spielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?"
"Doch", sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmarkschein.
"Hoffentlich bringt dir das Glück." "Mir?" fragte sie.
"Uns", korrigierte er ihr zu Gefallen.
VIERZEHNTES KAPITEL
Der Weg ohne Tür
Fräulein Selows Zunge
Die Treppe mit den Taschendieben
In dieser Nacht träumte Fabian. Wahrscheinlich träumte er häufiger, als
er glaubte. Aber in dieser Nacht weckte ihn Cornelia, und so entsann er sich
des Traumes. Wer hätte ihn, vor Tagen noch, aus seinen Träumen wecken
sollen? Wer hätte ihn mitten in der Nacht ängstlich rütteln sollen, bevor er
neben Cornelia schlief? Er hatte mit vielen Frauen und Mädchen geschlafen,
das war richtig, aber neben ihnen?
Er lief im Traum durch eine endlose Straße. Die Häuser waren
unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder
Fenster noch Türen. Und der Himmel war weit entfernt und fremdartig wie
über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er
sah, die Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie zu Ende
gehen.
"Es hat keinen Zweck", sagte da eine Stimme. Er blickte sich um. Der
alte Erfinder stand hinter ihm, in der verschossenen Pelerine, mit dem
schlechtgerollten Schirm und dem ergrauten steifen Hut.
"Guten Tag, lieber Professor", rief Fabian. "Ich dachte, Sie wären im
Irrenhaus."
"Hier ist es ja", sagte der Alte und schlug mit der Schirmkrücke gegen
eines der Gebäude. Es hallte blechern, dann ging ein Tor auf, wo keines
war.
"Meine neueste Erfindung", sagte der Alte. "Gestatten Sie, lieber
Neffe, daß ich vorausgehe, ich bin hier zu Hause." Fabian folgte. In
der Portierloge hockte Direktor Breitkopf, hielt sich den Bauch und stöhnte:
"Ich kriege ein Kind. Die Sekretärin hat sich wieder mal nicht vorgesehen."
Dann schlug er sich dreimal auf die Glatze, und das klang laut wie ein Gong.
Der Professor steckte dem Direktor den schlechtgerollten Schirm tief in
den Schlund und spannte den Schirm auf. Breitkopfs Gesicht zerplatzte wie
ein Ballon.
"Verbindlichen Dank", sagte Fabian.
"Nicht der Rede wert", erwiderte der Erfinder. "Haben Sie meine
Maschine schon gesehen?" Er nahm Fabian an der Hand und führte ihn durch
einen Gang, in dem bläuliches Neonlicht brannte, ins Freie.
Eine Maschine, groß wie der Kölner Dom, türmte sich vor ihnen
auf. Halbnackte Arbeiter standen davor, mit Schaufeln bewaffnet, und
schippten Hunderttausende von kleinen Kindern in einen riesigen Kessel, in
dem ein rotes Feuer brannte.
"Kommen Sie an das andere Ende", sagte der Erfinder. Sie fuhren auf
laufenden Bändern durch den grauen Hof.
"Hier", sagte der alte Mann und zeigte in die Luft.
Fabian blickte empor. Gewaltige, glühende Bessemerbirnen senkten sich
nieder, kippten automatisch um und schüttelten ihren Inhalt auf einen
horizontalen Spiegel. Der Inhalt war lebendig. Männer und Frauen fielen auf
das glitzernde Glas, stellten sich gerade und starrten wie gebannt auf ihr
handgreifliches und doch unerreichbares Abbild. Manche winkten in die Tiefe
hinunter, als kennten sie sich. Einer zog eine Pistole aus der Tasche und
schoß. Er traf, obwohl er, gestrichen Korn, seinem Bild ins Herz
gezielt hatte, seine wirkliche große Zehe und verzog das Gesicht. Ein
anderer drehte sich im Kreise. Offensichtlich wollte er seinem Abbild die
Kehrseite zuwenden, der Versuch mißlang.
"Hunderttausend am Tag", erläuterte der Erfinder. "Dabei habe ich die
Arbeitszeit verkürzt und die Fünftagewoche eingeführt."
"Lauter Verrückte?" fragte Fabian.
"Das ist eine Frage der Terminologie", antwortete der Professor. "Einen
Moment, die Kupplung versagt." Er trat an die Maschine heran und stocherte
mit seinem Schirm in einer Öffnung. Plötzlich verschwand der Schirm, dann
verschwand die Pelerine, sie zog den alten Mann hinter sich her. Er war
fort. Seine Maschine hatte ihn verschluckt.
Fabian fuhr auf dem laufenden Band zurück, quer durch den grauen Hof.
"Es ist ein Unglück passiert!" schrie er einem der halbnackten Arbeiter zu.
Da purzelte ein Kind aus dem Kessel. Es trug eine Hornbrille und hielt einen
schlechtgerollten Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die
Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück. Fabian fuhr von
neuem den Hof entlang und wartete unter den schwankenden Bessemerbirnen,
daß sein alter Freund, erneut verwandelt, wiederkäme.
Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selbst, ein zweiter Fabian,
aber mit Pelerine, Schirm und Hut, aus einem der gewaltigen Kippkästen,
stellte sich zu den anderen Figuren und starrte, gleich ihnen, auf die
Spiegelbilder. An seinen Sohlen, mit dem Kopf nach unten, hing sein Abbild,
ein dritter Fabian, im Spiegel und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins
Gesicht. Dieser zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Maschine und
sagte: "Mechanische Seelenwanderung, Patent Kollrepp." Dann schritt er auf
den wirklichen Fabian zu, der im Hof stand, ging mitten in ihn hinein und
war nicht mehr da.
"Wie angegossen", gestand Fabian, nahm dem Maschinenmenschen, der ihn
unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog die Pelerine zurecht und war wieder
das einzige Exemplar seiner selbst.
Er blickte zu dem glänzenden Spiegel hinüber. Die Menschen versanken
plötzlich darin wie in einem durchsichtigen Sumpf. Sie rissen die Münder
auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber es war nichts zu hören. Sie sanken
völlig unter die Spiegelfläche. Ihre Abbilder flohen, wie Fische, mit dem
Kopf voran, wurden immer kleiner und verschwanden ganz. Nun standen die
wirklichen Menschen unten, und es war, als seien sie in Bernstein gefangen.
Fabian trat ganz nahe. Das war kein Spiegelbild mehr, was er sah. Über den
untergegangenen Wesen lag bloß eine Glasplatte, und die Leute lebten
weiter. Fabian kniete nieder und blickte hinab.
Fette, nackte Frauen, mit Sorgenfalten quer überm Leib, saßen an
Tischen und tranken Tee. Sie trugen durchbrochene Strümpfe und im Genick
geflochtene Hütchen. Armbänder und Ohrgehänge blitzten. Eines der alten
Weiber hatte sich einen goldenen Ring durch die Nase gezogen. An anderen
Tischen saßen dicke Männer, halbnackt, behaart wie Gorillas, mit
Zylindern, manche in lila Unterhosen, alle mit großen Zigarren
zwischen den dicken Lippen. Die Männer und Frauen schauten gierig auf einen
Vorhang. Er wurde zur Seite gezogen, und junge geschminkte Burschen in
enganliegenden Trikots stolzierten wie gezierte Mannequins über einen
erhöhten Laufsteg. Den Jünglingen folgten, auch in Trikots, junge Mädchen,
sie lächelten affektiert und brachten alles, was an ihnen rund war,
angestrengt zur Geltung. Fabian erkannte einige, die Kulp, die Bildhauerin,
die Selow, auch Paula aus Haupts Festsälen war dabei.
Die alten Frauen und Männer preßten die Operngläser an die Augen,
sprangen auf, stolperten über Stühle und Tische, drängten dem Laufsteg zu,
schlugen einander, um vorwärts zu kommen, und wieherten wie geile Pferde.
Die dicken mit Schmuck beladenen Weiber rissen junge Burschen vorn Steg,
warfen sie heulend auf die Erde, knieten flehend nieder, spreizten die
fetten Beine, zerrten sich Brillanten von den Armen und Fingern und aus den
Ohrlappen und hielten sie bettelnd den verhurt lächelnden Gestalten
entgegen. Die alten Männer griffen mit ihren Affenarmen nach den Mädchen,
auch nach Jünglingen, und umarmten, blaurot vor Aufregung, wen sie
faßten. Unterhosen, Krampfadern, Sockenhalter, zerrissene farbige
Trikots, fette und faltige Gliedmaßen, verzerrte Visagen, grinsende
Pomadenmünder, braune schlanke Arme, im Krampf zuckende Füße füllten
den Boden aus. Es war, als läge ein lebendiger Perserteppich auf der Erde.
"Deine Cornelia ist auch dabei", sagte Frau Irene Moll. Sie saß neben
ihm, und sie naschte aus einer großen Bonbontüte kleine junge Männer.
Sie riß ihnen zuerst die Kleider ab. Das sah aus, als ob sie in Papier
gewickelte Napolitains schälte. Fabian suchte Cornelia. Sie stand, während
sich alle anderen wild verknäuelt am Boden wälzten, allein auf dem Laufsteg
und wehrte sich gegen einen dicken brutalen Mann, der ihr mit der einen Hand
den Mund aufsperrte und mit der anderen seine brennende Zigarre, mit der
Glut voran, in den Mund stoßen wollte. "Sträuben nützt bei dem
nichts", meinte die Moll und kramte in ihrer Tüte. "Das ist Makart, ein
Filmfabrikant, Geld wie Heu. Seine Frau hat sich vergiftet." Cornelia wankte
und stürzte neben Makart in den Tumult.
"Spring ihr doch nach", sagte die Moll. "Aber du hast Angst, das Glas
zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du hältst die Welt für eine
Schaufensterauslage." Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber jetzt sah
Fabian den Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke Bein war eine
Prothese. Er stand auf einem Himmelbett und fuhr wie ein Wellenreiter über
das Gezappel der Menschen. Er schwang seinen Krückstock und schlug der Kulp,
die sich an dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände, bis das
Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
Wilhelmy befestigte eine Schnur am Stock, band einen Geldschein ans
Ende der Schnur und warf diese Angel aus. Die Menschen unter ihm sprangen
wie Fische in die Luft, schnappten nach der Banknote, fielen ermattet zurück
und schnellten wieder hoch. Da! Eine Frau hielt den Schein im Mund. Es war
die Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken hatte ihre Zunge durchbohrt.
Wilhelmy zog die Schnur ein, die Selow näherte sich, verzerrten Gesichts,
dem Bett. Aber hinter ihr tauchte die Bildhauerin auf, umschlang die
Freundin mit beiden Armen und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt weit
aus dem Mund. Wilhelmy und die Bildhauerin suchten das Mädchen an sich zu
ziehen, jeder auf seine Seite. Die Zunge wurde immer länger, lang wie ein
rotes Gummiband, und sie war zum Reißen gespannt. Wilhelmy rang nach
Luft und lachte.
"Wunderbar", rief Irene Moll. "Das grenzt an Tauziehen. Wir leben im
Zeitalter des Sports." Sie zerknüllte die leere Tüte und sagte: "Jetzt
freß ich dich." Sie riß ihm die Pelerine herunter. Ihre Finger
griffen wie Scheren ineinander und zerschnitten Fabians Anzug. Er schlug
ihr mit der Schirmkrücke auf den Kopf. Sie taumelte und ließ ihn los.
"Ich liebe dich doch", flüsterte sie und weinte. Ihre Tränen drangen wie
kleine Seifenblasen aus ihren Augenwinkeln, wurden immer größer und
stiegen schillernd in die Luft.
Fabian erhob sich und ging weiter.
Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzählige Treppenstufen
führten von dem einen Ende des Saales hinauf zum anderen Ende. Auf jeder
Stufe standen Leute. Sie blickten interessiert nach oben und griffen
einander in die Taschen. Jeder bestahl jeden. Jeder wühlte heimlich in den
Taschen des Vordermannes, und während er das tat, wurde er vom Hintermann
beraubt. Es war ganz ruhig im Saal. Trotzdem war alles in Bewegung. Man
stahl emsig, und man ließ sich bestehlen. Auf der untersten Stufe
stand ein kleines zehnjähriges Mädchen und zog dem Vordermann einen bunten
Aschenbecher aus dem Mantel. Plötzlich war Labude auf der obersten Stufe.
Er hob die Hände, blickte die Treppe hinunter und rief: "Freunde!
Mitbürger! Die Anständigkeit muß siegen!"
"Aber natürlich!" brüllten die anderen im Chor und kramten einander in
den Taschen.
"Wer für mich ist, hebe die Hand!" schrie Labude. Die anderen hoben die
Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderen stahl er weiter. Nur das kleine
Mädchen auf der untersten Stufe hob beide Hände.
"Ich danke euch", sagte Labude, und seine Stimme klang gerührt. "Das
Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergeßt diese Stunde nicht!"
"Du bist ein Narr!" rief Cornelia, stand neben Labude und zog einen
großen hübschen Mann hinter sich her.
"Meine besten Freunde sind meine größten Feinde", sagte Labude
traurig. "Mir ist es gleich. Die Vernunft wird siegen, auch wenn ich
untergehe."
Da fielen Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fenster und Dächer.
Und überall standen finstere Gestalten mit Revolvern und Maschinengewehren.
Die Menschen auf der Treppe warfen sich lang hin, aber sie stahlen
weiter. Die Schüsse knatterten. Die Menschen starben, die Hände in fremden
Taschen. Die Treppe lag voller Leichen.
"Um die ist es nicht schade", sagte Fabian zu dem Freund. "Nun komm!"
Aber Labude blieb in dem Kugelregen stehen. "Um mich auch nicht mehr",
flüsterte er, drehte sich nach den Fenstern und Dächern um und drohte ihnen.
Aus den Dachluken und aus den Giebeln fielen Schüsse in die Tiefe. Aus den
Fenstern hingen Verwundete. Auf einer Giebelkante rangen zwei athletische
Männer. Sie würgten und bissen einander, bis der eine taumelte und beide
abstürzten. Man hörte den Aufschlag der hohlen Schädel. Flugzeuge
schwirrten unter der Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die
Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus den Fenstern.
"Warum machen das die Leute?" Das kleine Mädchen aus dem Kaufhaus
faßte Fabians Hand.
"Sie wollen neue Häuser bauen", erwiderte er. Dann nahm er das Kind auf
den Arm und stieg, über die Toten kletternd, die Stufen hinunter. Auf halbem
Weg begegnete er einem kleinen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen
Block und rechnete mit den Lippen. "Was machen Sie da?" fragte Fabian.
"Ich verkaufe die Restbestände", war die Antwort. "Pro Leiche
dreißig Pfennig, für wenig getragene Charaktere fünf Pfennig extra.
Sind Sie verhandlungsberechtigt?"
"Gehen Sie zum Teufel", schrie Fabian.
"Später", sagte der kleine Mann und rechnete weiter. Am Fuß der
Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin.
"Nun geh nach Hause", meinte er. Das Kind lief davon. Es hüpfte auf
einem Bein und sang.
Er stieg wieder die Stufen empor. "Ich verdiene keinen Pfennig",
murmelte der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam. Fabian beeilte sich.
Oben brachen die Häuser zusammen. Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen.
Glühende Balken neigten sich und sanken um, als tauchten sie in Watte. Noch
immer ertönten vereinzelt Schüsse. Menschen mit Gasmasken krochen durch die
Trümmer. Sooft sich zwei begegneten, hoben sie Gewehre, zielten und
schössen. Fabian sah sich um. Wo war Labude?
"Labude!" schrie er. "Labude!"
"Fabian!" rief eine Stimme. "Fabian!"
"Fabian!" rief Cornelia und rüttelte ihn. Er erwachte. "Warum rufst du
Labude?" Sie strich ihm über die Stirn.
"Ich habe geträumt", sagte er. "Labude ist in Frankfurt."
"Soll ich Licht machen?" fragte sie.
"Nein, schlaf rasch wieder ein, Cornelia, du mußt morgen hübsch
aussehen. Gute Nacht."
"Gute Nacht", sagte sie.
Und dann lagen beide noch lange wach. Jeder wußte es vom anderen,
aber sie schwiegen.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Ein junger Mann, wie er sein soll
Vom Sinn der Bahnhöfe
Cornelia schreibt einen Brief
Am nächsten Morgen saß er, als Cornelia ins Büro ging, am offenen
Fenster. Sie hatte eine Mappe unterm Arm und schritt eifrig aus. Sie hatte
Arbeit. Sie verdiente Geld. Er saß am Fenster und ließ sich von
der Sonne kitzeln. Sie schien warm, als sei die Welt in bester Ordnung,
nichts brachte sie aus der Fassung.
Cornelia war schon weit. Er durfte sie nicht zurückrufen. Wenn er es
getan und wenn er, aus dem Fenster gebeugt, gesagt hätte: "Komm wieder
herauf, ich will nicht, daß du arbeitest, ich will nicht, daß du
zu Makart gehst!", hätte sie geantwortet: "Was fällt dir ein? Gib mir Geld
oder halte mich nicht auf."
Er konnte sich nicht anders helfen, er streckte der Sonne die Zunge
heraus.
"Was machen Sie denn da?" fragte Frau Hohlfeld. Sie war unbemerkt
eingetreten.
Fabian sagte abweisend: "Ich fange Fliegen. Sie sind heuer groß
und knusprig."
"Gehen Sie nicht ins Geschäft?"
"Ich bin in den Ruhestand getreten. Vom nächsten Ersten ab erscheine
ich im Defizit des Finanzministeriums, als unvorhergesehene Mehrausgabe." Er
schloß das Fenster und setzte sich aufs Sofa.
"Stellungslos?" fragte sie.
Er nickte und holte Geld aus der Tasche. "Hier sind die achtzig Mark
für den nächsten Monat."
Sie nahm rasch das Geld und meinte: "Das war nicht so eilig, Herr
Fabian."
"Doch." Er legte die letzten Scheine und Münzen übersichtlich auf den
Tisch und zählte, was ihm blieb. "Wenn ich mein Kapital auf die Bank bringe,
krieg ich drei Mark Zinsen im Jahr", sagte er. "Das lohnt sich kaum."
Die Wirtin wurde gesprächig. "In der Zeitung schlug gestern ein
Ingenieur vor, man solle den Spiegel des Mittelmeeres um zweihundert Meter
senken, dann kämen große Ländereien ans Licht, wie vor der Eiszeit,
und man könne sie besiedeln und Millionen von Menschen darauf ernähren.
Außerdem sei, mit Hilfe kurzer Dämme, eine durchgehende
Eisenbahnverbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!"
Frau Hohlfeld war noch jetzt von dem Vorschlag des Ingenieurs
eingenommen und sprach voller Feuer.
Fabian pochte auf die Armlehne des Sofas, daß der Staub tanzte.
"Na also!" rief er. "Auf, ans Mittelmeer! Laßt uns seinen Spiegel
senken! Kommen Sie mit, Frau Hohlfeld?"
"Gern. Ich war seit meiner Hochzeitsreise nicht mehr dort. Eine
herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Paris liegt übrigens nicht
am Mittelmeer." Sie gab dem Gespräch eine Wendung: "Da war das Fräulein
Doktor wohl sehr traurig?"
"Schade, daß sie schon fort ist, sonst hätten wir sie fragen
können."
"Ein bezauberndes Mädchen, und so vornehm, ich finde, sie ähnelt der
Königin von Rumänien, als sie noch jung war."
"Erraten." Fabian erhob sich und brachte die Wirtin zur Tür. "Es soll
eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht weitersagen."
Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und
wartete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein
Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu ihm gesagt
hatte: "Wenn Sie mich mal brauchen, melden Sie sich." Fabian blätterte
gedankenlos in einer der Zeitschriften, die den Tisch des Warteraums
zierten, und entsann sich des Gesprächs. Zacharias hatte damals der
Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachstum der christlichen Kirche
nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert
zugestimmt; er hatte auch Wells' Forderung verfochten, daß es an der
Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife
und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst
von Idealen zu stellen. Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des
Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These; die Eignung des
Propagandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers zum
Propagandisten stünden außerdem in Frage; Vernunft könne man nur
einer beschränkten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon
vernünftig. Zacharias und er hatten sich förmlich gestritten, bis sie
fanden, der Meinungsstreit trage allzu akademischen Charakter, denn beide
möglichen Resultate - der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen
Aufklärung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe keiner Geld.
Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge. Papphülsen fielen
klappernd aus Metallröhren. Das Telefon des Aufsichtsbeamten klingelte
fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer
ins andere. Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger
Mitarbeiter, die Treppe hinunter.
"Herr Zacharias läßt bitten."
Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias gab Fabian temperamentvoll
die Hand. Es war die hervorstechendste Eigenschaft dieses jungen Mannes,
alles, was er tat, außerordentlich lebhaft zu besorgen. Er kam aus der
Begeisterung nicht heraus. Ob er sich nun die Zähne putzte oder ob er
debattierte, ob er Geld ausgab oder ob er seinen Vorgesetzten Vorschläge
machte, stets riß er sich ein Bein aus. Wer in seine Nähe kam, wurde
von dieser Humorlosigkeit infiziert. Plötzlich wurde ein Gespräch über das
Binden von Krawatten zum aufregendsten Thema der Gegenwart. Und die
Vorgesetzten merkten, wenn sie mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie
ungeheuer wichtig ihr Beruf, ihr Verlag und ihr Posten eigentlich waren.
Die Karriere des Mannes war nicht aufzuhalten. Daß er selbst
Wesentliches leistete, war unwahrscheinlich. Er diente dem Betrieb als
Katalysator, den Menschen seiner Umgebung als Stimulans. Er wurde
unentbehrlich und hatte jetzt schon, mit achtundzwanzig Jahren, ein
Monatsgehalt von zweitausendfünfhundert Mark. Fabian erzählte, was es zu
erzählen gab.
"Frei ist nichts", sagte Zacharias, "und ich wäre Ihnen so gern
gefällig. Außerdem bin ich überzeugt, daß wir beide glänzend
miteinander auskämen. Was machen wir bloß?" Er preßte die Hände
an die Schläfen wie ein Wahrsager dicht vor der Erleuchtung. "Was halten Sie
von Folgendem: Wenn ich Sie bei mir anstelle, als privaten Mitarbeiter,
den ich aus eigener Tasche bezahle? Ich könnte eine Kraft wie Sie gut
gebrauchen. Man erwartet hier im Hause pro Tag ein Dutzend Anregungen von
mir. Bin ich ein Automat? Was kann ich dafür, daß den anderen noch
weniger einfällt? Wenn das so weitergeht, läuft sich mein Gehirn einen Wolf.
Ich habe seit kurzem ein kleines nettes Auto, Steyr, Sechszylinder,
Spezialkarosserie. Wir könnten jeden Tag ein paar Stunden ins Grüne fahren
und Eier legen. Ich chauffiere gern, es beruhigt die Nerven. Dreihundert
Mark würde ich für Sie lockermachen. Und sobald hier ein Posten frei wird,
hätten sie ihn. Na?" Ehe Fabian antworten konnte, fuhr der andere fort:
"Nein, es geht nicht. Man würde sagen, Zacharias hält sich einen
weißen Neger. Ich bin vor keinem dieser Kerle sicher. Sie stehen alle
mit der Axt hinter der Tür, um mir eins über den Kürbis zu hauen. Was machen
wir bloß? Fällt Ihnen nichts ein?"
Fabian sagte: "Ich könnte mich auf den Potsdamer Platz stellen, mit
einem großen Schild vorm Bauch, auf dem etwa stünde: "Dieser junge
Mann macht augenblicklich nichts, aber probieren Sie's, und Sie werden
sehen, er macht alles." Ich könnte den Text auch auf einen großen
Luftballon malen."
"Wenn Sie den Vorschlag ernst meinten, wäre er gut!" rief Zacharias.
"Aber er ist nichts wert, weil Sie nicht daran glauben. Sie nehmen nur die
wirklich ernsten Dinge ernst, und vielleicht nicht einmal die. Es ist ein
Jammer. Mit Ihrer Begabung wäre ich heute leitender Direktor." Zacharias
wandte bei Leuten, die ihm überlegen waren, einen höchst raffinierten Trick
an: er gab diese Überlegenheit zu, er bestand geradezu auf ihr.
"Was nützt es mir, daß ich begabter bin?" fragte Fabian betrübt.
Diese rhetorische Anfrage hatte Zacharias nicht erwartet. Wenn er selber
offen war, genügte das. Statt dessen kam einer des Wegs, bat um Rat und
wurde obendrein vorlaut.
"Es ist schade, daß Sie mir die Bemerkung übelnehmen", sagte
Fabian. "Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin auf meine Talente nicht
eingebildet, sie reichen glatt zum Verhungern. Und so schlecht, daß
ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir erst in vierzehn Tagen."
Zacharias stand auf und begleitete den Besucher betont bis zur Treppe.
"Rufen Sie mich morgen mal an, gegen zwölf Uhr, nein, da habe ich eine
Konferenz, sagen wir nach zwei. Vielleicht fällt mir inzwischen was ein.
Servus."
Fabian hätte gern Labude angerufen, doch der war in Frankfurt. Er hätte
ihm beileibe nichts von seinen Sorgen erzählt. Sorgen hatte Labude selber.
Die bekannte Stimme wollte er hören, weiter nichts. Zwischen Freunden
konnten Gespräche übers Wetter Wunder wirken. Die Mutter war wieder fort.
Der ulkige alte Erfinder war, samt Pelerine, auf dem Weg ins Irrenhaus.
Cornelia kaufte sich einen neuen Hut, um ein paar Filmleuten zu gefallen.
Fabian war allein. Warum konnte man nicht, bis auf Widerruf, vor sich selber
davonlaufen? Obwohl er ziellos durch die City wanderte, stand er wenig
später vor dem Haus, in dem Cornelia angestellt war. Er setzte, ärgerlich
über sich, den Weg fort und ertappte sich dabei, daß er in jedes
Hutgeschäft schielte. Saß sie jetzt noch im Büro? Probierte sie
bereits Hüte und Jumper?
Am Anhalter Bahnhof kaufte er eine Zeitung. Der Mann, der im Kiosk
saß, sah gemütlich aus. "Könnten Sie jemanden brauchen, der Ihnen
hilft?" fragte Fabian.
"Nächstens lerne ich Strümpfe stricken", sagte der Mann, "vor einem
Jahr hatte ich doppelten Umsatz, und auch der war nicht üppig. Die Leute
lesen die Zeitungen neuerdings nur noch beim Friseur oder im Café. Bäcker
hätte man werden sollen. Das Brot kriegen die Leute beim Friseur noch nicht
umsonst."
"Neulich hat jemand vorgeschlagen, das Brot von Staats wegen ins Haus
zu liefern, genau wie das Leitungswasser", erzählte Fabian. "Passen Sie
auf, eines Tages schützt nicht mal das Brotbacken vorm Verhungern."
"Wollen Sie eine Stulle haben?" fragte der Mann im Kiosk.
"Eine Woche reicht's schon noch", sagte Fabian, bedankte sich und ging
zum Bahnhof hinüber. Er studierte den Fahrplan. Sollte er, vom letzten Geld,
ein Billett kaufen und zur Mutter kutschieren? Aber vielleicht wußte
Zacharias morgen einen Ausweg? Als er aus dem Bahnhof trat und wieder diese
Straßenfluchten und Häuserblocks vor sich sah, dieses hoffnungslose,
unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindlig. Er lehnte sich neben ein paar
Gepäckträgern an die Wand und schloß die Augen. Doch nun quälte ihn
der Lärm. Ihm war, als führen die Straßenbahnen und Autobusse mitten
durch seinen Magen. Er kehrte wieder um, stieg die Treppe zum Wartesaal
hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte Bank. Eine halbe Stunde später
war ihm wohler. Er ging zur Straßenbahnhaltestelle, fuhr nach Hause,
warf sich aufs Sofa und schlief sofort ein.
Abends erwachte er. Die Vorsaaltür schlug laut zu. Kam Cornelia? Nein,
jemand lief rasch die Treppe hinunter. Er ging ins andere Zimmer hinüber und
erschrak.
Der Schrank stand offen. Er war leer. Die Koffer fehlten. Fabian machte
Licht, obwohl es erst dämmerte. Auf dem Tisch, von der Vase beschwert, in
der Blumen aufs Wegwerfen warteten, lag ein Brief. Er nickte, nahm den Brief
und ging in sein Zimmer zurück.
"Lieber Fabian", schrieb Cornelia, "ist es nicht besser, ich gehe zu
früh als zu spät? Eben stand ich neben Dir am Sofa. Du schliefst, und Du
schläfst auch jetzt, während ich Dir schreibe. Ich bliebe gern, aber stell
Dir vor, ich bliebe! Ein paar Wochen noch, und Du wärst recht unglücklich.
Dich bedrückt nicht das Gewicht der Not, sondern der Gedanke, daß Not
so wichtig werden kann. Solange Du allein warst, konnte Dir nichts
geschehen, was auch geschah. Es wird wieder werden, wie es war. Bist Du sehr
traurig?
Sie wollen mich im nächsten Film herausstellen. Morgen unterschreibe
ich den Kontrakt. Makart hat mir zwei Zimmer gemietet. Es ist nicht zu
umgehen. Er sprach darüber, als handle es sich um einen Zentner Briketts.
Fünfzig Jahre ist er alt, und er sieht aus wie ein zu gut angezogener
Ringkämpfer im Ruhestand. Mir ist, als hätte ich mich an die Anatomie
verkauft. Wenn ich noch einmal in Dein Zimmer käme und Dich weckte? Ich
lasse Dich schlafen. Ich werde nicht zugrunde gehen. Ich werde mir
einbilden, der Arzt untersucht mich. Er mag sich mit mir beschäftigen, es
muß sein. Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig
macht. Und wir wollen doch heraus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich
gehe jetzt von Dir fort, um mit Dir zusammenzubleiben. Wirst Du mich
liebbehalten? Wirst Du mich noch anschauen wollen und umarmen können trotz
dem anderen? Morgen nachmittag werde ich, von vier Uhr ab, im Café
Schottenhaml auf Dich warten. Was soll aus mir werden, wenn Du nicht kommst?
Cornelia."
Fabian saß ganz still. Es wurde immer finsterer. Das Herz tat
weh. Er hielt die Knäufe des Sessels umklammert, als wehre er sich gegen
Gestalten, die ihn fortziehen wollten. Er nahm sich zusammen. Der Brief lag
unten auf dem Teppich und glänzte im Dunkel.
"Ich wollte mich doch ändern, Cornelia!" sagte Fabian.
SECHZEHNTES KAPITEL
Fabian fährt auf Abenteuer
Schüsse am Wedding
Onkel Felles Nordpark
Am selben Abend fuhr er mit der Untergrundbahn in den Norden hinauf. Er
stand am Fenster des Wagens und blickte unverwandt in den schwarzen Schacht,
in dem manchmal kleine Lampen vorbeizogen. Er starrte auf die belebten
Bahnsteige der unterirdischen Bahnhöfe. Er starrte, wenn sich der Zug aus
dem Schacht emporhob, auf die grauen Häuserzeilen, in düstere
Querstraßen und in erleuchtete Zimmer hinein, wo fremde Menschen rund
um den Tisch saßen und auf ihr Schicksal warteten. Er starrte auf das
glitzernde Gewirr der Eisenbahngeleise hinunter, über denen er dahinfuhr;
auf die Fernbahnhöfe, in denen die roten Schlafwagenzüge ächzend an die
weite Reise dachten; auf die stumme Spree, auf die von grellen
Leuchtschriften belebten Theatergiebel und auf den sternlosen violetten
Himmel über der Stadt.
Fabian sah das alles, als führen nur seine Augen und Ohren durch
Berlin, und er selber sei weit, weit weg. Sein Blick war gespannt, aber das
Herz war besinnungslos. Er hatte lange in seinem möblierten Zimmer gesessen.
Irgendwo in dieser unabsehbaren Stadt lag jetzt Cornelia mit einem
fünfzigjährigen Mann im Bett und schloß ergeben die Augen. Wo war sie?
Er hätte die Wände von allen Häusern reißen mögen, bis er die zwei
fand. Wo war Cornelia? Warum verdammte sie ihn zur Untätigkeit? Warum tat
sie das in einem der wenigen Augenblicke, wo es ihn zu handeln trieb? Sie
kannte ihn nicht. Sie hatte lieber falsch gehandelt, als ihm zu sagen:
"Handle du richtig!" Sie glaubte, er könne eher tausend Schläge erdulden,
als selber einmal den Arm erheben. Sie wußte nicht, daß er sich
danach sehnte, Dienst zu tun und Verantwortung zu tragen. Wo aber waren die
Menschen, denen er so gern gedient hätte? Wo war Cornelia? Unter einem
dicken alten Mann lag sie und ließ sich zur Hure machen, damit der
liebe Fabian Lust und Zeit zum Nichtstun hatte. Sie schenkte ihm
großzügig jene Freiheit wieder, von der sie ihn befreit hatte. Der
Zufall hatte ihm einen Menschen in die Arme geführt, für den er endlich
handeln durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte,
verfluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und nun war beiden
nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die Arbeit Sinn erhielt, weil er
Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil er die Arbeit verlor, verlor
er Cornelia. Er hatte, durstig, ein Gefäß in der Hand gehalten und es
nicht tragen mögen, weil es leer war. Da, als er es kaum noch hoffte, war
das Schicksal gnädig gewesen und hatte das Gefäß gefüllt. Er hatte
sich darübergeneigt und endlich trinken wollen. "Nein", hatte da das
Schicksal gesagt, "nein, du hieltest ja den Becher nicht gern", und das
Gefäß war ihm aus den Händen geschlagen worden, und das Wasser war
über seine Hände zur Erde geflossen.
Hurra! Nun war er frei. Er lachte so laut und böse, daß die
anderen Fahrgäste, leicht verstimmt, von ihm abrückten. Er stieg aus. Es war
ja gleichgültig, wo er ausstieg, er war frei, Cornelia erschlief sich,
weiß der Teufel wo, eine Karriere oder eine Verzweiflung oder beides.
Auf der Chausseestraße, am Trakt der Polizeikasernen, sah er in den
geöffneten Toren grüne Autos, Scheinwerfer blitzten. Polizisten kletterten
auf die Wagen und standen, entschlossen, in stummer Kolonne. Einige Autos
ratterten in nördlicher Richtung davon. Fabian folgte ihnen. Die
Straße war voller Menschen. Zurufe flogen den Wagen nach. Zurufe, als
wären es schon Steine. Die Mannschaften blickten geradeaus.
Am Weddingplatz riegelten sie die Reinickendorfer Straße ab, auf
der Arbeitermassen näherzogen. Berittene Polizei wartete hinter der
Sperrkette darauf, zur Attacke befohlen zu werden. Uniformierte Proletarier
warteten, den Sturmriemen unterm Kinn, auf proletarische Zivilisten. Wer
trieb sie gegeneinander? Die Arbeiter waren nahe, ihre Lieder wurden immer
lauter, da ging die Polizei schrittweise vor, ein Meter Abstand von Mann zu
Mann. Der Gesang wurde von wütendem Gebrüll abgelöst. Man spürte, ohne die
Vorgänge sehen zu können, am Lärm, und wie er wuchs, daß die Arbeiter
und die Polizei dort vorn gleich aufeinanderstoßen würden.
Eine Minute später bestätigten Aufschreie die Vermutung. Man war
zusammengetroffen, die Polizei schlug zu. Jetzt setzten sich die Pferde
schaukelnd in Bewegung und trabten in das Vakuum hinein, die Hufe klapperten
übers Pflaster. Von vorn ertönte ein Schuß. Scheiben zersprangen. Die
Pferde galoppierten. Die Menschen auf dem Weddingplatz wollten nachdrängen.
Eine zweite Polizeikette sperrte den Zugang zur Reinickendorfer
Straße, rückte langsam vor und säuberte den Platz. Steine flogen.
Ein Wachtmeister erhielt einen Messerstich. Die Polizei hob die
Gummiknüppel und ging zum Laufschritt über. Auf drei Lastautos kam
Verstärkung, die Mannschaften sprangen von den langsamfahrenden Wagen
herunter. Die Arbeiter ergriffen die Flucht, an den äußersten Rändern
des Platzes und in den Zugangsstraßen machten sie wieder halt. Fabian
drängte sich durch die lebendige Mauer und ging seiner Wege. Der Lärm
entfernte sich. Drei Straßen weiter schien es schon, als herrsche
überall Ruhe und Ordnung. Ein paar Frauen standen in einem Haustor. "He,
Sie!" sagte die eine. "Stimmt das, am Wedding gibt's Keile?"
"Sie nehmen einander Maß", antwortete er und ging vorbei.
"Ich lasse mich fressen, Franz ist wieder mittendrin", rief die Frau.
"Na, komm du nur nach Hause!" Mitten in der Straßenfront, unvermutet
zwischen alten, soliden Mietskasernen, lag ein Rummelplatz, der Onkel Pelles
Nordpark hieß. Leierkastenmusik überspülte die Gespräche der Mädchen,
die, Arm in Arm, in langer Kette vor dem Eingang bummelten. Verwegen tuende
Burschen mit schiefgezogenen Mützen strichen entlang und riefen Frechheiten.
Die Mädchen kicherten geschmeichelt und gaben unmißverständlich
Antwort.
Fabian trat durch das Tor. Das Gelände glich einem Trockenplatz.
Azetylenflammen zuckten und ließen die Wege und Buden halb finster.
Der Boden war klebrig und von Grasstoppeln bewachsen. Das Karussell war,
wegen mangelnder Nachfrage, mit Zeltbahnen verhangen. Männer in derben
Joppen, alte Frauen mit Kopftüchern, Kinder, die längst hätten im Bett
liegen müssen, trotteten den Budenweg entlang.
Ein Glücksrad rasselte. Die Menschen standen dicht zusammengedrängt,
die Augen hingen an der rotierenden Scheibe. Sie lief langsamer, überwand
noch ein paar Nummern, hielt still. "Fünfundzwanzig!" schrie der Ausrufer.
"Hier, hier!" Eine alte Frau, mit der Brille auf der Nase, hob ihr Los.
Man reichte ihr den Gewinn. Was hatte sie gewonnen? Ein Pfund Würfelzucker.
Wieder schnurrte das Rad. "Siebzehn!"
"Hallo, das bin ich!" Ein junger Mann schwenkte sein Los. Er bekam ein
Viertelpfund Bohnenkaffee. "Was für Muttern", sagte er zufrieden und zog ab.
"Und jetzt folgt die große Prämie! Der Gewinner darf sich was
aussuchen!" Das Rad schwankte, tickte, stand still, nein, es rückte noch
eine Nummer weiter.
"Neun!"
"Mensch, hier!" Ein Fabrikmädchen klatschte in die Hände. Sie las die
Lotteriebestimmungen. "Der Hauptgewinn besteht aus fünf Pfund prima
Weizenmehl oder einem Pfund Butter oder dreiviertel Pfund Bohnenkaffee oder
eindreiviertel Pfund magerem Speck." Sie verlangte ein Pfund Butter.
"Allerhand für einen Groschen", rief sie. "Das kann man mitnehmen."
"Es folgt die nächste Ziehung!" brüllte der Ausrufer. "Wer hat noch
nicht, wer will noch mal? Sie da, Großmutter! Hier ist das Monte
Carlo der armen Luder! Keine Mark, keine halbe Mark, sondern einen
Groschen!" Gegenüber war ein ähnliches Unternehmen. Aber die Tombola
bestand aus Fleisch und Wurst, und das Los kostete doppelt soviel.
"Der Hauptgewinn, meine Herrschaften, der Hauptgewinn besteht diesmal
aus einer halben Hamburger Gans!" kreischte eine Schlächtersgattin. "Zwanzig
Pfennige, nur Mut, mein Volk!" Ihr Gehilfe schnitt mit einem Riesenmesser
dünne Scheiben von einer Schlackwurst und verteilte an die Loskäufer
Kostproben. Den anderen lief das Wasser im Munde zusammen. Sie gruben zwei
Groschen aus dem Portemonnaie und griffen zu.
"Wie denkst du über Gänsebraten?" fragte einer ohne Schlips und Kragen
eine Frau.
"Schade ums Geld", sagte sie. "Wir haben kein Glück, Willem."
"Laß man", meinte er, "es ist manchmal komisch." Er nahm ein Los,
steckte der Frau die Scheibe Wurst, die er zugekriegt hatte, in den Mund und
blickte erwartungsvoll auf das Rad.
"Die Ziehung nimmt hiermit ihren Anfang", kreischte die
Schl