mut, ja ubermut
ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das
Gefuhl von Verzagtheit und grumlicher Sorge, das ihn wie einen senilen
Tattergreis gequult hatte, weggeblasen der Nebel von dusteren Ahnungen, in
dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und
fuhlte sich jeder Herausforderung gewachsen.
43
Erleichtert, vergnugt fast, sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband
und befahl seinem schlaftrunken hereintaumelnden Diener, Kleider und
Proviant zu packen, da er geduchte, bei Tagesanbruch in Begleitung seiner
Tochter nach Grenoble zu reisen. Dann zog er sich an und scheuchte das
ubrige Personal aus den Betten.
Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem
Leben. In der Kuche flammten die Feuer auf, durch die Gunge huschten die
aufgeregten Mugde, treppauf treppab eilte der Diener, in den Kellergewulben
klapperten die Schlussel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln,
Knechte liefen um Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den Stullen, es
wurde gezuumt, gesattelt, gerannt und geladen - man hutte glauben kunnen,
die austrosardischen Horden seien plundernd und sengend im Anmarsch wie anno
1746 und der Hausherr ruste in panischer Eile zur Flucht. Doch keineswegs!
Der Hausherr saß souverun wie ein Marschall von Frankreich am
Schreibtisch seines Kontors, trank Milchkaffee und erließ seine
Anweisungen an die stundig hereinsturzenden Domestiken. Nebenher schrieb er
Briefe an den Burgermeister und Ersten Konsul, an seinen Notar, an seinen
Anwalt, an seinen Bankier in Marseille, an den Baron de Bouyon und an
diverse Geschuftspartner.
Gegen sechs Uhr fruh hatte er die Korrespondenz erledigt und alle zu
seinen Plunen notwendigen Verfugungen getroffen. Er steckte zwei kleine
Reisepistolen zu sich, schnallte sich seinen Geldgurtel um und sperrte den
Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken.
Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran,
er war pruchtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer
Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter,
bescheidener gekleidet, aber so strahlend schun, dass das Volk auf der
Straße und an den Fenstern nur Augen fur sie hatte, dass anduchtige
Ahs und Ohs durch die Menge gingen und die Munner ihren Hut zogen -
scheinbar vor dem zweiten Konsul, in Wahrheit aber vor ihr, der kuniglichen
Frau. Dann kam, fast unbeachtet, die Zofe, dann Richis' Diener mit zwei
Packpferden - die Verwendung eines Wagens verbot sich wegen des beruchtigt
schlechten Zustands der Grenobler Route -, und den Abschluss des Zuges
bildeten ein Dutzend mit allen muglichen Waren beladene Maultiere unter
Aufsicht zweier Knechte. An der Porte du Cours prusentierten die Wachen das
Gewehr und ließen es erst wieder sinken, als das letzte Maultier
vorubergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine ganze Weile lang,
winkten dem Tross nach, der sich langsam auf dem steilen, gewundenen Weg
bergwurts entfernte.
Auf die Menschen machte der Auszug des Antoine Richis mit seiner
Tochter einen seltsam tiefen Eindruck. Ihnen war, als hutten sie einem
archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis
nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das mudchenmordende
Monster hauste. Die Leute wussten nicht, was sie davon halten sollten. War
es struflicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es
eine Herausforderung oder eine Besunftigung der Gutter? Sie ahnten nur sehr
undeutlich, dass sie das schune Mudchen mit den roten Haaren soeben zum
letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war.
Diese Ahnung sollte sich als richtig erweisen, obwohl sie auf vullig
falschen Voraussetzungen beruhte. Richis zog numlich keineswegs nach
Grenoble. Der pompuse Auszug war nichts als eine Finte gewesen. Anderthalb
Meilen nordwestlich von Grasse, in der Nuhe des Dorfes Saint-Vallier,
ließ er anhalten. Er hundigte seinem Diener Vollmachten und
Begleitschreiben aus und befahl ihm, den Maultiertreck allein mit den
Knechten nach Grenoble zu bringen.
Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe in Richtung Cabris, wo er
eine Mittagspause einlegte, und ritt dann quer durch das Gebirge des
Tanneron nach Suden. Der Weg war uußerst beschwerlich, aber er
gestattete es, Grasse und das Grasser Becken in einem weiten westlichen
Bogen zu umgehen und bis zum Abend unerkannt die Kuste zu erreichen... Am
folgenden Tag - so Richis' Plan - wollte er sich mit Laure nach den
Lerinischen Inseln ubersetzen lassen, auf deren kleinerer sich das
wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat befand. Es wurde von einem Huuflein
greiser, aber noch durchaus wehrfuhiger Munche bewirtschaftet, mit denen
Richis gut bekannt war, denn er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die
gesamte klusterliche Produktion an Eukalyptuslikur, Pinienkernen und
Zypressenul. Und eben dort, im Kloster Saint-Honorat, dem neben dem
Zuchthaus von Chateau d'If und dem Staatsgefungnis der Ile
Sainte-Mar-guerite wohl sichersten Ort der Provence, gedachte er seine
Tochter furs erste unterzubringen. Er selbst wurde unverzuglich wieder aufs
Festland zuruckkehren, Grasse diesmal via Antibes und Cagnes ustlich
umgehen, um noch am Abend desselben Tages in Vence einzutreffen. Dorthin
hatte er bereits seinen Notar bestellt zwecks einer zu treffenden
Vereinbarung mit dem Baron de Bouyon uber die Verehelichung ihrer Kinder
Laure und Alphonse. Er wollte Bouyon ein Angebot machen, das dieser nicht
wurde ablehnen kunnen: ubernahme von Schulden in Huhe von 40000 Livre,
Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher Huhe sowie diversen Lundereien
und einer ulmuhle bei Maganosc, eine juhrliche Rente von 3000 Livre fur das
junge Paar. Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von zehn
Tagen eingegangen und am Hochzeitstag vollzogen wurde, und dass das Paar
anschließend Wohnung in Vence nahm.
Richis wusste, dass er durch ein so eiliges Vorgehen den Preis fur die
Verbindung seines Hauses mit dem Haus derer von Bouyon ganz
unverhultnismußig in die Huhe trieb. Bei lungerem Zuwarten hutte er
sie billiger bekommen. Gebettelt hutte der Baron darum, die Tochter des
burgerlichen Großhundlers durch seinen Sohn standesmußig erhuhen
zu durfen, denn der Ruhm von Laures Schunheit wurde ja noch wachsen, ebenso
wie Richis' Reichtum und wie Bouyons finanzielle Misere. Aber sei's drum!
Nicht der Baron war bei diesem Handel der Gegner, sondern der unbekannte
Murder war es. Ihm galt es das Geschuft zu versalzen. Eine verheiratete
Frau, defloriert und womuglich schon geschwungert, passte nicht mehr in
seine exklusive Galerie. Der letzte Mosaikstein wure blind geworden, Laure
hutte fur den Murder jeden Wert verloren, sein Werk wure gescheitert. Und
diese Niederlage sollte er zu spuren bekommen! Richis wollte die Hochzeit in
Grasse abhalten, mit großem Pomp und in aller uffentlichkeit. Und wenn
er seinen Gegner auch nicht kannte und niemals kennen wurde, so sollte es
ihm doch ein Genuss sein, zu wissen, dass dieser dem Ereignis beiwohnte und
mit eignen Augen zusehen musste, wie ihm das Begehrteste vor der Nase
weggeschnappt wurde.
Der Plan war fein ausgedacht. Und wieder mussen wir Richis' Gespur
bewundern, mit dem er der Wahrheit nahekam. Denn in der Tat hutte die
Heimfuhrung der Laure Richis durch den Sohn des Baron de Bouyon fur den
Grasser Mudchenmurder eine vernichtende Niederlage bedeutet. Aber noch war
der Plan nicht verwirklicht. Noch hatte Richis seine Tochter nicht unter die
rettende Haube gebracht. Noch hatte er sie nicht in das sichere Kloster von
Saint-Honorat ubergesetzt. Noch schlugen sich die drei Reiter durch das
unwirtliche Gebirge des Tanneron. Manchmal waren die Wege so schlecht, dass
man von den Pferden absitzen musste. Es ging alles sehr langsam. Gegen Abend
hofften sie das Meer bei Napoule zu erreichen, einem kleinen Ort westlich
von Cannes.
44
Zu dem Zeitpunkt, da Laure Richis mit ihrem Vater Grasse verließ,
befand sich Grenouille am andern Ende der Stadt im Arnulfischen Atelier und
mazerierte Jonquillen. Er war allein, und er war guter Dinge. Seine Zeit in
Grasse neigte sich dem Ende zu. Der Tag des Triumphes stand bevor.
Draußen in der Kabane lagen in einem wattegepolsterten Kustchen
vierundzwanzig winzige Flakons mit der zu Tropfen geronnenen Aura von
vierundzwanzig Jungfrauen - kostbarste Essenzen, die Grenouille im
vergangenen Jahr durch kalte Fettenfleurage der Kurper, Digerieren von
Haaren und Kleidern, Lavage und Destillation gewonnen hatte. Und die
funfundzwanzigste, die kustlichste und wichtigste, wollte er sich heute
holen. Er hatte schon ein Tiegelchen mit mehrfach gereinigtem Fett, ein Tuch
von feinstem Leinen und einen Ballon hochrektifizierten Alkohols fur diesen
letzten Fischzug vorbereitet. Das Terrain war aufs genaueste sondiert. Es
herrschte Neumond.
Er wusste, dass ein Einbruchsversuch in das gut gesicherte Anwesen an
der Rue Droite sinnlos war. Deshalb wollte er sich schon bei Anbruch der
Dummerung, ehe noch die Tore geschlossen wurden, einschleichen und im Schutz
der eigenen Geruchlosigkeit, die ihn wie eine Tarnkappe der Wahrnehmung von
Mensch und Tier entzog, in irgendeinem Winkel des Hauses verbergen. Sputer
dann, wenn alles schlief, wurde er, vom Kompass seiner Nase durch die
Dunkelheit gefuhrt, zur Kammer seines Schatzes hinaufsteigen. Er wurde ihn
an Ort und Stelle im fettgetrunkten Tuch verarbeiten. Nur Haar und Kleider
wurde er wie gewuhnlich mitnehmen, da diese Teile direkt in Weingeist
ausgewaschen werden konnten, was sich bequemer in der Werkstatt machen
ließ. Fur die Endverarbeitung der Pomade und das Abdestillieren zu
Konzentrat veranschlagte er eine weitere Nacht. Und wenn alles gutging - und
er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass alles gutgehen wurde -, dann
war er ubermorgen im Besitz sumtlicher Essenzen fur das beste Parfum der
Welt, und er wurde Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden.
Gegen Mittag war er mit seinen Jonquillen fertig. Er luschte das Feuer,
deckte den Fettkessel zu und ging vor die Werkstatt, um sich abzukuhlen. Der
Wind kam von Westen.
Schon mit dem ersten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die
Atmosphure war nicht in Ordnung. Im Duftkleid der Stadt, diesem
vieltausendfudig gewebten Schleier, fehlte der goldene Faden. Wuhrend der
letzten Wochen war dieser duftende Faden so kruftig geworden, dass
Grenouille ihn sogar noch jenseits der Stadt bei seiner Kabane deutlich
wahrgenommen hatte. Jetzt war er weg, verschwunden, durch intensivstes
Schnuppern nicht mehr aufzuspuren. Grenouille war wie geluhmt vor Schreck.
Sie ist tot, dachte er. Dann, noch entsetzlicher: Es ist mir ein
anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine Blume abgerupft und ihren Duft
an sich gebracht! Einen Schrei brachte er nicht heraus, dazu war seine
Erschutterung zu groß, aber zu Trunen reichte es, die in seinen
Augenwinkeln schwollen und plutzlich beiderseits der Nase herabsturzten.
Da kam Druot aus den >Quatre Dauphins< zum Mittagessen nach Hause
und erzuhlte en passant, heute fruh sei der Zweite Konsul mit zwulf
Maultieren und einer Tochter nach Grenoble gezogen. Grenouille schluckte die
Trunen hinunter und rannte davon, quer durch die Stadt zur Porte du Cours.
Auf dem Platz vor dem Tor hielt er an und schnupperte. Und im reinen, von
den Stadtgeruchen unberuhrten Westwind fand er tatsuchlich seinen goldenen
Faden wieder, dunn und schwach zwar, aber dennoch unverkennbar. Allerdings
wehte der geliebte Duft nicht von Nordwesten her, wohin die Straße
nach Grenoble fuhrte, sondern eher aus Richtung Cabris - wo nicht gar aus
Sudwesten.
Grenouille fragte die Wache, welche Straße der Zweite Konsul
genommen habe. Der Posten wies nach Norden. Nicht die Straße nach
Cabris? Oder die andere, die sudlich nach Auribeau und La Napoule fuhrte? -
Bestimmt nicht, sagte der Posten, er habe es mit eigenen Augen gesehen.
Grenouille rannte zuruck durch die Stadt zu seiner Kabane, packte
Leintuch, Pomadentopf, Spatel, Schere und eine kleine glatte Keule aus
Olivenholz in seinen Reisesack und machte sich unverzuglich auf den Weg -
nicht auf den Weg nach Grenoble, sondern auf den Weg, den ihm seine Nase
wies: nach Suden.
Dieser Weg, der direkte Weg nach Napoule, fuhrte an den Ausluufern des
Tanneron entlang durch die Flusssenken von Frayere und Siagne. Er war bequem
zu gehen. Grenouille kam rasch voran. Als zu seiner Rechten Auribeau
auftauchte, oben an den Bergkuppen hungend, roch er, dass er die Fluchtenden
fast eingeholt hatte. Wenig sputer war er auf gleicher Huhe mit ihnen. Er
roch sie jetzt einzeln, er roch sogar den Dunst ihrer Pferde. Sie konnten
huchstens eine halbe Meile westlich sein, irgendwo in den Wuldern des
Tanneron. Sie hielten nach Suden, aufs Meer zu. Genau wie er.
Gegen funf Uhr nachmittag erreichte Grenouille La Napoule. Er ging in
das Gasthaus, aß und bat um ein billiges Lager. Er sei ein
Gerbergeselle aus Nizza, sagte er, auf dem Weg nach Marseille . Er kunne im
Stall nuchtigen, hieß es. Dort legte er sich in eine Ecke und ruhte
aus. Er roch, dass die drei Reiter sich nuherten. Er brauchte nur noch zu
warten.
Zwei Stunden sputer - es dummerte schon stark kamen sie an. Um ihr
Inkognito zu wahren, hatten sie die Kleider gewechselt. Die beiden Frauen
trugen nun dunkle Gewunder und Schleier, Richis einen schwarzen Rock. Er gab
sich als Edelmann aus, kommend von Castellane; morgen wolle er auf die
Lerinischen Inseln ubersetzen, der Wirt solle fur ein Boot sorgen, das bei
Sonnenaufgang bereitstunde. Ob außer ihm und seinen Leuten noch andere
Guste im Haus seien? Nein, sagte der Wirt, nur ein Gerbergeselle aus Nizza,
der nuchtige im Stall.
Richis schickte die Frauen auf die Zimmer. Er selbst ging in den Stall,
um noch etwas aus den Satteltaschen zu holen, wie er sagte. Zunuchst konnte
er den Gerbergesellen nicht finden, er musste sich vom Rossknecht eine
Laterne geben lassen. Dann sah er ihn, in einem Winkel auf Stroh und einer
alten Decke liegend, den Kopf gegen seinen Reisesack gelehnt, tief
schlafend. Er sah so vollkommen unscheinbar aus, dass Richis fur einen
Moment den Eindruck hatte, er sei gar nicht vorhanden, sondern nur eine von
den schwankenden Schatten der Laternenkerze hingeworfene Schimure.
Jedenfalls stand fur Richis augenblicklich fest, dass von diesem geradezu
ruhrend harmlosen Wesen nicht die geringste Gefahr zu befurchten war, und er
entfernte sich leise, um seinen Schlaf nicht zu sturen, und kehrte ins Haus
zuruck.
Das Abendessen nahm er gemeinsam mit seiner Tochter auf dem Zimmer ein.
Er hatte sie uber Zweck und Ziel der seltsamen Reise nicht aufgeklurt, und
er tat es auch jetzt nicht, obwohl sie ihn darum bat. Morgen werde er sie
einweihen, sagte er, und sie kunne sich darauf verlassen, dass alles, was er
plane und tue, zu ihrem Besten und zukunftigen Gluck ausschlagen werde.
Nach dem Essen spielten sie einige Partien L'hombre, die er alle
verlor, weil er statt in seine Karten immerfort in ihr Gesicht schaute, um
sich an ihrer Schunheit zu ergutzen. Gegen neun Uhr brachte er sie in ihr
Zimmer, das dem seinen gegenuberlag, kusste sie zur Nacht und versperrte die
Ture von außen. Dann ging er selbst zu Bett.
Er war mit einem Mal sehr mude von den Anstrengungen des Tages und der
vergangenen Nacht und zugleich sehr zufrieden mit sich und dem Gang der
Dinge. Ohne den geringsten Gedanken der Sorge, ohne dustere Ahnungen, wie
sie ihn noch bis gestern jedesmal nach dem Luschen der Lampe gequult und
wach gehalten hatten, schlief er sofort ein, und schlief ohne Traum, ohne
Gestuhn, ohne krampfhaftes Zucken oder nervuses Um- und Umwulzen des
Kurpers. Zum ersten Mal seit langer Zeit fand Richis einen tiefen, ruhigen,
erquickenden Schlaf.
Um die gleiche Zeit erhob sich Grenouille von seinem Lager im Stall.
Auch er war zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge und fuhlte sich
uußerst erfrischt, obwohl er keine Sekunde lang geschlafen hatte. Als
Richis in den Stall gekommen war, um ihn aufzusuchen, hatte er sich nur
schlafend gestellt, um den Eindruck von Harmlosigkeit, den er an und fur
sich schon wegen seines Unauffulligkeitsgeruchs ausstrahlte, noch
augenscheinlicher zu machen. Anders als Richis ihn, hatte ubrigens er Richis
uußerst pruzise wahrgenommen, olfaktorisch numlich, und Richis'
Erleichterung angesichts seiner war ihm keineswegs entgangen.
Und so hatten sich beide bei ihrer kurzen Begegnung gegenseitig von
ihrer Arglosigkeit uberzeugt, zu Unrecht und zu Recht, und das war gut so,
wie Grenouille fand, denn seine scheinbare und Richis' wirkliche
Arglosigkeit erleichterten ihm, Grenouille, das Geschuft - eine Anschauung
ubrigens, die Richis im umgekehrten Fall durchaus geteilt hutte.
45
Mit professioneller Beduchtigkeit ging Grenouille ans Werk. Er uffnete
den Reisesack, entnahm ihm Leintuch, Pomade und Spatel, breitete das Tuch
uber die Decke, auf der er gelegen hatte, und begann es mit der Fettpaste zu
bestreichen. Das war eine Arbeit, die ihre Zeit brauchte, denn es kam darauf
an, das Fett hier in dickerer, dort in dunnerer Schicht aufzutragen, je
nachdem, an welche Stelle des Kurpers die jeweilige Partie des Tuches zu
liegen kume. Mund und Achsel, Brust, Geschlecht und Fuße gaben
grußere Duftmengen ab als etwa Schienbeine, Rucken und Ellbogen;
Handfluchen grußere als Handrucken; Brauen grußere als Lider
etc. - und mussten dementsprechend kruftiger mit Fett versehen werden.
Grenouille modellierte also gleichsam ein Duftdiagramm des zu behandelnden
Kurpers auf das Leintuch, und dieser Teil der Arbeit war ihm eigentlich der
befriedigendste, denn es handelte sich um eine kunstlerische Technik, die
Sinne, Phantasie und Hunde gleichermaßen beschuftigte und obendrein
den Genuss des zu erwartenden Endergebnisses auf ideelle Weise vorwegnahm.
Als er das ganze Tupfchen Pomade aufgebraucht hatte, tupfte er noch da
und dort, nahm an einer Stelle des Tuches Fett ab, fugte an einer anderen
zu, retuschierte, uberprufte noch einmal die modellierte Fettlandschaft -
mit der Nase ubrigens, nicht mit den Augen, denn das ganze Geschuft spielte
sich in vollkommener Finsternis ab, was vielleicht ein weiterer Grund fur
Grenouilles ausgeglichen freudige Stimmung war. In dieser Neumondnacht
lenkte ihn nichts ab. Die Welt war nichts als nur Geruch und ein wenig
Brandungsgeruusch vom Meer her. Er war in seinem Element. Dann schlug er das
Tuch zusammen wie eine Tapete, so dass die befetteten Fluchen
aufeinanderlagen. Es war ihm dies eine schmerzliche Handlung, denn er wusste
wohl, dass sich selbst bei aller Vorsicht Teile der ausgeformten Konturen
dadurch abplatteten und verschoben. Aber es gab keine andere Muglichkeit,
das Tuch zu transportieren. Nachdem er es soweit gefaltet hatte, dass er es
ohne allzugroße Behinderung uber den Unterarm gelegt tragen konnte,
steckte er Spatel, Schere und die kleine Olivenholzkeule zu sich und schlich
hinaus ins Freie.
Der Himmel war bedeckt. Im Haus brannte kein Licht mehr. Der einzige
Funken in dieser stockfinsteren Nacht zuckte im Osten auf dem Leuchtturm des
Forts auf der Ile Sainte-Marguerite, uber eine Meile entfernt, ein winziger
heller Nadelstich in rabenschwarzem Tuch. Aus der Bucht kam ein leichter
fischiger Wind. Die Hunde schliefen.
Grenouille ging zur uußeren Tennenluke, an die eine Leiter
gelehnt stand. Er hob die Leiter ab und balancierte sie aufrecht, drei
Sprossen unter den freien rechten Arm geklemmt, den uberstand gegen die
rechte Schulter gepresst, uber den Hof bis unter ihr Fenster. Das Fenster
stand halb offen. Als er die Leiter hinaufstieg, bequem wie auf einer
Treppe, begluckwunschte er sich zu dem Umstand, den Duft des Mudchens hier
in Napoule ernten zu durfen. In Grasse, bei vergitterten Fenstern und streng
bewachtem Haus, wure alles sehr viel schwieriger gewesen. Hier schlief sie
sogar allein. Er brauchte nicht einmal die Zofe auszuschalten.
Er druckte den Fensterflugel auf, schlupfte in die Kammer und legte das
Laken ab. Dann wandte er sich dem Bett zu. Der Duft ihres Haares dominierte,
denn sie lag auf dem Bauch, und sie hatte das Gesicht, vom Armwinkel
umrahmt, ins Kissen gedruckt, so dass sich ihr Hinterkopf in geradezu
idealer Weise dem Keulenschlag prusentierte.
Das Geruusch des Schlages war dumpf und knirschend. Er hasste es. Er
hasste es allein deshalb, weil es ein Geruusch war, ein Geruusch in seinem
ansonsten lautlosen Geschuft. Nur mit zusammengebissenen Zuhnen konnte er
dieses ekelhafte Geruusch ertragen, und nachdem es voruber war, stand er
noch eine Weile lang steif und verbissen da, die Hand um die Keule
gekrampft, als furchte er, das Geruusch kunne zuruckkehren als
widerhallendes Echo von irgendwoher. Es kehrte aber nicht zuruck, sondern
die Stille kehrte zuruck in die Kammer, eine vermehrte Stille sogar, da nun
nicht einmal mehr der schlurfende Atem des Mudchens ging. Und alsbald luste
sich Grenouilles verspannte Haltung (die man vielleicht auch als eine
Ehrfurchtshaltung oder eine Art verkrampfter Schweigeminute hutte deuten
kunnen), und sein Kurper sank geschmeidig in sich zusammen.
Er steckte die Keule weg und war nun nur noch von emsiger
Betriebsamkeit erfullt. Als erstes faltete er das Beduftungstuch
auseinander, breitete es locker mit der Ruckseite uber Tisch und Stuhle und
achtete darauf, dass die Fettseite unberuhrt blieb. Dann schlug er die
Bettdecke zuruck. Der herrliche Duft des Mudchens, der plutzlich warm und
massiv aufquoll, beruhrte ihn nicht. Er kannte ihn ja, und genießen,
genießen bis zum Rausch, wurde er ihn sputer, wenn er ihn erst
wirklich besaß. Jetzt ging es darum, muglichst viel davon einzufangen,
muglichst wenig verstrumen zu lassen, jetzt waren Konzentration und Eile
geboten.
Mit raschen Scherenschnitten schlitzte er das Nachtgewand auf, zog es
ihr aus, ergriff das befettete Laken und warf es uber ihren nackten Kurper.
Dann hob er sie hoch, strich ihr das uberhungende Tuch unter, rollte sie ein
wie ein Bucker den Strudel, falzte die Enden, umhullte sie von den Zehen bis
an die Stirn. Nur ihr Haar schaute noch aus dem Mumienverband hervor. Er
schnitt es dicht uber der Kopfhaut ab, packte es in ihr Nachthemd, das er zu
einem Bundel verknotete. Zuletzt klappte er ein freigelassenes Stuck Tuch
uber den geschorenen Schudel, strich das uberlappende Ende glatt, tupfte es
mit zartem Fingerdruck fest. Er uberprufte das ganze Paket. Kein Schlitz,
kein Luchlein, kein aufgekniffenes Fultlein klaffte mehr, an dem der Duft
des Mudchens hutte entweichen kunnen. Sie war perfektverpackt. Es blieb
nichts mehr zu tun, als zu warten, sechs Stunden lang, bis der Morgen
graute.
Er nahm den kleinen Sessel, auf dem ihre Kleider lagen, trug ihn ans
Bett und setzte sich. In dem weiten schwarzen Gewand hing noch der zarte
Hauch ihres Duftes, vermischt mit dem Geruch von Anisplutzchen, die sie als
Reiseproviant in die Tasche gesteckt hatte. Er legte seine Fuße auf
den Bettrand, in die Nuhe ihrer Fuße, deckte sich mit ihrem Kleid zu
und aß die Anisplutzchen. Er war mude. Aber er wollte nicht schlafen,
denn es gehurte sich nicht, dass man wuhrend der Arbeit schlief, auch wenn
die Arbeit nur aus Warten bestand. Er erinnerte sich an die Nuchte, die er
in der Werkstatt Baldinis beim Destillieren verbracht hatte: an den
rußgeschwurzten Alambic, an das flackernde Feuer, an das leise
spuckende Geruusch, mit dem das Destillat aus dem Kuhlrohr in die
Florentinerflasche trupfelte. Von Zeit zu Zeit hatte man nach dem Feuer
sehen mussen, hatte Destillierwasser nachfullen, die Florentinerflasche
wechseln, das erschupfte Destilliergut ersetzen mussen. Und dennoch war ihm
immer gewesen, als wache man nicht, um diese gelegentlich anfallenden
Tutigkeiten zu verrichten, sondern als habe die Wache ihren eigenen Sinn.
Selbst hier in dieser Kammer, wo sich der Prozess der Enfleurage ganz von
allein vollzog, ja, wo sogar ein unzeitiges Prufen, Wenden und Betun des
duftenden Pakets nur sturend hutte wirken kunnen selbst hier, so schien
Grenouille, war seine wachende Gegenwart wichtig. Der Schlaf hutte den Geist
des Gelingens gefuhrdet.
Es fiel ihm im ubrigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz
seiner Mudigkeit. Dieses Warten liebte er. Auch bei den vierundzwanzig
anderen Mudchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten
und auch kein sehnsuchtiges Herbeiwarten, sondern ein begleitendes,
sinnvolles, gewissermaßen ein tutiges Warten. Es tat sich etwas
wuhrend dieses Wartens. Das Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht
selbst tat, so tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er
hatte all seine Kunstfertigkeit aufgebracht. Kein Fehler war ihm
unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es wurde von Erfolg gekrunt sein...
Nur noch ein paar Stunden warten musste er. Es befriedigte ihn zutiefst,
dieses Warten. Er hatte sich in seinem Leben nie so wohl gefuhlt, so ruhig,
so ausgeglichen, so eins und einig mit sich selbst - auch damals nicht in
seinem Berg - wie in diesen Stunden der handwerklichen Pause, da er in
tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die
einzigen Momente, da sich in seinem dusteren Hirn fast heitere Gedanken
bildeten.
Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in die Zukunft. Er dachte
nicht an den Duft, den er in ein paar Stunden ernten wurde, nicht an das
Parfum aus funfundzwanzig Mudchenauren, nicht an kunftige Plune, Gluck und
Erfolg. Nein, er gedachte seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die
Stationen seines Lebens vom Hause der Madame Gaillard und dem feuchtwarmen
Holzstoß davor bis zu seiner heutigen Reise in das kleine fischig
riechende Dorf Napoule. Er gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis,
des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er gedachte der Stadt Paris, ihres
großen tausendfach schillernden ublen Brodems, er gedachte des
rothaarigen Mudchens in der Rue des Marais, des freien Landes, des dunnen
Winds, der Wulder. Er gedachte auch des Bergs in der Auvergne - er umging
diese Erinnerung keineswegs -, seiner Huhle, der menschenleeren Luft. Er
gedachte auch seiner Truume. Und er gedachte all dieser Dinge mit
großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er so zuruckdachte, dass
er ein vom Gluck besonders begunstigter Mensch sei und dass sein Schicksal
ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen gefuhrt habe
- wie wure es sonst muglich gewesen, dass er hierhergefunden hutte, in diese
dunkle Kammer, ans Ziel seiner Wunsche? Er war, wenn er sich's recht
uberlegte, ein wirklich begnadetes Individuum!
Ruhrung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. "Ich danke dir", sagte
er leise, "ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass du so bist, wie du
bist!" So ergriffen war er von sich selbst.
Dann schloss er die Lider - nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz
dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erfullte sein Herz.
Aber es schien ihm, als herrsche er auch ringsum. Er roch den friedlichen
Schlaf der Zofe im Nebenzimmer, den tiefbefriedigten Schlaf des Antoine
Richis jenseits des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und
der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall, des ganzen Orts und des Meeres.
Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts sturte den Frieden.
Einmal bog er seinen Fuß zur Seite und beruhrte ganz sacht den
Fuß von Laure. Nicht ihren Fuß eigentlich, sondern gerade eben
das Tuch, das ihn umhullte, mit der dunnen Schicht Fett darunter, die sich
mit ihrem Duft trunkte, mit ihrem herrlichen Duft, mit seinem.
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Als die Vugel zu schreien begannen - also noch geraume Zeit vor Anbruch
der Morgendummerung -, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er schlug
das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab. Das Fett
schulte sich gut von der Haut. Nur an den verwinkelten Stellen blieben
einige Reste hungen, die er mit dem Spatel abstreichen musste. Die ubrigen
Pomadeschlieren wischte er mit Laures eigenem Unterhemd auf, mit dem er
zuletzt auch noch den Kurper von Kopf bis Fuß abrubbelte, so
grundlich, dass sich selbst noch das Porenfett in Krumeln von der Haut rieb,
und mit ihm die letzten Fusselchen und Fitzelchen ihres Duftes. Jetzt erst
war sie fur ihn wirklich tot, abgewelkt, blass und schlaff wie Blutenabfall.
Er warf das Unterhemd ins große enfleurierte Tuch, in dem allein
sie weiterlebte, legte das Nachtgewand mit ihren Haaren dazu und rollte
alles zu einem kleinen festen Paket zusammen, das er sich unter den Arm
klemmte. Er nahm sich nicht die Muhe, die Leiche auf dem Bett zuzudecken.
Und obwohl die Nachtschwurze sich schon ins Blaugraue der Morgendummerung
verwandelt hatte und die Di