on antiquarisch,  alle Klassiker  zum Beispiel, ein Band
kostete eine Mark und zwanzig Pfennig, in steifem,  blauem Leinen.  Ich habe
sie vollstundig gekauft,  denn  ich  war grundlich, bei ausgewuhlten  Werken
traute ich  den Herausgebern nicht, ob  sie auch  das Beste genommen hatten.
Deshalb  kaufte  ich  mir  "  Sumtliche  Werke".  Gelesen habe ich  sie  mit
ehrlichem Eifer,  aber die  meisten  sagten  mir  nicht recht zu. Um so mehr
hielt  ich von  den anderen Buchern, den moderneren, die naturlich auch viel
teurer waren. Einige  davon habe ich  nicht ganz ehrlich erworben, ich  habe
sie  ausgeliehen und  nicht  zuruckgegeben, weil  ich mich  von  ihnen nicht
trennen mochte.
     Ein  Fach  des  Regals ist mit  Schulbuchern  gefullt. Sie  sind  wenig
geschont und stark  zerlesen,  Seiten sind herausgerissen, man weiß ja
wofur. Und unten sind Hefte, Papier und Briefe  hingepackt,  Zeichnungen und
Versuche.
     Ich  will  mich hineindenken in  die Zeit  damals. Sie ist  ja noch  im
Zimmer, ich fuhle es sofort, die Wunde haben sie bewahrt. Meine Hunde liegen
auf  der Sofalehne; jetzt mache ich es  mir bequem und ziehe  auch die Beine
hoch, so sitze ich gemutlich in der Ecke, in den Armen des Sofas. Das kleine
Fenster ist geuffnet,  es zeigt das  vertraute Bild der Straße mit dem
ragenden  Kirchturm  am  Ende.  Ein  paar   Blumen  stehen  auf  dem  Tisch.
Federhalter,   Bleistifte,    eine   Muschel   als    Briefbeschwerer,   das
Tintenfaß - hier ist nichts verundert.
     So wird  es auch sein, wenn ich  Gluck habe, wenn der Krieg aus ist und
ich  wiederkomme fur  immer. Ich werde  ebenso hier sitzen und  mein  Zimmer
ansehen und warten.
     Ich bin aufgeregt; aber ich muchte es  nicht sein, denn  das  ist nicht
richtig.  Ich  will wieder  diese stille  Hingerissenheit, das Gefuhl dieses
heftigen,  unbenennbaren Dranges  verspuren, wie fruher,  wenn ich vor meine
Bucher trat. Der Wind der Wunsche, der aus den bunten Bucherrucken aufstieg,
soll mich wieder  erfassen,  er soll  den  schweren,  toten  Bleiblock,  der
irgendwo in mir liegt, schmelzen und  mir wieder die  Ungeduld der  Zukunft,
die beschwingte Freude an  der  Welt der  Gedanken wecken; - er soll mir das
verlorene Bereitsein meiner Jugend zuruckbringen.
     Ich sitze und warte.
     Mir  fullt ein, daß ich zu Kemmerichs  Mutter gehen  muß; -
Mittelstaedt kunnte ich auch besuchen, er muß in der Kaserne sein. Ich
sehe aus  dem  Fenster:  -  hinter  dem besonnten  Straßenbild  taucht
verwaschen und leicht ein Hugelzug auf, verwandelt  sich zu einem hellen Tag
im Herbst, wo ich am Feuer sitze und mit Kat und Albert gebratene Kartoffeln
aus der Schale esse.
     Doch daran will ich nicht denken,  ich wische es fort.  Das Zimmer soll
sprechen, es soll mich einfangen und tragen,  ich will fuhlen, daß ich
hierhergehure,  und  horchen, damit ich weiß,  wenn ich wieder  an die
Front  gehe: Der  Krieg  versinkt und  ertrinkt, wenn die Welle der Heimkehr
kommt,  er  ist  voruber, er zerfrißt uns  nicht,  er hat keine andere
Macht uber uns als nur die uußere!
     Die Bucherrucken  stehen nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere
mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie  mit meinen Augen: Sprecht zu
mir, - nehmt mich auf - nimm mich auf, du Leben von  fruher, - du sorgloses,
schunes - nimm mich wieder auf -
     Ich warte, ich warte.
     Bilder  ziehen voruber, sie haken nicht fest, es sind  nur Schatten und
Erinnerungen.
     Nichts - nichts.
     Meine Unruhe wuchst.
     Ein furchterliches Gefuhl der Fremde steigt plutzlich in mir hoch.  Ich
kann nicht  zuruckfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und
mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und  traurig  sitze ich wie
ein Verurteilter da,  und  die Vergangenheit  wendet sich  ab.  Gleichzeitig
spure ich Furcht, sie zu sehr zu beschwuren, weil  ich nicht weiß, was
dann  alles geschehen kunnte. Ich  bin ein Soldat, daran  muß ich mich
halten.
     Mude stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der
Bucher und bluttere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein
anderes. Es sind Stellen  darin, die angestrichen sind. Ich suche, bluttere,
nehme  neue  Bucher. Schon  liegt ein  Pack neben  mir.  Andere kommen dazu,
hastiger - Blutter, Hefte, Briefe.
     Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht.
     Mutlos.
     Worte, Worte, Worte - sie erreichen mich nicht.
     Langsam stelle ich die Bucher wieder in die Lucken. Vorbei.
     Still gehe ich aus dem Zimmer.
     Noch gebe ich es nicht auf. Mein  Zimmer betrete  ich zwar  nicht mehr,
aber ich truste  mich damit, daß  einige Tage noch nicht ein  Ende  zu
sein brauchen. Ich habe nachher - sputer - Jahre dafur Zeit.  Vorluufig gehe
ich zu Mittelstaedt in  die Kaserne,  und wir sitzen in seiner Stube, da ist
eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewuhnt bin.
     Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er
erzuhlt mir, daß Kantorek  eingezogen  worden  sei  als Landsturmmann.
"Stell dir vor", sagt er und holt ein paar gute  Zigarren heraus, "ich komme
aus dem  Lazarett hierher und falle  gleich uber ihn. Er  streckt mir  seine
Pfote entgegen und quakt:  ‚Sieh da, Mittelstaedt,  wie geht es denn?' - Ich
sehe  ihn groß an  und antworte: ‚Landsturmmann  Kantorek, Dienst  ist
Dienst und  Schnaps ist  Schnaps, das sollten  Sie  selbst am besten wissen.
Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.' - Du  huttest
sein  Gesicht  sehen mussen!  Eine Kreuzung aus Essiggurke  und Blindgunger.
Zugernd versuchte er noch  einmal,  sich anzubiedern. Da schnauzte ich etwas
schurfer.  Nun fuhrte  er seine sturkste  Batterie  ins  Gefecht und  fragte
vertraulich: ‚Soll ich Ihnen vermitteln, daß Sie Notexamen machen?' Er
wollte  mich  erinnern,  verstehst  du.  Da  packte  mich die  Wut, und  ich
erinnerte ihn auch. ‚Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren  haben Sie  uns
zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich
nicht wollte. Er fiel drei  Monate bevor er eingezogen worden wure. Ohne Sie
hutte  er solange gewartet.  Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.' -
Es war mir leicht, seiner Kompanie  zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich
ihn zur Kammer und sorgte  fur eine  hubsche Ausrustung. Du wirst ihn gleich
sehen."
     Wir gehen  auf  den  Hof. Die  Kompanie  ist  angetreten.  Mittelstaedt
lußt ruhren und besichtigt.
     Da erblicke ich Kantorek und muß  das  Lachen verbeißen. Er
trugt eine Art Schoßrock aus verblichenem Blau. Auf dem Rucken  und an
den urmeln sind große dunkle Flicken eingesetzt.  Der  Rock  muß
einem Riesen gehurt haben. Um so kurzer  ist  die  abgewetzte schwarze Hose;
sie reicht  bis zur halben Wade.  Dafur sind aber die  Schuhe sehr geruumig,
eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten  zu
schnuren.  Als  Ausgleich  ist  die  Mutze  wieder zu  klein, ein  furchtbar
dreckiges, elendes Krutzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswurdig.
     Mittelstaedt  bleibt stehen vor  ihm: "Landsturmmann Kantorek,  ist das
Knopfputz ?  Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenugend, Kantorek, ungenugend
-"
     Ich brulle  innerlich vor Vergnugen. Genauso hat Kantorek in der Schule
Mittelstaedt getadelt,  mit  demselben  Tonfall  "Ungenugend,  Mittelstaedt,
ungenugend -"
     Mittelstaedt mißbilligt weiter: "Sehen Sie sich mal Boettcher an,
der ist vorbildlich, von dem kunnen Sie lernen."
     Ich  traue   meinen  Augen  kaum.  Boettcher  ist  ja  auch  da,  unser
Schulportier. Und  der  ist  vorbildlich!  Kantorek schießt mir  einen
Blick zu, als ob er mich fressen muchte. Ich aber  grinse ihm nur harmlos in
die Visage, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne.
     Wie bludsinnig er aussieht mit seinem Krutzchen und seiner Uniform! Und
vor so was hat  man fruher eine Heidenangst gehabt, wenn es auf dem Katheder
thronte   und   einen   mit   dem   Bleistift   aufspießte   bei   den
unregelmußigen   franzusischen   Verben,  mit  denen  man  nachher  in
Frankreich  doch  nichts anfangen konnte. Es ist noch kaum zwei Jahre her; -
und jetzt steht hier der Landsturmmann Kantorek, juh entzaubert, mit krummen
Knien  und Armen  wie Topfhenkel, mit schlechtem  Knopfputz und lucherlicher
Haltung, ein unmuglicher  Soldat. Ich kann ihn mir nicht mehr zusammenreimen
mit dem drohenden Bilde auf  dem Katheder, und  ich muchte wirklich gern mal
wissen, was  ich  machen werde, wenn dieser  Jammerpelz  mich alten Soldaten
jemals wieder fragen darf: "Buumer, nennen Sie das Imparfait von aller -"
     Vorluufig  lußt  Mittelstaedt etwas Schwurmen uben. Kantorek wird
dabei wohlwollend von ihm zum Gruppenfuhrer bestimmt.
     Damit hat es seine  besondere  Bewandtnis. Der Gruppenfuhrer  muß
beim Schwurmen  numlich stets zwanzig  Schritt  vor  seiner  Gruppe sein;  -
kommandiert  man nun: Kehrt  - marsch!, so  macht die  Schwarmlinie  nur die
Wendung,  der  Gruppenfuhrer jedoch,  der dadurch plutzlich  zwanzig Schritt
hinter  der Linie  ist,  muß  im  Galopp vorsturzen, um  wieder  seine
zwanzig Schritt vor die Gruppe zu kommen. Das sind zusammen vierzig Schritt:
Marsch, marsch. Kaum ist  er aber angelangt,  so wird einfach wieder Kehrt -
marsch! befohlen, und er muß eiligst  wieder vierzig  Schritt nach der
anderen  Seite rasen. Auf diese Weise  macht die Gruppe  nur gemutlich immer
eine Wendung und ein paar  Schritte, wuhrend  der Gruppenfuhrer  hin und her
saust wie  ein Furz auf der Gardinenstange. Das Ganze ist  eines der  vielen
probaten Rezepte von Himmelstoß.
     Kantorek  kann  von Mittelstaedt  nichts anderes verlangen, denn er hat
ihm  einmal  eine Versetzung  vermurkst,  und Mittelstaedt wure schun  dumm,
diese  gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er  wieder ins Feld  kommt.
Man  stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiß einem auch
einmal solch eine Chance geboten hat.
     Einstweilen  spritzt  Kantorek  hin  und  her  wie ein  aufgescheuchtes
Wildschwein.  Nach einiger Zeit lußt  Mittelstaedt  aufhuren,  und nun
beginnt die so wichtige ubung des Kriechens. Auf  Knien und  Ellenbogen, die
Knarre   vorschriftsmußig   gefaßt,   schiebt   Kantorek   seine
Prachtfigur  durch den Sand, dicht an  uns vorbei.  Er schnauft kruftig, und
sein Schnaufen ist Musik.
     Mittelstaedt  ermuntert  ihn,  indem er den Landsturmmann Kantorek  mit
Zitaten des Oberlehrers Kantorek trustet. "Landsturmmann Kantorek, wir haben
das Gluck, in  einer großen  Zeit  zu leben, da  mussen  wir  alle uns
zusammenreißen  und  das  Bittere  uberwinden."  Kantorek  spuckt  ein
schmutziges Stuck  Holz  aus,  das ihm zwischen die Zuhne gekommen ist,  und
schwitzt.  Mittelstaedt beugt  sich  nieder, beschwurend eindringlich:  "Und
uber Kleinigkeiten niemals das große Erlebnis vergessen, Landsturmmann
Kantorek!"
     Mich  wundert,  daß Kantorek  nicht mit  einem  Knall  zerplatzt,
besonders,  da   jetzt  die  Turnstunde  folgt,  in  der  Mittelstaedt   ihn
großartig  kopiert,  indem er ihm  in  den  Hosenboden faßt beim
Klimmzug am Querbaum, damit er das Kinn stramm uber die Stange bringen kann,
und dazu von weisen Reden nur so trieft. Genauso hat Kantorek es  fruher mit
ihm gemacht.
     Danach  wird  der  weitere Dienst verteilt. "Kantorek und Boettcher zum
Kommißbrotholen! Nehmen Sie den Handwagen mit."
     Ein paar  Minuten sputer geht das Paar mit  dem Handwagen los. Kantorek
hult wutend den Kopf gesenkt. Der Portier ist stolz, weil er leichten Dienst
hat.
     Die Brotfabrik ist  am andern Ende der Stadt. Beide mussen also hin und
zuruck durch die ganze Stadt.
     "Das machen sie schon  ein paar  Tage", grinst  Mittelstaedt. "Es  gibt
bereits Leute, die darauf warten, sie zu sehen."
     "Großartig", sage ich, "aber hat er sich noch nicht beschwert?"
     "Versucht!   Unser  Kommandeur  hat  furchtbar  gelacht,  als  er   die
Geschichte gehurt  hat. Er kann  keine  Schulmeister  leiden. Außerdem
poussiere ich mit seiner Tochter."
     "Er wird dir das Examen versauen."
     "Darauf pfeife ich", meint Mittelstaedt gelassen. "Seine Beschwerde ist
außerdem  zwecklos gewesen, weil  ich  beweisen konnte,  daß  er
meistens leichten Dienst hat."
     "Kunntest du ihn nicht mal ganz groß schleifen?" frage ich.
     "Dazu  ist  er  mir zu dumlich",  antwortet  Mittelstaedt  erhaben  und
großzugig.
     Was  ist  Urlaub?  -   Ein  Schwanken,  das  alles  nachher  noch  viel
schwerermacht. Schon  jetzt  mischt sich der  Abschied hinein. Meine  Mutter
sieht mich schweigend  an; - sie zuhlt die Tage,  ich weiß es; - jeden
Morgen ist sie  traurig.  Es  ist  schon  wieder  ein  Tag  weniger.  Meinen
Tornister hat sie weggepackt, sie will durch ihn nicht erinnert werden.
     Die Stunden laufen schnell, wenn man  grubelt. Ich raffe mich  auf  und
begleite meine Schwester. Sie  geht zum Schlachthof, um einige Pfund Knochen
zu holen. Das  ist eine große Vergunstigung, und morgens schon stellen
sich die Leute hin, um darauf anzustehen. Manche werden ohnmuchtig.
     Wir  haben kein  Gluck. Nachdem  wir drei Stunden  abwechselnd gewartet
haben, lust sich die Reihe auf. Die Knochen sind zu Ende.
     Es ist gut, daß  ich meine Verpflegung erhalte.  Davon bringe ich
meiner Mutter mit, und wir haben so alle etwas kruftigeres Essen.
     Immer  schwerer  werden  die  Tage,  die  Augen   meiner  Mutter  immer
trauriger. Noch vier Tage. Ich muß zu Kemmerichs Mutter gehen.
     Man kann das nicht  niederschreiben. Diese bebende,  schluchzende Frau,
die  mich schuttelt und mich anschreit: "Weshalb lebst du denn,  wenn er tot
ist!", die mich mit Trunen uberstrumt und ruft: "Weshalb  seid ihr uberhaupt
da, Kinder, wie ihr -",  die in  einen Stuhl sinkt und weint:  "Hast  du ihn
gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?"
     Ich sage ihr, daß er einen Schuß ins Herz erhalten hat  und
gleich tot war. Sie sieht mich  an, sie zweifelt: "Du lugst. Ich  weiß
es besser.  Ich habe gefuhlt, wie  schwer  er gestorben ist. Ich  habe seine
Stimme gehurt, seine  Angst habe ich nachts gespurt, - sag die Wahrheit, ich
will es wissen, ich muß es wissen."
     "Nein",  sage ich, "ich war neben ihm.  Er war sofort tot."  Sie bittet
mich leise:  "Sag es mir. Du mußt es.  Ich weiß,  du willst mich
damit trusten, aber siehst du nicht, daß du mich schlimmer quulst, als
wenn du  die  Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen,
sag mir,  wie es  war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es  ist immer noch
besser, als was ich sonst denken muß."
     Ich  werde es nie sagen,  eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich
bemitleide sie, aber  sie  kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll  sich
doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht.
Wenn  man so viele  Tote gesehen  hat, kann  man  so  viel Schmerz  um einen
einzigen  nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig:  "Er war
sofort tot. Er hat es gar nicht gefuhlt. Sein Gesicht war ganz ruhig."
     Sie schweigt. Dann fragt sie langsam: "Kannst du das beschwuren?"
     "Ja."
     "Bei allem, was dir heilig ist?"
     Ach Gott, was ist mir schon heilig;  - so  was  wechselt ja schnell bei
uns.
     "Ja, er war sofort tot."
     "Willst du selbst nicht wiederkommen, wenn es nicht wahr ist?"
     "Ich will nicht wiederkommen, wenn er nicht sofort tot war."
     Ich wurde noch wer weiß was auf mich nehmen. Aber sie scheint mir
zu glauben.  Sie stuhnt und weint lange. Ich soll erzuhlen, wie es war,  und
erfinde eine Geschichte, an die ich jetzt beinahe selbst glaube.
     Als ich gehe, kußt sie mich und schenkt mir ein Bild von  ihm. Er
lehnt darauf  in seiner  Rekrutenuniform an einem runden Tisch, dessen Beine
aus ungeschulten  Birkenusten  bestehen. Dahinter  ist  ein  Wald gemalt als
Kulisse. Auf dem Tisch steht ein Bierseidel.
     Es  ist der letzte Abend zu Hause. Alle sind  schweigsam. Ich gehe fruh
zu Bett, ich fasse die  Kissen an, ich drucke  sie an mich und lege den Kopf
hinein. Wer weiß, ob ich je wieder so in einem Federbett liegen werde!
     Meine Mutter kommt sput noch in mein  Zimmer. Sie glaubt, daß ich
schlafe, und ich stelle mich auch so. Zu sprechen, wach miteinander zu sein,
ist zu schwer.
     Sie sitzt fast bis  zum  Morgen,  obschon sie Schmerzen  hat  und  sich
manchmal  krummt. Endlich  kann  ich  es  nicht mehr  aushaken, ich tue, als
erwachte ich.
     "Geh schlafen, Mutter, du erkultest dich hier."
     Sie sagt: "Schlafen kann ich noch genug sputer."
     Ich richte  mich auf. "Es geht ja nicht  sofort ins Feld,  Mutter.  Ich
muß doch  erst  vier Wochen ins  Barackenlager.  Von  dort  komme  ich
vielleicht einen Sonntag noch heruber."
     Sie schweigt. Dann fragt sie leise: "Furchtest du dich sehr?"
     "Nein, Mutter."
     "Ich wollte  dir  noch sagen:  Nimm dich vor  den  Frauen  in  acht  in
Frankreich. Sie sind schlecht dort."
     Ach Mutter,  Mutter! Fur dich bin ich  ein Kind, - warum kann ich nicht
den Kopf in deinen Schoß  legen  und weinen? Warum muß ich immer
der Sturkere und  der Gefaßtere  sein,  ich  muchte doch  auch  einmal
weinen und  getrustet werden, ich bin doch  wirklich nicht viel mehr als ein
Kind, im Schrank hungen noch meine kurzen Knabenhosen, - es ist doch erst so
wenig Zeit her, warum ist es denn vorbei?
     So ruhig  ich kann, sage  ich: "Wo wir liegen,  da sind  keine  Frauen,
Mutter."
     "Und sei recht vorsichtig dort im Felde, Paul."
     Ach Mutter, Mutter!  Warum nehme ich dich nicht in meine  Arme, und wir
sterben. Was sind wir doch fur arme Hunde!
     "Ja, Mutter, das will ich sein."
     "Ich werde jeden Tag fur dich beten, Paul."
     Ach Mutter, Mutter! Laß uns aufstehen und fortgehen, zuruck durch
die  Jahre, bis all dies  Elend nicht mehr auf uns liegt, zuruck  zu dir und
mir allein, Mutter!
     "Vielleicht kannst  du einen  Posten bekommen, der nicht so  gefuhrlich
ist."
     "Ja, Mutter, vielleicht komme ich in die Kuche, das kann wohl
     sein."
     "Nimm ihn ja an, wenn die andern auch reden -"
     "Darum kummere ich mich nicht, Mutter -"
     Sie seufzt. Ihr  Gesicht  ist ein weißer  Schein im  Dunkel. "Nun
mußt du schlafen gehen, Mutter."
     Sie  antwortet nicht. Ich stehe auf und  lege  ihr meine Decke uber die
Schultern. Sie stutzt sich auf meinen  Arm, sie hat Schmerzen. So bringe ich
sie hinuber. Eine Weile bleibe ich noch  bei  ihr. "Du  mußt  nun auch
gesund werden, Mutter, bis ich wiederkomme."
     "Jaja, mein Kind."
     "Ihr  durft  mir   nicht  eure  Sachen  schicken,  Mutter.   Wir  haben
draußen genug zu essen. Ihr kunnt es hier besser brauchen."
     Wie arm sie  in ihrem Bette liegt, sie, die mich liebt, mehr als alles.
Als  ich  schon  gehen  will,  sagt  sie  hastig: "Ich habe  dir  noch  zwei
Unterhosen besorgt. Es ist gute Wolle. Sie werden warm halten. Du mußt
nicht vergessen, sie dir einzupacken."
     Ach Mutter, ich  weiß, was dich diese beiden  Unterhosen gekostet
haben an Herumstehen und Laufen und Betteln! Ach  Mutter,  Mutter, wie  kann
man es  begreifen,  daß ich weg muß von dir, wer hat denn anders
ein Recht  auf  mich  als du. Noch sitze  ich hier, und du liegst  dort, wir
mussen uns so vieles sagen, aber wir werden es nie kunnen.
     "Gute Nacht, Mutter."
     "Gute Nacht, mein Kind."
     Das Zimmer ist dunkel. Der Atem  meiner Mutter geht darin hin  und her.
Dazwischen  tickt die  Uhr.  Draußen vor den  Fenstern  weht  es.  Die
Kastanien rauschen.
     Auf dem Vorplatz stolpere ich uber meinen Tornister, der fertig gepackt
daliegt, weil ich morgen sehr fruh fort muß.
     Ich  beiße  in  meine  Kissen,  ich  krampfe  die  Fuuste  um die
Eisenstube  mei'ies  Bettes.  Ich  hutte  nie hierherkommen  durfen. Ich war
gleichgultig  und oft hoffnungslos draußen; - ich werde es nie mehr so
sein kunnen.  Ich war ein Soldat, und nun bin ich nichts mehr als Schmerz um
mich, um  meine Mutter,  um alles, was  so  trostlos und ohne Ende  ist. Ich
hutte nie auf Urlaub fahren durfen.
        8
     Die  Baracken  im Heidelager kenne ich noch.  Hier hat Himmelstoß
Tjaden erzogen. Sonst aber kenne ich kaum jemand hier; alles hat gewechselt,
wie immer. Nur einige der Leute habe ich fruher fluchtig gesehen.
     Den  Dienst  mache  ich  mechanisch.  Abends  bin  ich  fast  stets  im
Soldatenheim, da liegen Zeitschriften aus, die ich aber nicht lese; es steht
jedoch ein Klavier da,  auf dem ich gern spiele. Zwei Mudchen bedienen, eins
davon ist jung.
     Das  Lager ist  von  hohen Drahtzuunen umgeben.  Wenn wir sput  aus dem
Soldatenheim  kommen, mussen  wir  Passierscheine  haben. Wer  sich  mit dem
Posten versteht, kriecht naturlich auch so durch.
     Zwischen  Wacholderbuschen  und  Birkenwuldern   uben  wir  jeden   Tag
Kompanieexerzieren  in der  Heide. Es ist  zu  ertragen, wenn man nicht mehr
verlangt. Man rennt vorwurts, wirft sich hin, und der Atem biegt die Stengel
und Bluten der Heide  hin  und  her.  Der Ware Sand ist,  so  dicht am Boden
gesehen,  rein  wie  in  einem  Laboratorium,  aus  vielen kleinsten Kieseln
gebildet. Es ist seltsam verlockend, die Hand hineinzugraben.
     Aber das schunste sind die Wulder mit ihren Birkenrundern. Sie wechseln
jeden   Augenblick   die  Farbe.  Jetzt  leuchten  die  Stumme  im  hellsten
Weiß,  und seidig und luftig  schwebt  zwischen ihnen das pastellhafte
Grun des Laubes; - im nuchsten Moment wechselt alles zu einem opalenen Blau,
das silbrig vom Rande her streicht und das Grun forttupft; -  aber  sogleich
vertieft  es sich an einer Stelle fast  zu Schwarz, wenn eine Wolke uber die
Sonne  geht.  Und dieser  Schatten luuft wie ein  Gespenst zwischen den  nun
fahlen  Stummen entlang, weiter uber die  Heide zum Horizont,  -  inzwischen
stehen  die  Birken schon wie festliche Fahnen  mit weißen Stangen vor
dem rotgoldenen Geloder ihres sich furbenden Laubes.
     Ich   verliere  mich  oft   an  dieses  Spiel   zartester  Lichter  und
durchsichtiger Schatten, so sehr, daß ich fast die Kommandos uberhure;
-  wenn man allein ist,  beginnt man die Natur zu beobachten und zu  lieben.
Und ich habe hier nicht viel Anschluß, wunsche ihn auch nicht uber das
normale Maß hinaus. Man ist  zuwenig miteinander bekannt, um  mehr  zu
tun, als etwas zu quatschen und abends Siebzehn-und-vier  zu spielen oder zu
mauscheln.
     Neben unsern Baracken befindet sich das große Russenlager. Es ist
von uns zwar  durch Drahtwunde getrennt, trotzdem  gelingt es den Gefangenen
doch, zu uns heruberzukommen. Sie geben sich sehr scheu und ungstlich, dabei
haben  die  meisten  Barte  und  sind  groß; dadurch  wirken  sie  wie
verprugelte Bernhardiner.
     Sie schleichen um unsere Baracken und revidieren  die Abfalltonnen. Man
muß sich  vorstellen,  was sie da  finden. Die Kost ist bei  uns schon
knapp und vor allem schlecht, es gibt Steckruben, in sechs Teile geschnitten
und in Wasser gekocht, Mohrrubenstrunke, die  noch  schmutzig sind; fleckige
Kartoffeln  sind  große  Leckerbissen,  und   das  Huchste  ist  dunne
Reissuppe, in der kleingeschnittene Rindfleischsehnen schwimmen sollen. Aber
sie sind so klein geschnitten, daß sie nicht mehr zu finden sind.
     Trotzdem wird  naturlich  alles  gegessen.  Wenn wirklich einer  mal so
reich ist, nicht leerfuttern zu brauchen, stehen zehn andere da, die  es ihm
gern abnehmen. Nur die Reste, die der  Luffel  nicht mehr  erreicht,  werden
ausgespult  und  in  die Abfalltonnen geschuttet. Dazu kommen  dann manchmal
einige Steckrubenschalen, verschimmelte Brotrinden und allerlei Dreck.
     Dieses dunne, trube, schmutzige Wasser ist das Ziel der Gefangenen. Sie
schupfen es gierig  aus den  stinkenden  Tonnen  und tragen  es unter  ihren
Blusen fort.
     Es  ist sonderbar,  diese  unsere Feinde  so nahe zu sehen.  Sie  haben
Gesichter, die  nachdenklich machen, gute  Bauerngesichter, breite  Stirnen,
breite Nasen,  breite  Lippen, breite  Hunde, wolliges Haar. Man mußte
sie  zum  Pflugen  und  Muhen  und Apfelpflucken  verwenden. Sie  sehen noch
gutmutiger aus als unsere Bauern in Friesland.
     Es ist traurig, ihre Bewegungen, ihr  Betteln um etwas  Essen zu sehen.
Sie sind alle ziemlich schwach, denn sie erhalten gerade so  viel, daß
sie nicht verhungern. Wir selbst bekommen ja lungst nicht satt zu essen. Sie
haben  Ruhr,  mit  ungstlichen  Blicken  zeigen  manche  verstohlen  blutige
Hemdzipfel  heraus.  Ihre  Rucken,  ihre  Nacken  sind  gekrummt,  die  Knie
geknickt,  der  Kopf  blickt schief  von unten  herauf, wenn  sie  die  Hand
ausstrecken und  mit den  wenigen Worten, die sie kennen, betteln, - betteln
mit diesen weichen, leisen Bussen, die wie warme ufen und Heimatstuben sind.
     Es gibt  Leute, die ihnen  einen Tritt geben, daß sie umfallen; -
aber das sind nur  wenig. Die  meisten tun ihnen nichts, sie  gehen an ihnen
vorbei. Mitunter wenn  sie sehr elend sind allerdings,  gerut man daruber in
Wut und versetzt ihnen dann einen Tritt. Wenn sie einen nur nicht so ansehen
wollten, - was fur ein  Jammer in zwei so kleinen  Flecken sitzen  kann, die
man mit dem Daumen schon zuhalten kann: in den Augen.
     Abends kommen sie in die Baracken und handeln. Sie tauschen  alles, was
sie haben, gegen  Brot ein. Es  gelingt ihnen manchmal, denn  sie haben gute
Stiefel, unsere aber sind schlecht. Das Leder ihrer hohen  Schaftstiefel ist
wunderbar  weich, wie  Juchten.  Die Bauernsuhne bei uns, die  von zu  Hause
Fettigkeiten geschickt erhalten, kunnen sie sich  leisten. Der Preis fur ein
Paar  Stiefel  ist   ungefuhr  zwei  bis  drei  Kommißbrote  oder  ein
Kommißbrot und eine kleinere harte Mettwurst.
     Aber  fast alle  Russen haben  lungst  ihre  Sachen abgegeben, die  sie
hatten.  Sie  tragen   nur  noch  erburmliches  Zeug  und  versuchen  kleine
Schnitzereien und Gegenstunde, die sie aus Granatsplittern  und  Stucken von
kupfernen  Fuhrungsringen  gemacht haben,  zu tauschen. Diese Sachen bringen
naturlich nicht viel ein, wenn sie auch allerhand  Muhe gemacht haben -  sie
gehen fur ein paar Scheiben Brot  bereits  weg.  Unsere Bauern  sind zuh und
schlau, wenn sie handeln. Sie halten dem Russen das Stuck Brot oder Wurst so
lange dicht unter die  Nase, bis er  vor  Gier blaß wird und die Augen
verdreht, dann ist ihm alles egal. Sie aber verpacken ihre Beute mit all der
Umstundlichkeit,  deren  sie  fuhig  sind,  holen ihr  dickes  Taschenmesser
heraus, schneiden langsam  und beduchtig fur sich  selber einen  Ranken Brot
von ihrem Vorrat ab und dazu bei jedem Happen ein Stuck von der harten guten
Wurst und futtern, sich zur Belohnung. Es ist aufreizend, sie so vespern  zu
sehen, man  muchte ihnen auf die dicken  Schudel  trommeln. Sie geben selten
etwas ab. Man kennt sich ja auch zuwenig.
     Ich bin ufter auf Wache  bei  den  Russen. In  der Dunkelheit sieht man
ihre Gestalten sich bewegen, wie kranke  Sturche, wie große Vugel. Sie
kommen dicht  an das Gitter heran  und legen  ihre  Gesichter  dagegen,  die
Finger  sind  in  die Maschen  gekrallt. Oft stehen viele nebeneinander.  So
atmen sie den Wind, der von der Heide und den Wuldern herkommt.
     Selten sprechen  sie, und dann nur wenige Worte.  Sie sind menschlicher
und, ich muchte fast glauben, bruderlicher zueinander als wir hier. Aber das
ist  vielleicht  nur deshalb,  weil sie sich unglucklicher  fuhlen  als wir.
Dabei ist fur sie doch der  Krieg zu Ende. Doch auf die Ruhr zu  warten, ist
ja auch kein Leben.
     Die  Landsturmleute, die  sie bewachen, erzuhlen, daß sie anfangs
lebhafter waren. Sie  hatten, wie das immer ist, Verhultnisse untereinander,
und  es soll oft mit  Fuusten und Messern dabei zugegangen  sein. Jetzt sind
sie  schon ganz  stumpf und gleichgultig, die meisten onanieren nicht einmal
mehr, so schwach sind sie, obschon es doch damit sonst oft  so schlimm  ist,
daß sie es sogar barackenweise tun.
     Sie stehen am  Gitter; manchmal schwankt einer fort,  dann ist bald ein
anderer  an seiner Stelle in der Reihe. Die meisten sind still; nur einzelne
betteln um das Mundstuck einer ausgerauchten Zigarette.
     Ich  sehe  ihre dunklen  Gestalten.  Ihre  Barte  wehen  im Winde.  Ich
weiß  nichts von ihnen, als  daß sie Gefangene  sind, und gerade
das erschuttert mich. Ihr Leben ist namenlos und ohne  Schuld; - wußte
ich mehr von ihnen, wie sie  heißen, wie  sie leben, was sie erwarten,
was  sie  bedruckt,  so  hutte  meine Erschutterung ein  Ziel und kunnte  zu
Mitleid werden.  Jetzt aber empfinde ich hinter ihnen  nur  den  Schmerz der
Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der
Menschen.
     Ein Befehl hat diese  stillen Gestalten zu unsern Feinden  gemacht; ein
Befehl  kunnte sie  in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem  Tisch wird
ein Schriftstuck von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt,
und jahrelang ist unser huchstes Ziel  das,  worauf sonst die Verachtung der
Welt und  ihre huchste Strafe ruht. Wer kann da  noch unterscheiden, wenn er
diese stillen  Leute hier  sieht  mit  den  kindlichen  Gesichtern  und  den
Apostelburten! Jeder Unteroffizier  ist  dem Rekruten, jeder  Oberlehrer dem
Schuler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch wurden wir wieder auf
sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wuren.
     Ich erschrecke;  hier darf ich  nicht  weiterdenken. Dieser Weg geht in
den Abgrund.  Es  ist  noch nicht die Zeit dazu; aber ich  will den Gedanken
nicht verlieren,  ich will  ihn bewahren,  ihn  fortschließen, bis der
Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Große, das
Einmalige,  an  das   ich  im  Graben  gedacht  habe,  das  ich  suchte  als
Daseinsmuglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine
Aufgabe fur das Leben nachher, wurdig der Jahre des Grauens?
     Ich nehme meine Zigaretten heraus, breche  jede  in zwei Teile und gebe
sie den Russen. Sie verneigen sich und zunden sie an. Nun glimmen in einigen
Gesichtern rote Punkte. Sie trusten mich; es sieht aus,  als wuren es kleine
Fensterchen in dunklen Dorfhuusern, die verraten, daß  dahinter Zimmer
voll Zuflucht sind.
     Die  Tage gehen  hin. An einem nebeligen Morgen wird  wieder  ein Russe
begraben; es sterben ja jetzt fast tuglich welche. Ich  bin gerade aufWache,
als  er  beerdigt  wird.  Die Gefangenen  singen einen  Choral,  sie  singen
vielstimmig, und es klingt, als wuren es kaum noch Stimmen, als wure es eine
Orgel, die fern in der Heide steht.
     Die Beerdigung geht schnell.
     Abends  stehen  sie  wieder  am  Gitter,  und der  Wind kommt  von  den
Birkenwuldern zu ihnen.  Die  Sterne sind  kalt. Ich kenne  jetzt einige von
ihnen, die ziemlich gut Deutsch sprechen. Ein Musiker ist dabei, er erzuhlt,
daß er Geiger in Berlin gewesen sei. Als er hurt,  daß ich etwas
Klavier spielen kann, holt er seine Geige und spielt.
     Die  andern setzen sich  und lehnen die Rucken an  das Gitter. Er steht
und spielt, oft hat  er den verlorenen Ausdruck, den Geiger  haben, wenn sie
die Augen schließen, dann  wieder bewegt er das Instrument im Rhythmus
und luchelt mich an.
     Er spielt wohl Volkslieder; denn die anderen summen mit. Es sind dunkle
Hugel,  die  tief  unterirdisch  summen.  Die  Geigenstimme  steht  wie  ein
schlankes Mudchen daruber  und  ist  hell und allein. Die Stimmen huren auf,
und  die  Geige  bleibt -  sie ist dunn  in der Nacht, als  friere  sie; man
muß  dicht danebenstehen, es wure  in  einem Raum wohl  besser; - hier
draußen wird man traurig, wenn sie so allein umherirrt.
     Ich bekomme keinen Urlaub uber Sonntag, weil ich ja erst grußeren
Urlaub gehabt habe.  Am  letzten Sonntag vor  der  Abfahrt sind deshalb mein
Vater und meine ulteste Schwester zu Besuch bei  mir. Wir  sitzen den ganzen
Tag im Soldatenheim.  Wo sollen wir  anders hin,  in die  Baracke wollen wir
nicht gehen. Mittags machen wir einen Spaziergang in die Heide.
     Die Stunden quulen sich hm; wir wissen nicht, woruber wir reden sollen.
So sprechen wir uber die Krankheit meiner Mutter. Es ist nun bestimmt Krebs,
sie  liegt  schon  im  Krankenhaus  und wird demnuchst  operiert.  Die urzte
hoffen, daß sie gesund wird, aber wir haben noch nie gehurt, daß
Krebs geheilt worden ist.
     "Wo liegt sie denn?" frage ich.
     "Im Luisenhospital", sagt mein Vater.
     "In welcher Klasse?"
     "Dritter. Wir mussen  abwarten, was  die  Operation kostet.  Sie wollte
selbst  dritter liegen. Sie sagte, dann hutte sie etwas Unterhaltung. Es ist
auch billiger."
     "Dann  liegt  sie  doch mit  so  vielen  zusammen. Wenn sie  nur nachts
schlafen kann."
     Mein Vater nickt. Sein Gesicht ist abgespannt und  voll  Furchen. Meine
Mutter ist viel  krank gewesen;  sie ist zwar nur ins Krankenhaus  gegangen,
wenn  sie gezwungen wurde,  trotzdem  hat es viel Geld fur uns gekostet, und
das Leben meines Vaters ist eigentlich
     daruber  hingegangen.  "Wenn  man  bloß wußte, wieviel  die
Operation kostet", sagt er.
     "Habt ihr nicht gefragt?"
     "Nicht direkt;  das kann man  nicht - wenn der Arzt  dann  unfreundlich
wird, das geht doch nicht, weil er Mutter doch operieren soll."
     Ja, denke  ich bitter, so sind  wir, so sind sie,  die armen Leute. Sie
wagen  nicht  nach dem  Preise  zu fragen und  sorgen  sich  eher  furchtbar
daruber;  aber  die  andern,  die  es  nicht  nutig  haben,  die  finden  es
selbstverstundlich, vorher den  Preis  festzulegen. Bei ihnen wird der  Arzt
auch nicht unfreundlich sein.
     "Die Verbunde hinterher sind auch so teuer", sagt mein Vater.
     "Zahlt denn die Krankenkasse nichts dazu?" frage ich.
     "Mutter ist schon zu lange krank."
     "Habt ihr denn etwas Geld?"
     Er schuttelt den  Kopf.  "Nein. Aber ich kann jetzt wieder  uberstunden
machen."
     Ich weiß: er wird bis zwulf Uhr nachts an seinem Tisch stehen und
falzen und  kleben und schneiden. Um acht Uhr abends wird er etwas essen von
diesem kraftlosen  Zeug,  das sie auf Karte  beziehen. Hinterher wird er ein
Pulver gegen seine Kopfschmerzen einnehmen und weiterarbeiten.
     Um ihn etwas aufzuheitern, erzuhle ich ihm einige  Geschichten, die mir
gerade einfallen,  Soldatenwitze und so etwas, von Generalen und Feldwebeln,
die irgendwann mal 'reingelegt wurden.
     Nachher bringe  ich  beide zur  Bahnstation.  Sie  geben mir  ein  Glas
Marmelade  und ein Paket Kartoffelpuffer, die  meine  Mutter  noch  fur mich
gebacken hat.
     Dann fahren sie ab, und ich gehe zuruck.
     Abends streiche ich mir von der Marmelade auf die Pufferund esse davon.
Es will mir nicht schmecken. So gehe ich hinaus, um den Russen die Puffer zu
geben. Dann  fullt mir ein, daß meine Mutter sie  selbst  gebacken hat
und   daß  sie  vielleicht  Schmerzen  gehabt  hat,  wuhrend  sie   am
heißen  Herd stand. Ich lege  das Paket zuruck in meinen Tornister und
nehme nur zwei Stuck davon mit zu den Russen.
        9
     Wir  fahren  einige Tage. Die ersten Flieger erscheinen am  Himmel. Wir
rollen  an  Transportzugen  voruber.  Geschutze,   Geschutze.  Die  Feldbahn
ubernimmt uns.  Ich  suche mein Regiment. Niemand  weiß,  wo es gerade
liegt.  Irgendwo ubernachte ich, irgendwo empfange ich morgens  Proviant und
einige vage Instruktionen. So mache ich mich mit meinem Tornister und meinem
Gewehr wieder auf den Weg. Als ich ankomme, ist keiner von  uns mehr in  dem
zerschossenen  Ort. Ich hure, daß  wir  zu einer  fliegenden  Division
geworden sind, die uberall eingesetzt wird, wo es brenzlig  ist. Das  stimmt
mich nicht  heiter.  Man erzuhlt mir  von großen  Verlusten,  die  wir
gehabt haben sollen. Ich forsche nach Kat und Albert. Es weiß  niemand
etwas von ihnen.
     Ich suche weiter und irre umher, das ist ein  wunderliches Gefuhl. Noch
eine Nacht und eine  zweite  kampiere  ich wie ein Indianer.  Dann  habe ich
bestimmte Nachricht und kann mich nachmittags auf der Schreibstube melden.
     Der Feldwebel  behult mich da. Die Kompanie kommt in zwei Tagen zuruck,
es  hat keinen  Zweck  mehr,  mich hinauszuschicken. "Wie war's  im Urlaub?"
fragt er. "Schun, was?"
     "Teils, teils", sage ich.
     "Jaja", seufzt er, "wenn  man nicht wieder weg  mußte. Die zweite
Hulfte wird dadurch immer schon verpfuscht."
     Ich lungere umher, bis die Kompanie morgens einruckt, grau,  schmutzig,
verdrossen und trube. Da springe ich auf und drunge mich zwischen sie, meine
Augen suchen, dort ist Tjaden, da schnaubt Muller, und da sind  auch Kat und
Kropp.  Wir  machen uns unsere  Strohsucke nebeneinander zurecht.  Ich fuhle
mich schuldbewußt, wenn ich  sie  ansehe, und habe  doch keinen  Grund
dazu.  Bevor wir schlafen, hole ich den  Rest  der  Kartoffelpuffer und  der
Marmelade heraus, damit sie auch etwas haben.
     Die beiden uußeren  Puffer sind  angeschimmelt, man kann sie aber
noch essen. Ich nehme sie fur mich und gebe die frischeren Kat und Kropp.
     Kat kaut und fragt: "Die sind wohl von Muttern?"
     Ich nicke.
     "Gut", sagt er, "das schmeckt man heraus."
     Fast kunnte ich weinen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Doch  es wird
schon wieder  besser werden, hier  mit Kat und Alben  und den  ubrigen. Hier
gehure ich hin.
     "Du  hast Gluck gehabt",  flustert Kropp  mir noch beim Einschlafen zu,
"es heißt, wir kommen nach  Rußland." Nach Rußland. Da ist
ja kein Krieg mehr.
     In der Ferne donnert die Front. Die Wunde der Baracken klirren.
     Es wird muchtig geputzt. Ein Appell  jagt den andern.  Von allen Seiten
werden wir revidiert. Was zerrissen ist, wird umgetauscht gegen