an den Altwarenhändler und mehrfachen,
inzwischen aus dem Leben geschiedenen Realitätenbesitzer Aaron Wassertrum
gegen Inempfangnahme von Geldeswert veräußert zu haben, konnte mangels
Glaubwürdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.
Die Untersuchung hat weiters ergeben, daß die Leiche des erwähnten Karl
Zottmann in der rückwärtigen Hosentasche zur Zeit ihrer Auffindung ein
Notizbuch bei sich trug, in der sie vermutlich bereits einige Tage vor
erfolgtem Ableben mehrere den Tatbestand erhellende und die Ergreifung des
Täters durch die k. k. Behörden erleichternde Eintragungen vorgenommen
hatte.
Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge
auf den nunmehr durch die Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend
verdächtig gewordenen Loisa Kwáßnitschka, zurzeit flüchtig, gelenkt und
unter einem verfügt, die Untersuchungshaft gegen Athanasius Pernath,
Gemmenschneider, dermalen noch unbescholten, aufzuheben, und das Verfahren
gegen ihn einzustellen.
Prag im Juli
gezeichnet
Dr. Freiherr von Leisetreter."
Der Boden schwankte unter meinen Füßen, und ich verlor eine Minute das
Bewußtsein.
Als ich erwachte, saß ich auf einem Stuhl, und der Gefangenwärter
klopfte mir freundlich auf die Schulter.
Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich
und sagte zu mir:
"Die Verlesung der Verfügung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr
Name mit einem ›Päh‹ beginnt und naturgemäß im Alphabet erst gegen Schluß
vorkommen kann." - Dann las er weiter:
"Überdies ist der Athanasius Pernath, Gemmenschneider, in Kenntnis zu
setzen, daß ihm laut testamentarischer Verfügung des im Mai mit Tod
abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek ein Drittel von dessen gesamter
Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und ist er zur Unterfertigung des
Protokolls hiermit anzuhalten."
Der Schreiber hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing
an zu schmieren.
Ich erwartete gewohnheitsmäßig, daß er meckern würde, aber er meckerte
nicht.
"Innocenz Charousek", murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.
Der Gefangenwärter beugte sich über mich und flüsterte mir ins Ohr:
"Kurz vor seinem Tode war er bei mir, der Herr Dr. Charousek, und hat
sich nach Ihnen erkundigt. Er läßt Sie viel-vielmals grüßen, hat er g'sagt.
Ich hab's natürlich damals nicht ausrichten dürfen. Es ist streng verboten.
Ein schreckliches Ende hat er übrigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er
hat sich selbst entleibt. Man hat ihn tot auf dem Grabhügel des Aaron
Wassertrum, auf der Brust liegend, gefunden. - Er hat zwei tiefe Löcher in
die Erde gegraben gehabt, sich die Pulsadern aufgeschnitten und dann die
Arme in die Löcher gesteckt. So ist er verblutet. Er ist wahrscheinlich
wahnsinnig gewesen, der Herr Dr. Char - - -"
Der Schreiber schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück und reichte mir
die Feder zum Unterschreiben.
Dann richtete er sich stolz auf und sagte genau im Tonfall seines
freiherrlichen Vorgesetzten:
"Gefangenwärter, führen Sie den Mann hinaus."
Wie vor langer, langer Zeit hatte wiederum der Mann mit Säbel und
Unterhosen im Torzimmer seine Kaffeemühle vom Schoß genommen; nur daß er
mich diesmal nicht untersuchte und mir meine Edelsteine, das Portemonnaie
mit den zehn Gulden darin, meinen Mantel und alles übrige zurückgab. - - -
Dann stand ich auf der Straße.
"Mirjam! Mirjam! Jetzt endlich naht das Widersehen!" - Ich unterdrückte
einen Schrei wildesten Entzückens.
Es mußte Mitternacht sein. Der Vollmond schwebte glanzlos wie ein
fahler Messingteller hinter Dunstschleiern.
Das Pflaster war mit einer zähen Schicht von Schmutz bedeckt.
Ich wankte auf eine Droschke zu, die im Nebel aussah wie ein
zusammengebrochenes vorsintflutliches Ungeheuer. Meine Beine versagten fast
den Dienst; ich hatte das Gehen verlernt und taumelte - auf empfindungslosen
Sohlen wie ein Rückenmarkskranker. - -
"Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie können, in die Hahnpaßgasse 7!
- Haben Sie mich verstanden?: - Hahnpaßgasse 7."
Frei
Nach wenigen Metern Fahrt blieb die Droschke stehn.
"Hahnpaßgassä, gnä' Herr?"
"Ja, ja, nur rasch."
Wieder fuhr der Wagen ein Stück weiter. Wieder blieb er stehen.
"Um Himmels willen, was gibt's denn?"
"Hahnpaßgassäü, gnä' Herr?"
"Ja, ja. Ja doch."
"In die Hahnpaßgassä kann me doch nicht fahrrähn!"
"Warum denn nicht?"
"Ise sich doch ieberall Pflaste aufgrissen, Judenstadt wirde sich doch
assaniert."
"Also fahren Sie eben, soweit Sie können, aber jetzt rasch gefälligst."
Die Droschke machte einen einzigen Galoppsprung und stolperte dann
gemächlich weiter.
Ich ließ die klapprigen Fenster herunter und sog mit gierigen Lungen
die Nachtluft ein.
Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich neu: die Häuser, die
Straßen, die geschlossenen Läden. Ein weißer Hund trabte einsam und
mißgelaunt auf dem nassen Trottoir vorüber. Ich sah ihm nach. - Wie
sonderbar!! Ein Hund! Ich hatte ganz vergessen, daß es solche Tiere gab. -
Vor Freude kindisch rief ich ihm nach: "Aber, aber! Wie kann man nur so
verdrossen sein." - - -
Was Hillel wohl sagen würde!? - Und Mirjam?
Nur noch wenige Minuten und ich war bei ihnen. Nicht eher wollte ich
aufhören, an ihre Tür zu klopfen, bis ich sie aus den Federn getrieben.
Jetzt war ja alles gut - all der Jammer dieses Jahres vorüber! -
Würde das ein Weihnachten werden!
Diesmal durfte ich es nicht verschlafen, wie das letztemal.
Einen Augenblick lahmte mich wieder das alte Entsetzen: die Worte des
Sträflings mit der Raubtierschnauze fielen mir ein. Das verbrannte Gesicht -
der Lustmord - aber nein, nein! - Ich schüttelte es gewaltsam ab: nein,
nein, es konnte, es konnte nicht sein. - Mirjam lebte! Ich hatte doch ihre
Stimme aus Laponders Mund gehört.
Nur noch eine Minute - eine halbe - - und dann -
Die Droschke hielt vor einem Trümmerhaufen. Barrikaden aus
Pflastersteinen überall!
Rote Laternen brannten darauf.
Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern.
Halden von Schutt und Mauerbrocken versperrten den Weg. Ich kletterte
umher, versank bis ans Knie.
Das hier, das mußte doch die Hahnpaßgasse sein?!
Mühsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum.
Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte?
Die Vorderseite war eingerissen.
Ich kletterte auf einen Erdhügel; tief unter mir lief ein schwarzer,
gemauerter Gang die ehemalige Gasse entlang. Ich schaute empor: wie riesige
Bienenzellen hingen die bloßgelegten Wohnräume nebeneinander in der Luft,
halb vom Fackelschein, halb von dem trüben Mondlicht beschienen.
Das dort oben, das mußte mein Zimmer sein - ich erkannte es an der
Bemalung der Wände.
Nur noch ein Streifen davon war übrig.
Und daranstoßend das Atelier - Saviolis. Mir wurde plötzlich ganz leer
im Herzen. Wie seltsam! Das Atelier! - Angelina! - - So weit, so unabsehbar
fern lag das alles hinter mir!
Ich drehte mich um: von dem Haus, in dem Wassertrum gewohnt, kein Stein
mehr auf dem andern. Alles dem Erdboden gleichgemacht: der Trödlerladen, die
Kellerwohnung Charouseks - - - alles, alles.
"Der Mensch geht dahin wie ein Schatten" - fiel mir ein Satz ein, den
ich einmal irgendwo gelesen.
Ich fragte einen Arbeiter, ob er nicht wisse, wo die Leute jetzt
wohnten, die hier ausgezogen seien; ob er vielleicht den Archivar Schemajah
Hillel kenne.
"Nix daitsch", war die Antwort.
Ich schenkte dem Mann einen Gulden: er verstand zwar sofort deutsch,
konnte mir aber keine Auskunft geben.
Auch von seinen Kameraden niemand.
Vielleicht, daß beim "Loisitschek" etwas zu erfahren wäre?
Der "Loisitschek" sei gesperrt, hieß es, das Haus würde renoviert.
Also irgend jemand in der Nachbarschaft wecken! - Ging das nicht?
"Weit a breit wohnt sich keine Katz," sagte der Arbeiter; "weil ise
behärdlich verbotten. Von wägen Typhus."
"Der ›Ungelt‹? Der wird doch offen haben?"
"Ungelt ise sich geschlossen."
"Bestimmt?"
"Bestimmt!"
Aufs Geratewohl nannte ich ein paar Namen von Höcklern und
Tabaktrafikantinnen, die in der Nähe gewohnt hatten; dann die Namen Zwakh,
Vrieslander, Prokop - -
Bei allen schüttelte der Mann den Kopf.
"Vielleicht kennen Sie den Jaromir Kwáßnitschka?"
Der Arbeiter horchte auf.
"Jaromir? Ise sich taubstumm?"
Ich jubelte. Gott sei Dank. Wenigstens ein Bekannter.
"Ja, er ist taubstumm. Wo wohnt er?"
"Schneid 'e sich Bildeln aus? Aus schwarzem Pappjir?"
"Ja. Er ist es schon. Wo kann ich ihn wohl treffen?"
So umständlich wie möglich bezeichnete mir der Mann ein Nachtcaféhaus
in der inneren Stadt und fing sofort wieder an zu schaufeln.
Über eine Stunde lang watete ich durch Schuttfelder, balancierte über
schwankende Bretter und kroch unter Querbalken durch, die die Straßen
versperrten. Das ganze Judenviertel war eine einzige Steinwüste, als hätte
ein Erdbeben die Stadt zerstört.
Atemlos vor Aufregung, schmutzbedeckt und mit zerrissenen Schuhen fand
ich mich endlich aus dem Labyrinth heraus.
Ein paar Häuserreihen, und ich stand vor der gesuchten Spelunke.
"Cafe Chaos" stand darüber geschrieben.
Ein menschenleeres, winziges Lokal, das kaum genügend Platz ließ für
die paar Tische, die an die Wände gerückt waren.
In der Mitte auf einem dreibeinigen Billard schlief ein Kellner und
schnarchte.
Ein Marktweib, mit einem Gemüsekorb vor sich, saß in der Ecke und
nickte über einem Glase Caj.
Endlich geruhte der Kellner aufzustehen und mich zu fragen, was ich
wünschte. Bei dem frechen Blick, mit dem er mich vom Kopf bis zu Fuß
musterte, kam mir erst zum Bewußtsem, wie abgerissen ich aussehen mußte.
Ich warf einen Blick in den Spiegel und entsetzte mich: ein fremdes,
blutleeres Gesicht, faltig, grau wie Kitt, mit struppigem Bart und wirrem,
langem Haar starrte mir entgegen.
Ob der Silhouettenschneider Jaromir nicht dagewesen sei, fragte ich und
bestellte schwarzen Kaffee.
"Woaß net, wo er so lang bleibt", war die gegähnte Antwort.
Dann legte sich der Kellner wieder auf das Billard und schlief weiter.
Ich nahm das "Prager Tagblatt" von der Wand und - wartete.
Die Buchstaben liefen wie Ameisen über die Seiten, und ich begriff
nicht ein einziges Wort von dem, was ich las.
Die Stunden vergingen, und hinter den Scheiben zeigte sich bereits das
verdächtige tiefe Dunkelblau, das den Einbruch der Morgendämmerung für ein
Lokal mit Gasbeleuchtung anzeigt.
Hie und da spähten ein paar Schutzleute mit grünlich schillernden
Federbüschen herein und gingen in langsamem, schwerem Schritt wieder weiter.
Drei übernächtig aussehende Soldaten traten ein.
Ein Straßenkehrer nahm einen Schnaps.
Endlich, endlich: Jaromir.
Er hatte sich so verändert, daß ich ihn anfangs gar nicht
wiedererkannte: die Augen erloschen, die Vorderzähne ausgefallen, das Haar
schütter und tiefe Höhlen hinter den Ohren.
Ich war so froh, nach so langer Zeit wieder ein bekanntes Gesicht zu
sehen, daß ich aufsprang, ihm entgegenging und seine Hand faßte.
Er benahm sich außerordentlich scheu und blickte immerwährend nach der
Türe. Durch alle möglichen Gesten suchte ich ihm begreiflich zu machen, daß
ich mich freute, ihn getroffen zu haben. - Er schien es mir lange nicht zu
glauben.
Aber, was für Fragen ich auch stellte, stets die gleiche hilflose
Handbewegung des Nichtverstehens bei ihm.
Wie konnte ich mich nur verständlich machen?!
Halt! Eine Idee!
Ich ließ mir einen Bleistift geben und zeichnete nacheinander die
Gesichter von Zwakh, Vrieslander und Prokop auf.
"Was? Alle nicht mehr in Prag?"
Er fuchtelte lebhaft in der Luft herum, machte die Gebärde des
Geldzählens, marschierte mit den Fingern über den Tisch, schlug sich auf den
Handrücken. Ich erriet: alle drei hatten wahrscheinlich von Charousek Geld
bekommen und zogen jetzt als kaufmännische Kompagnie mit dem vergrößerten
Marionettentheater durch die Welt.
"Und Hillel? Wo wohnt er jetzt?" - Ich zeichnete sein Gesicht, ein Haus
dazu und ein Fragezeichen.
Das Fragezeichen verstand Jaromir nicht; - er konnte nicht lesen, aber
er begriff, was ich wollte, - nahm ein Streichholz, warf es scheinbar in die
Höhe und ließ es nach Taschenspielerart geschickt verschwinden.
Was bedeutete das? Hillel sollte auch verreist sein?
Ich zeichnete das jüdische Rathaus auf.
Der Taubstumme schüttelte heftig den Kopf.
"Hillel ist also nicht mehr dort?"
"Nein!" (Kopfschütteln.)
"Wo ist er denn?"
Wieder das Spiel mit dem Streichholz.
"Er meint halt, daß der Herr weg ist, und niem'd weiß nicht, wohin",
mischte sich der Straßenkehrer, der uns die ganze Zeit über interessiert
zugesehen hatte, belehrend ein.
Vor Schreck krampfte sich mir das Herz zusammen: Hillel fort! - Jetzt
war ich ganz allein auf der Welt. - - Die Gegenstände im Zimmer fingen vor
meinen Augen an zu flimmern.
"Und Mirjam?"
Meine Hand zitterte so stark, daß ich ihr Gesicht lange nicht ähnlich
zeichnen konnte.
"Ist Mirjam auch verschwunden?"
"Ja. Auch verschwunden. Spurlos."
Ich stöhnte laut auf, lief im Zimmer hin und her, daß die drei Soldaten
einander fragend anblickten.
Jaromir suchte mich zu beruhigen und bemühte sich, mir noch etwas
anderes mitzuteilen, was er erfahren zu haben schien: er legte den Kopf auf
den Arm, wie jemand, der schläft.
Ich hielt mich an der Tischplatte: "Um Gottes Christi willen, Mirjam
ist gestorben?"
Kopfschütteln. Jaromir wiederholte die Gebärde des Schlafens.
"War Mirjam krank gewesen?" Ich zeichnete eine Medizinflasche.
Kopfschütteln. Wieder legte Jaromir die Stirn auf den Arm. - - -
Das Zwielicht kam, eine Gasflamme nach der andern erlosch und noch
immer konnte ich nicht herausbringen, was die Geste bedeuten sollte.
Ich gab es auf. Dachte nach.
Das einzige, was mir zu tun blieb, war, in aller Frühe auf das jüdische
Rathaus zu gehen, um dort Erkundigungen einzuziehen, wohin Hillel mit Mirjam
gereist sein könne.
Ich mußte ihm nach. - - -
Wortlos saß ich neben Jaromir. Stumm und taub wie er.
Als ich nach einer langen Zeit aufblickte, sah ich, daß er mit einer
Schere an einer Silhouette herumschnitt.
Ich erkannte das Profil Rosinas. Er reichte mir das Blatt über den
Tisch herüber, legte die Hand auf die Augen und - weinte still vor sich hin.
- -
Dann sprang er plötzlich auf und taumelte ohne Gruß zur Tür hinaus.
Der Archivar Schemajah Hillel sei eines Tages ohne Grund ausgeblieben
und nicht mehr wiedergekommen; seine Tochter habe er jedenfalls mitgenommen,
denn auch sie sei von niemand mehr gesehen worden seit jener Zeit, hatte man
mir auf dem jüdischen Rathaus gesagt. Das war alles, was ich erfahren
konnte.
Keine Spur, wohin sie sich gewandt haben mochten.
Auf der Bank hieß es, mein Geld sei gerichtlich immer noch mit Beschlag
belegt, man erwarte aber täglich den Bescheid, es mir auszahlen zu dürfen.
Also auch die Erbschaft Charouseks mußte noch den Amtsweg gehen, und
ich wartete doch mit brennender Ungeduld auf das Geld, um dann alles
aufzubieten, Hillels und Mirjams Spur zu suchen.
Ich hatte meine Edelsteine verkauft, die ich noch in der Tasche gehabt,
und mir zwei kleine, möblierte, aneinanderstoßende Dachkammern in der
Altschulgasse - die einzige Gasse, die von der Assanierung der Judenstadt
verschont geblieben, - gemietet.
Sonderbarer Zufall: es war dasselbe wohlbekannte Haus, von dem die Sage
ging, der Golem sei einst darin verschwunden.
Ich hatte mich bei den Bewohnern - zumeist kleine Kaufleute oder
Handwerker - erkundigt, was denn Wahres an dem Gerücht von dem "Zimmer ohne
Zugang" sei, und war ausgelacht worden. - Wie man einen derartigen Unsinn
denn glauben könne!
Meine eigenen Erlebnisse, die sich darauf bezogen, hatten im Gefängnis
die Blässe eines längst verwehten Traumbildes angenommen und ich sah in
ihnen nur noch Symbole ohne Blut und Leben, - strich sie aus dem Buch meiner
Erinnerungen.
Die Worte Laponders, die ich zuweilen so klar in mir hörte, als säße er
mir gegenüber wie damals in der Zelle und spräche zu mir, bestärkten mich
darin, daß ich rein innerlich geschaut haben müsse, was mir ehedem greifbare
Wirklichkeit geschienen.
War denn nicht alles vergangen und verschwunden, was ich einst besessen
hatte? Das Buch Ibbur, das phantastische Tarockspiel, Angelina und sogar
meine alten Freunde Zwakh, Vrieslander und Prokop! - - -
Es war Weihnachtsabend, und ich hatte mir einen kleinen Baum mit roten
Kerzen nach Hause gebracht. Ich wollte noch einmal jung sein und
Lichterglanz um mich haben und den Duft von Tannennadeln und brennendem
Wachs.
Ehe das Jahr noch zu Ende ging, war ich vielleicht schon unterwegs und
suchte in Städten und Dörfern, oder wohin es mich innerlich ziehen würde,
nach Hillel und Mirjam.
Alle Ungeduld, alles Warten war allmählich von mir gewichen und alle
Furcht, Mirjam könne ermordet worden sein, und mit dem Herzen wußte ich, ich
würde sie beide finden.
Es war ein beständiges glückliches Lächeln in mir, und wenn ich meine
Hand auf etwas legte, kam mir's vor, als ginge ein Heilen von ihr aus. Die
Zufriedenheit eines Menschen, der nach langer Wanderung heimkehrt und die
Türme seiner Vaterstadt von weitem blinken sieht, erfüllte mich auf ganz
sonderbare Weise.
Einmal war ich noch in dem kleinen Kaffeehaus gewesen, um Jaromir zum
Weihnachtsabend zu mir zu holen. - Er habe sich nie mehr blicken lassen,
erfuhr ich, und schon wollte ich betrübt wieder gehen, da kam ein alter
Tabulettkrämer herein und bot kleine, wertlose Antiquitäten zum Kauf an.
Ich kramte in seinem Kasten unter all den Uhranhängseln, kleinen
Kruzifixen, Kammnadeln und Broschen herum, da fiel mir ein Herz aus rotem
Stein an einem verschossenen Seidenbande in die Hand, und ich erkannte es
voll Erstaunen als das Andenken, das mir Angelina, als sie noch ein kleines
Mädchen gewesen, einst beim Springbrunnen in ihrem Schloß geschenkt hatte.
Und mit einem Schlag stand meine Jugendzeit vor mir, als sähe ich in
einen Guckkasten tief hinein in ein kindlich gemaltes Bild. -
Lange, lange stand ich erschüttert da und starrte auf das kleine, rote
Herz in meiner Hand. - - -
Ich saß in der Dachkammer und lauschte dem Knistern der Tannennadeln,
wenn hie und da ein kleiner Zweig über den Wachskerzen zu glimmen begann.
"Vielleicht spielt gerade jetzt in dieser Stunde der alte Zwakh
irgendwo in der Welt seinen ›Marionettenweihnachtsabend‹", malte ich mir
aus, - "und deklamiert mit geheimnisvoller Stimme die Strophe seines
Lieblingsdichters Oskar Wiener":
Wo ist das Herz aus rotem Stein?
Es hängt an einem Seidenbande.
O du, o gib das Herz nicht her;
Ich war ihm treu und hatt' es lieb,
Und diente sieben Jahre schwer
Um dieses Herz, und hatt' es lieb!"
Eigentümlich feierlich wurde mir plötzlich zumute.
Die Kerzen waren heruntergebrannt. Nur eine einzige flackerte noch.
Rauch ballte sich im Zimmer.
Als ob mich eine Hand zöge, wandte ich mich plötzlich um und:
Da stand mein Ebenbild auf der Schwelle. Mein Doppelgänger. In einem
weißen Mantel. Eine Krone auf dem Kopf.
Nur einen Augenblick.
Dann brachen Flammen durch das Holz der Tür, und eine Wolke
erstickenden heißen Qualms schlug herein:
Feuersbrunst im Haus! Feuer! Feuer!
Ich reiße das Fenster auf. Klettere auf das Dach hinaus.
Von weitem rast schon das gellende Klingeln der Feuerwehr heran.
Blitzende Helme und abgehackte Kommandorufe.
Dann das gespenstische, rhythmische, schlapfende Atmen der Pumpen, wie
die Dämonen des Wassers sich ducken zum Sprung auf ihren Todfeind: das
Feuer.
Glas klirrt und rote Lohe schießt aus allen Fenstern.
Matratzen werden hinuntergeworfen, die ganze Straße liegt voll davon,
Menschen springen nach, werden verwundet weggetragen.
In mir aber jauchzt etwas auf in wilder jubelnder Ekstase; ich weiß
nicht warum. Das Haar sträubt sich mir.
Ich laufe auf den Schornstein zu, um nicht versengt zu werden, denn die
Flammen greifen nach mir.
Das Seil eines Rauchfangkehrers ist herumgewickelt.
Ich rolle es auf, schlinge es um Handgelenk und Bein, wie ich es als
Knabe beim Turnen gelernt habe, und lasse mich ruhig an der Fassade des
Hauses hinab. -
Komme an einem Fenster vorbei. Blicke hinein:
Drin ist alles blendend erleuchtet.
Und da sehe ich - - - da sehe ich - - - mein ganzer Körper wird ein
einziger hallender Freudenschrei:
"Hillel! Mirjam! Hillel!"
Ich will auf die Gitterstäbe losspringen.
Greife daneben. Verliere den Halt am Seil.
Einen Augenblick hänge ich, Kopf abwärts, die Beine gekreuzt, zwischen
Himmel und Erde.
Das Seil singt bei dem Ruck. Knirschend dehnen sich die Fasern.
Ich falle.
Mein Bewußtsein erlischt.
Noch im Sturz greife ich nach dem Fenstersims, aber ich gleite ab. Kein
Halt:
der Stein ist glatt.
Glatt wie ein Stück Fett.
Schluß
"- - - wie ein Stück fett!"
Das ist der Stein, der aussieht wie ein Stück Fett.
Die Worte gellen mir noch in den Ohren. Dann richte ich mich auf und
muß mich besinnen, wo ich bin.
Ich liege im Bett und wohne im Hotel.
Ich heiße doch gar nicht Pernath.
Habe ich das alles nur geträumt?
Nein! So träumt man nicht.
Ich schaue auf die Uhr: kaum eine Stunde habe ich geschlafen. Es ist
halb drei.
Und dort hängt der fremde Hut, den ich heute im Dom auf dem Hradschin
verwechselt habe, als ich beim Hochamt auf der Betbank saß.
Steht ein Name darin?
Ich nehme ihn und lese in goldenen Buchstaben auf dem weißen
Seidenfutter den fremden und doch so bekannten Namen:
ATHANASIUS PERNATH
Jetzt läßt es mir keine Ruhe mehr; ich ziehe mich hastig an und laufe
die Treppe hinunter.
"Portier! Aufmachen! Ich gehe noch eine Stunde spazieren."
"Wohin, bitt schän?"
"In die Judenstadt. In die Hahnpaßgasse. Gibt's überhaupt eine Straße,
die so heißt?"
"Freilich, freilich" - der Portier lächelt malitiös - "aber in der
Judenstadt, ich mache aufmerksam: ist nicht mehr viel los. Alles neu gebaut,
bitte."
"Macht nichts. Wo liegt die Hahnpaßgasse?"
Der dicke Finger des Portiers deutet auf die Karte: "Hier, bitte."
"Und die Schenke ›Zum Loisitschek‹?"
"Hier, bitte."
"Geben Sie mir ein großes Stück Papier."
"Hier, bitte."
Ich wickle Pernaths Hut hinein. Merkwürdig: er ist fast neu, tadellos
sauber und doch so brüchig, als wäre er uralt. -
Unterwegs überlege ich:
Alles, was dieser Athanasius Pernath erlebt hat, habe ich im Traum
miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehört, mitgefühlt, als wäre ich er
gewesen. Warum weiß ich denn aber nicht, was er in dem Augenblick, als der
Strick riß und er "Hillel, Hillel!" rief, hinter dem Gitterfenster erblickt
hat?
Er hat sich in diesem Augenblick von mir getrennt, begreife ich.
Ich muß diesen Athanasius Pernath auffinden, und wenn ich drei Tage und
drei Nächte herumlaufen sollte, nehme ich mir vor. - - -
Also das ist die Hahnpaßgasse?
Nicht annähernd so habe ich sie im Traum gesehen! -
Lauter neue Häuser.
Eine Minute später sitze ich im Café Loisitschek. Ein stilloses,
ziemlich sauberes Lokal.
Im Hintergrund allerdings eine Estrade mit Holzgeländer; eine gewisse
Ähnlichkeit mit dem alten geträumten "Loisitschek" ist nicht zu leugnen.
"Befehlen, bitt' schön?", fragt die Kellnerin, ein dralles Mädel, in
einen rotsamtenen Frack buchstäblich hineingeknallt.
"Kognak, Fräulein. - So, danke."
"- Hm. Fräulein!"
"Bitte?"
"Wem gehört das Kaffeehaus?"
"Dem Herrn Kommerzialrat Loisitschek. - Das ganze Haus gehört ihm. Ein
sehr feiner reicher Herr."
- Aha, der Kerl mit den Schweinszähnen an der Uhrkette! erinnere ich
mich. -
Ich habe einen guten Einfall, der mich orientieren wird:
"Fräulein!"
"Bitte?"
"Wann ist die steinerne Brücke eingestürzt?"
"Vor dreiunddreißig Jahren."
"Hm. Vor dreiunddreißig Jahren!" - ich überlege: der Gemmenschneider
Pernath muß also jetzt fast neunzig sein.
"Fräulein!"
"Bitte?"
"Ist hier niemand unter den Gästen, der sich noch erinnern kann, wie
die alte Judenstadt von damals ausgesehen hat? Ich bin Schriftsteller und
interessiere mich dafür."
Die Kellnerin denkt nach: "Von den Gästen? Nein. - Aber warten S': der
Billardmarqueur, der dort mit einem Studenten Carambol spielt, - sehen Sie
ihn? Der mit der Hakennase, der Alte, - der hat immer hier gelebt und wird
Ihnen alles sagen. Soll ich ihn rufen, wenn er fertig ist?"
Ich folgte dem Blick des Mädchens:
Ein schlanker, weißhaariger, alter Mann lehnt drüben am Spiegel und
kreidet seine Queue. Ein verwüstetes, aber seltsam vornehmes Gesicht. Woran
erinnert er mich nur?
"Fräulein, wie heißt der Marqueur?"
Die Kellnerin stützt sich im Stehen mit dem Ellenbogen auf den Tisch,
leckt an einem Bleistift, schreibt in Windeseile ihren Vornamen unzählige
Male auf die Marmorplatte und löscht ihn jedesmal mit nassem Finger rasch
wieder aus. Dazwischen wirft sie mir mehr oder minder sengende Glutblicke
zu; - je nachdem sie ihr gelingen. Unerläßlich ist natürlich das
gleichzeitige Emporziehen der Augenbrauen, denn es erhöht das Märchenhafte
des Blickes.
"Fräulein, wie heißt der Marqueur?", wiederhole ich meine Frage. Ich
sehe ihr an, sie hätte lieber gehört: Fräulein, warum tragen Sie nicht nur
einen Frack? oder etwas Ähnliches, aber ich frage es nicht; mir geht mein
Traum zu sehr im Kopf herum.
"No, wie wird er denn heißen," schmollt sie, "Ferri heißt er halt.
Ferri Athenstädt."
"So so? Ferri Athenstädt! - Hm, - also wieder ein alter Bekannter."
"Erzählen Sie mir doch recht, recht viel von ihm, Fräulein," girre ich,
muß mich aber sofort mit einem Kognak stärken, "Sie plaudern gar so herzig!"
(Ich ekle mich vor mir selber.)
Sie neigt sich geheimnisvoll dicht zu mir, damit mich ihre Haare im
Gesicht kitzeln, und flüstert:
"Der Ferri, der war Ihnen früher ein ganz ein Geriebener. - Er soll von
uraltem Adel gewesen sein - es ist natürlich nur so ein Gerede, weil er
keinen Bart nicht trägt - und furchtbar viel Geld g'habt habn. Eine
rothaarige Jüdin, die schon von Jugend auf eine ›Person‹ war" - sie schrieb
wieder rasch ein paarmal ihren Namen auf - "hat ihn dann ganz ausgezogen. -
Punkto Geld mein' ich natürlich. No, und wie er dann kein Geld nicht mehr
gehabt hat, ist sie weg und hat sich von einem hohen Herrn heiraten lassen:
von dem ..." - sie flüsterte mir einen Namen ins Ohr, den ich nicht
verstehe. "Der hohe Herr hat dann natürlich auf alle Ehre verzichten müssen
und sich von da an nur mehr Ritter von Dämmerich nennen dürfen. No ja. Aber
daß sie früher eine ›Person‹ g'wesen ist, hat er ihr halt doch nicht
wegwaschen können. Ich sag immer -."
"Fritzi! Zahlen!" ruft jemand von der Estrade herab. -
Ich lasse meine Blicke durch das Lokal wandern, da höre ich plötzlich
ein leises metallisches Zirpen, wie von einer Grille, hinter mir.
Ich drehe mich neugierig um. Traue meinen Augen nicht:
Das Gesicht zur Wand gekehrt, alt wie Methusalem, eine Spieldose, so
klein wie eine Zigarettenschachtel, in zitternden Skeletthänden sitzt ganz
in sich zusammengesunken - der blinde, greise Nephtali Schaffranek in der
Ecke und leiert mit der winzigen Kurbel.
Ich trete zu ihm.
Im Flüsterton singt er konfus vor sich hin:
"Frau Pick,
Frau Hock.
Und rote, blaue Stern
die schmusen allerhand.
Von Messinung, an Räucherl und Rohn."
"Wissen Sie, wie der alte Mann heißt?" frage ich einen vorbeieilenden
Kellner.
"Nein, mein Herr, niemand kennt weder ihn noch seinen Namen. Er selbst
hat ihn vergessen. Er ist ganz allein auf der Welt. Bitte, er ist 110 Jahre
alt! Er kriegt bei uns jede Nacht einen sogenannten Gnadenkaffee."
Ich beugte mich über den Greis, - rufe ihm ein Wort ins Ohr:
"Schaffranek!"
Es durchfährt ihn wie ein Blitz. Er murmelt etwas, streicht sich
sinnend über die Stirn.
"Verstehen Sie mich, Herr Schaffranek?"
Er nickt.
"Passen Sie mal gut auf! Ich möchte Sie etwas fragen, aus alter Zeit.
Wenn Sie mir alles gut beantworten, bekommen Sie den Gulden, den ich hier
auf den Tisch lege."
"Gulden", wiederholt der Greis und fängt sofort an, wie ein Rasender
auf seiner zirpenden Spieldose zu kurbeln.
Ich halte seine Hand fest: "Denken Sie einmal nach! - Haben Sie nicht
vor etwa 33 Jahren einen Gemmenschneider namens Pernath gekannt?"
"Hadrbolletz! Hosenschneider!" - lallt er asthmatisch auf und lacht
übers ganze Gesicht, in der Meinung, ich hätte ihm einen famosen Witz
erzählt.
"Nein, nicht Hadrbolletz: - - Pernath!"
"Pereles?!" - er jubelt förmlich.
"Nein, auch nicht Pereies. - Per-nath!"
"Pascheies?!" - er kräht vor Freude. - -
Ich gebe enttäuscht meinen Versuch auf.
"Sie wollten mich sprechen, mein Herr?", - der Marqueur Ferri
Athenstädt steht vor mir und verbeugt sich kühl.
"Ja. Ganz richtig. - Wir können dabei eine Partie Billard spielen."
"Spielen Sie um Geld, mein Herr? Ich gebe Ihnen 90 auf 100 vor."
"Also gut: um einen Gulden. Fangen Sie vielleicht an, Marqueur."
Seine Durchlaucht nimmt das Queue, zielt, gickst, macht ein ärgerliches
Gesicht. Ich kenne das: er läßt mich bis 9 kommen, und dann macht er in
einer Serie "aus".
Mir wird immer kurioser zumute. Ich gehe direkt auf mein Ziel los:
"Entsinnen Sie sich, Herr Marqueur: vor langer Zeit, etwa in den
Jahren, als die steinerne Brücke einstürzte, in der damaligen Judenstadt
einen gewissen - Athanasius Pernath gekannt zu haben?"
Ein Mann in einer rotweißgestreiften Leinwandjacke, mit Schielaugen und
kleinen goldenen Ohrringen, der auf einer Bank an der Wand sitzt und eine
Zeitung liest, fährt auf, stiert mich an und bekreuzigt sich.
"Pernath? Pernath?" wiederholt der Marqueur und denkt angestrengt nach
- "Pernath? - War er nicht groß, schlank? Braunes Haar, melierten
kurzgeschnittenen Spitzbart?"
"Ja. Ganz richtig."
"Etwa vierzig Jahre alt damals? Er sah aus wie --", Seine Durchlaucht
starrt mich plötzlich überrascht an. - "Sie sind ein Verwandter von ihm,
mein Herr?!"
Der Schieläugige bekreuzigt sich.
"Ich? Ein Verwandter? Komische Idee. - Nein. Ich interessiere mich nur
für ihn. Wissen Sie noch mehr?", sage ich gelassen, fühle aber, daß mir
eiskalt im Herzen wird.
Ferri Athenstädt denkt wieder nach.
"Wenn ich nicht irre, galt er seinerzeit für verrückt. - Einmal
behauptete er, er hieße - warten Sie mal, - ja: Laponder! Und dann wieder
gab er sich für einen gewissen - Charousek aus."
"Kein Wort wahr!" fährt der Schieläugige dazwischen. "Den Charousek
hat's wirklich gegeben. Mein Vater hat doch mehrere 1000 fl von ihm geerbt."
"Wer ist dieser Mann?", fragte ich den Marqueur halblaut.
"Er ist Fährmann und heißt Tschamrda. - Was den Pernath betrifft, so
erinnere ich mich nur, oder glaube es wenigstens - daß er in späteren Jahren
eine sehr schöne, dunkelhäutige Jüdin geheiratet hat."
"Mirjam!" sage ich mir und werde so aufgeregt, daß mir die Hände
zittern und ich nicht mehr weiterspielen kann.
Der Fährmann bekreuzigt sich.
"Ja, was ist denn heute mit Ihnen los, Herr Tschamrda?", fragt der
Marqueur erstaunt.
"Der Pernath hat niemals nicht gelebt", schreit der Schieläugige los.
"Ich glaub's nicht."
Ich schenke dem Mann sofort einen Kognak ein, damit er gesprächiger
wird.
"Es gibt ja wohl Leut', die sagen, der Pernath lebt noch immer", rückt
der Fährmann endlich heraus, "er is, hör ich. Kammschneider und wohnt auf
dem Hradschin."
"Wo auf dem Hradschin?"
Der Fährmann bekreuzigt sich:
"Das ist es ja eben! Er wohnt, wo kein lebender Mensch wohnen kann: an
der Mauer zur letzten Latern."
"Kennen Sie sein Haus, Herr - Herr - Tschamrda?"
"Nicht um die Welt möcht ich dort hinaufgehen!", protestiert der
Schieläugige. "Wofür halten Sie mich? Jesus, Maria und Josef!"
"Aber den Weg hinauf könnten Sie mir doch von weitem zeigen, Herr
Tschamrda?"
"Das schon", brummte der Fährmann. "Wenn Sie warten wollen bis 6 Uhr
früh; dann geh ich zur Moldau hinunter. Aber ich rat Ihnen ab! Sie stürzen
in den Hirschgraben und brechen Hals und Knochen! Heilige Muttergottes!"
Wir gehen zusammen durch den Morgen; frischer Wind weht vom Flusse her.
Ich fühle vor Erwartung kaum den Boden unter mir.
Plötzlich taucht das Haus in der Altschulgasse vor mir auf.
Jedes Fenster erkenne ich wieder: die geschweifte Dachrinne, das
Gitter, die fettig glänzenden Steinsimse - alles, alles!
"Wann ist dieses Haus abgebrannt?", frage ich den Schieläugigen. Es
braust mir in den Ohren vor Spannung.
"Abgebrannt? Niemals nicht!"
"Doch! Ich weiß es bestimmt."
"Nein."
"Aber ich weiß es doch! Wollen Sie wetten?"
"Wieviel?"
"Einen Gulden."
"Gemacht!" - Und Tschamrda holt den Hausmeister heraus. "Ist dieses
Haus jemals abgebrannt?"
"I woher denn!" Der Mann lacht. -
Ich kann und kann es nicht glauben.
"Schon siebzig Jahr' wohn ich drin," beteuert der Hausmeister, "ich
müßt's doch wahrhaftig wissen."
- - - Sonderbar, sonderbar! - - -
Der Fährmann rudert mich in seinem Kahn, der aus acht ungehobelten
Brettern besteht, mit komischen schiefen Zuckbewegungen über die Moldau. Die
gelben Wasser schäumen gegen das Holz. Die Dächer des Hradschins glitzern
rot in der Morgensonne. Ein unbeschreiblich feierliches Gefühl ergreift
Besitz von mir. Ein leise dämmerndes Gefühl wie aus einem früheren Dasein,
als sei die Welt um mich her verzaubert - eine traumhafte Erkenntnis, als
lebte ich zuweilen an mehreren Orten zugleich.
Ich steige aus.
"Wieviel bin ich schuldig, Herr Tschamrda?"
"Einen Kreuzer. Wenn Sie mitg'holfen hätten rudern, - hätt's zwei
Kreuzer 'kost."
Denselben Weg, den ich heute nacht im Schlaf schon einmal gegangen,
wandere ich wieder empor: die kleine, einsame Schloßstiege. Mir klopft das
Herz und ich weiß voraus: jetzt kommt der kahle Baum, dessen Äste über die
Mauer herübergreifen.
Nein: er ist mit weißen Blüten besät.
Die Luft ist voll von süßem Fliederhauch.
Zu meinen Füßen liegt die Stadt im ersten Licht wie eine Vision der
Verheißung.
Kein Laut. Nur Duft und Glanz.
Mit geschlossenen Augen könnte ich mich hinauffinden in die kleine,
kuriose Alchimistengasse, so vertraut ist mir plötzlich jeder Schritt.
Aber, wo heute nacht das Holzgitter vor dem weißschimmemden Haus
gestanden hat, schließt jetzt ein prachtvolles, gebauchtes, vergoldetes
Gitter die Gasse ab.
Zwei Eibenbäume ragen aus blühendem, niederem Gesträuch und flankieren
das Eingangstor der Mauer, die hinter dem Gitter entlang läuft.
Ich strecke mich, um über das Strauchwerk hinüberzusehen, und bin
geblendet von neuer Pracht:
Die Gartenmauer ist ganz mit Mosaik bedeckt. Türkisblau mit goldenen,
eigenartig gemuschelten Fresken, die den Kult des ägyptischen Gottes Osiris
darstellen.
Das Flügeltor ist der Gott selbst: ein Hermaphrodit aus zwei Hälften,
die die Türe bilden, - die rechte weiblich, die linke männlich. - Er sitzt
auf einem kostbaren, flachen Thron aus Perlmutter - im Halbrelief - und sein
goldener Kopf ist der eines Hasen. Die Ohren sind in die Höhe gestellt und
dicht aneinander, daß sie aussehen wie die beiden Seiten eines
aufgeschlagenen Buches. -
Es riecht nach Tau, und Hyazinthenduft weht über die Mauer herüber. - -
-
Lange stehe ich wie versteinert da und staune. Mir wird, als träte eine
fremde Welt vor mich, und ein alter Gärtner oder Diener mit silbernen
Schnallenschuhen, Jabot und sonderbar zugeschnittenem Rock kommt von links
hinter dem Gitter auf mich zu und fragt mich durch die Stäbe, was ich
wünsche.
Ich reiche ihm stumm den eingewickelten Hut Athanasius Pernaths hinein.
Er nimmt ihn und geht durch das Flügeltor.
Als es sich öffnet, sehe ich dahinter ein tempelartiges, marmornes Haus
und auf seinen Stufen:
ATHANASIUS PERNATH
und an ihn gelehnt:
MIRJAM,
und beide schauen hinab in die Stadt.
Einen Augenblick wendet sich Mirjam um, erblickt mich, lächelt und
flüstert Athanasius Pernath etwas zu.
Ich bin gebannt von ihrer Schönheit.
Sie ist so jung, wie ich sie heut nacht im Traum gesehen.
Athanasius Pernath dreht sich langsam zu mir, und mein Herz bleibt
stehen:
Mir ist, als sähe ich mich im Spiegel, so ähnlich ist sein Gesicht dem
meinigen.
Dann fallen die Flügel des Tores zu, und ich erkenne nur noch den
schimmernden Hermaphroditen.
Der alte Diener gibt mir meinen Hut und sagt - ich höre seine Stimme
wie aus den Tiefen der Erde -:
"Herr Athanasius Pernath läßt verbindlichst danken und bittet, ihn
nicht für ungastfreundlich zu halten, daß er Sie nicht einlädt, in den
Garten zu kommen, aber es ist strenges Hausgesetz so von alters her.
Ihren Hut, soll ich ausrichten, habe er nicht aufgesetzt, da ihm die
Verwechslung sofort aufgefallen sei.
Er wolle nur hoffen, daß der seinige Ihnen keine Kopfschmerzen
verursacht habe."