b, wie fur alle urzte. Seht euch unten  mal
die  Station an; da kriechen ein Dutzend  Leute herum,  die er operiert hat.
Manche sind seit  vierzehn und funfzehn hier, jahrelang. Kein einziger  kann
besser  laufen als vorher; fast  alle aber  schlechter, die meisten  nur mit
Gipsbeinen. Alle halbe  Jahre erwischt  er sie  wieder und  bricht ihnen die
Knochen aufs neue,  und jedesmal soll dann der  Erfolg kommen. Nehmt euch in
acht, er darf es nicht, wenn ihr nein sagt."
     "Ach,  Mensch!"  sagt  der  eine  von  den  beiden  mude.  "Besser  die
Fuße als der Schudel. Weißt du,  was du  kriegst, wenn du wieder
draußen bist?  Sollen  sie mit  mir machen, was  sie  wollen, wenn ich
bloß wieder nach Hause komme. Besser ein Klumpfuß als tot."
     Der  andere, ein  junger  Mensch wie wir, will nicht.  Am andern Morgen
lußt der Alte beide  herunterholen und redet und schnauzt so lange auf
sie ein, bis sie doch  einwilligen. Was sollen sie anders tun. - Sie sind ja
nur Muskoten, und er ist ein hohes Tier.  Vergipst und chloroformiert werden
sie wiedergebracht.
     Albert geht es  schlecht. Er  wird geholt und amputiert. Das ganze Bein
bis obenhin wird abgenommen. Nun spricht er fast gar nicht mehr. Einmal sagt
er, er wolle sich erschießen,  wenn er erst wieder an seinen  Revolver
herankume.
     Ein  neuer Transport trifft ein. Unsere Stube erhult zwei Blinde. Einer
davon ist  ein ganz junger  Musiker. Die Schwestern haben nie ein Messer bei
sich, wenn sie ihm  Essen geben;  er hat  einer schon einmal eins entrissen.
Trotz dieser Vorsicht passiert etwas. Abends beim Futtern wird die Schwester
von seinem Bett abgerufen  und stellt den Teller mit der Gabel so lange  auf
seinen Tisch. Er tastet nach der  Gabel, faßt sie und  stußt sie
mit aller Kraft gegen  sein Herz,  dann  ergreift er einen Schuh und schlugt
auf  den  Stiel,  so fest  er kann. Wir rufen um Hilfe, und  drei Mann  sind
nutig, ihm  die  Gabel  wegzunehmen.  Die  stumpfen  Zinken waren schon tief
eingedrungen. Er  schimpft  die  ganze Nacht auf uns, so  daß  niemand
Schlaf findet. Morgens hat er einen Schreikrampf.
     Wieder werden  Betten  frei. Tage  um Tage gehen  hin  in Schmerzen und
Angst,  Stuhnen  und Rucheln. Auch  das Vorhandensein  der Totenzimmer nutzt
nichts  mehr, es sind zu wenig,  die  Leute sterben nachts auch  auf unserer
Stube. Es geht eben schneller als die uberlegung der Schwestern.
     Aber eines Tages fliegt die Tur auf, der flache Wagen rollt herein, und
blaß,  schmal,  aufrecht,  triumphierend,  mit gestruubtem,  schwarzem
Krauskopf sitzt Peter auf  der  Bahre. Schwester Libertine schiebt  ihn  mit
strahlender Miene an sein altes  Bett. Er ist zuruck aus  dem  Sterbezimmer.
Wir haben ihn lungst fur tot gehalten.
     Er sieht sich um: "Was sagt ihr nun?"
     Und selbst Josef muß zugeben, daß er so was zum ersten Male
erlebt.
     Allmuhlich durfen  einige von uns  aufstehen.  Auch ich bekomme Krucken
zum Herumhumpeln.  Doch  ich  mache wenig  Gebrauch davon;  ich kann Alberts
Blick nicht ertragen, wenn ich durchs Zimmer gehe. Er sieht mir immer mit so
sonderbaren Augen nach. Deshalb entschlupfe ich manchmal auf den  Korridor -
dort kann ich mich freier bewegen.
     Im  Stockwerk tiefer  liegen Bauch- und  Ruckenmarkschusse, Kopfschusse
und beiderseitig  Amputierte.  Rechts  im  Flugel  Kieferschusse, Gaskranke,
Nasen-,  Ohren- und  Halsschusse. Links im Flugel Blinde und  Lungenschusse,
Beckenschusse, Gelenkschusse, Nierenschusse, Hodenschusse, Magenschusse. Man
sieht hier erst, wo ein Mensch ubel getroffen werden kann.
     Zwei  Leute sterben an Wundstarrkrampf. Die Haut wird fahl, die Glieder
erstarren,  zuletzt  leben -  lange  -  nur  noch  die  Augen. - Bei manchen
Verletzten  hungt das zerschossene Glied an einem Galgen frei  in  der Luft;
unter die Wunde wird ein Becken gestellt, in das der Eiter tropft. Alle zwei
oder  drei Stunden wird  das  Gefuß geleert.  Andere Leute  liegen  im
Streckverband,  mit  schweren, herabziehenden  Gewichten am  Bett. Ich  sehe
Darmwunden,  die stundig voll  Kot  sind. Der Schreiber des Arztes zeigt mir
Runtgenaufnahmen   von   vullig   zerschmetterten   Huftknochen,  Knien  und
Schultern.
     Man  kann nicht begreifen, daß uber  so zerrissenen  Leibern noch
Menschengesichter sind, in  denen  das Leben  seinen  alltuglichen  Fortgang
nimmt.  Und dabei  ist  dies  nur  ein einziges  Lazarett, nur eine  einzige
Station  -  es  gibt  Hunderttausende  in  Deutschland,  Hunderttausende  in
Frankreich,  Hunderttausende in Rußland. Wie sinnlos ist alles, was je
geschrieben, getan, gedacht wurde,  wenn  so etwas muglich ist! Es muß
alles gelogen  und belanglos sein, wenn die  Kultur von  Jahrtausenden nicht
einmal verhindern konnte, daß diese  Strume von Blut vergossen wurden,
daß diese Kerker der  Qualen zu Hunderttausenden existieren.  Erst das
Lazarett zeigt, was der Krieg ist.
     Ich bin  jung, ich  bin zwanzig Jahre alt;  aber  ich  kenne  vom Leben
nichts anderes als  die Verzweiflung, den  Tod, die Angst und die Verkettung
sinnlosester Oberfluchlichkeit  mit  einem  Abgrund des  Leidens.  Ich sehe,
daß  Vulker   gegeneinandergetrieben  werden  und   sich   schweigend,
unwissend,  turicht,  gehorsam,  unschuldig tuten.  Ich sehe,  daß die
klugsten Gehirne  der  Welt  Waffen und Worte erfinden,  um das  alles  noch
raffinierter  und  lunger  dauernd zu  machen.  Und  mit mir sehen das  alle
Menschen meines Alters hier  und druben,  in der ganzen Welt, mit mir erlebt
das meine Generation. Was werden unsere Vuter tun, wenn wir einmal aufstehen
und vor  sie hintreten und Rechenschaft  fordern? Was erwarten sie von  uns,
wenn  eine  Zeit  kommt,  wo  kein  Krieg  ist?  Jahre hindurch  war  unsere
Beschuftigung Tuten -  es war unser erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom
Leben beschrunkt  sich  auf den Tod. Was soll danach noch geschehen? Und was
soll aus uns werden?
     Der ulteste auf unserer Stube ist Lewandowski. Er ist vierzig Jahre alt
und   liegt   bereits   zehn   Monate   im   Hospital   an   einem  schweren
Bauchschuß.  Erst in  den letzten  Wochen  ist  er  so weit  gekommen,
daß er gekrummt etwas hinken kann.
     Seit einigen Tagen ist er in großer Aufregung. Seine Frau hat ihm
aus dem kleinen Nest  in Polen, wo sie wohnt,  geschrieben, daß sie so
viel Geld zusammen hat, um die Fahrt zu bezahlen und ihn besuchen zu kunnen.
     Sie ist unterwegs und kann jeden Tag  eintreffen.  Lewandowski schmeckt
das Essen nicht mehr, sogar Rotkohl mit Bratwurst verschenkt er, nachdem  er
ein paar Happen  genommen hat. Stundig luuft er mit dem Brief durchs Zimmer,
jeder  hat  ihn schon  ein dutzendmal  gelesen,  die  Poststempel  sind  wer
weiß  wie  oft  schon  gepruft,  die Schrift ist  vor  Fettflecken und
Fingerspuren  kaum  noch  zu erkennen,  und  was  kommen  muß,  kommt:
Lewandowski kriegt Fieber und muß wieder ins Bett.
     Er  hat seine Frau seit zwei  Jahren nicht gesehen.  Sie hat inzwischen
ein Kind geboren, das bringt  sie mit. Aber etwas ganz  anderes  beschuftigt
Lewandowski. Er hatte gehofft, die Erlaubnis zum Ausgehen zu erhalten,  wenn
seine Alte kommt, denn es ist doch klar: Sehen ist ganz schun, aber wenn man
seine Frau nach so langer Zeit wiederhat, will man, wenn  es eben geht, doch
noch was anderes.
     Lewandowski  hat das  alles stundenlang  mit uns besprochen,  denn beim
Kommiß gibt es darin keine Geheimnisse. Es  findet auch  keiner  etwas
dabei. Diejenigen  von uns,  die  schon ausgehen  kunnen, haben ihm ein paar
tadellose  Ecken  in  der Stadt gesagt, Anlagen  und Parks, wo  er ungesturt
gewesen wure, einer wußte sogar ein kleines Zimmer.
     Doch  was  nutzt das alles.  Lewandowski liegt  im Bett und  hat  seine
Sorgen.  Das ganze Leben  macht  ihm keinen  Spaß mehr, wenn  er diese
Sache verpassen  muß.  Wir trusten ihn und versprechen  ihm, daß
wir den Kram schon irgendwie schmeißen werden.
     Am  andern Nachmittag  erscheint seine Frau, ein  kleines, verhutzeltes
Ding  mit  ungstlichen und  eiligen Vogelaugen, in einer  Art von  schwarzer
Mantille mit  Krausen  und  Bundern, weiß der Himmel, wo sie das Stuck
mal geerbt hat.
     Sie  murmelt leise  etwas  und  bleibt  scheu  an der  Tur  stehen.  Es
erschreckt sie, daß wir sechs Mann hoch sind.
     "Na,  Marja",  sagt  Lewandowski  und  schluckt gefuhrlich  mit  seinem
Adamsapfel, "kannst ruhig 'reinkommen, die tun dir hier nichts."
     Sie geht herum und gibt jedem von uns die Hand. Dann zeigt sie das Kind
vor, das inzwischen  in die Windeln  gemacht  hat. Sie hat eine große,
mit Perlen bestickte Tasche bei sich,  aus der sie ein reines Tuch nimmt, um
das Kind flink neu  zu  wickeln. Damit ist  sie uber  die erste Verlegenheit
hinweg, und die beiden fangen an zu reden.
     Lewandowski ist  sehr  kribblig, er schielt immer  wieder uußerst
unglucklich mit seinen runden Glotzaugen zu uns heruber.
     Die Zeit ist gunstig, die  Arztvisite ist vorbei,  es  kunnte huchstens
noch  eine  Schwester ins  Zimmer schauen. Einer geht  deshalb  noch  einmal
hinaus -  spekulieren. Er  kommt zuruck und  nickt. "Kein Aas zu sehen.  Nun
sag's ihr schon, Johann, und mach zu."
     Die beiden unterhalten sich in ihrer  Sprache. Die Frau guckt etwas rot
und   verlegen   auf.  Wir   grinsen   gutmutig   und   machen   wegwerfende
Handbewegungen, was schon  dabei sei! Der Teufel soll alle Vorurteile holen,
die  sind  fur  andere  Zeiten  gemacht,  hier  liegt  der  Tischler  Johann
Lewandowski, ein zum Kruppel geschossener Soldat, und da ist seine Frau, wer
weiß, wann  er  sie  wiedersieht, er will sie  haben, und  er soll sie
haben, fertig.
     Zwei Mann stellen sich vor die Tur, um die Schwestern abzufangen und zu
beschuftigen,  wenn sie zufullig vorbeikommen  sollten. Sie wollen  ungefuhr
eine Viertelstunde aufpassen.
     Lewandowski kann nur auf der Seite liegen, einer packt ihm deshalb noch
ein paar Kissen in den Rucken, Albert kriegt das Kind zu halten, dann drehen
wir  uns ein bißchen  um, die schwarze Mantille verschwindet unter der
Bettdecke, und wir kloppen laut und mit allerhand Redensarten Skat.
     Es geht alles gut. Ich habe einen wusten Kreuz-Solo mit vieren  in  den
Fingern,   der   ungefuhr  noch  rumgeht.  Daruber  vergessen   wir  beinahe
Lewandowski. Nach  einiger Zeit beginnt das Kind zu plurren,  obschon Albert
es  verzweifelt  hin  und her  schwenkt. Es  knistert und  rauscht dann  ein
bißchen, und als wir so beiluufig aufblicken, sehen wir, daß das
Kind schon die Flasche im Mund hat und wieder  bei der Mutter ist. Die Sache
hat geklappt.
     Wir  fuhlen  uns  jetzt  als  eine  große  Familie, die  Frau ist
ordentlich  munter geworden, und  Lewandowski liegt schwitzend und strahlend
da.
     Er packt die gestickte Tasche aus, es  kommen da  ein  paar gute Wurste
zum Vorschein, Lewandowski nimmt das Messer wie einen Blumenstrauß und
subelt das Fleisch in Stucke. Mit großer Handbewegung weist er auf uns
-  und die kleine, verhutzelte Frau geht von einem zum  andern und lacht uns
an  und  verteilt die  Wurst, sie sieht  jetzt direkt hubsch aus  dabei. Wir
sagen Mutter zu ihr, und sie freut sich und klopft uns die Kopfkissen auf.
     Nach einigen Wochen muß ich jeden Morgen ins Zanderinstitut. Dort
wird mein Bein festgeschnallt und bewegt. Der Arm ist lungst geheilt.
     Es laufen neue Transporte aus dem Felde  ein. Die  Verbunde  sind nicht
mehr  aus  Stoff,  sie  bestehen nur  noch  aus  weißem  Krepp-Papier.
Verbandstoff ist zu knapp geworden draußen.
     Alberts Stumpf  heilt gut. Die  Wunde ist fast geschlossen.  In einigen
Wochen  soll er fort in eine Prothesenstation. Er  spricht  noch immer wenig
und  ist viel  ernster als fruher. Oft bricht er  mitten im Gespruch  ab und
starrt vor  sich hin. Wenn  er nicht mit uns andern zusammen  wure, hutte er
lungst  Schluß  gemacht.   Jetzt  aber  ist  er  uber  das  Schlimmste
hinausgelangt. Er sieht schon manchmal beim Skat zu.
     Ich bekomme Erholungsurlaub.
     Meine Mutter  will mich nicht mehr fortlassen.  Sie ist  so schwach. Es
ist alles noch schlimmer als das letztemal.
     Danach werde ich vom Regiment angefordert und fahre wieder ins Feld.
     Der Abschied von meinem Freunde Albert Kropp ist schwer. Aber man lernt
das beim Kommiß mit der Zeit.
        II
     Wir zuhlen die Wochen nicht mehr. Es war Winter, als ich ankam, und bei
den Einschlugen  der Granaten wurden  die gefrorenen Erdklumpen  fast ebenso
gefuhrlich wie  die Splitter. Jetzt sind die  Buume wieder grun. Unser Leben
wechselt  zwischen Front und  Baracken. Wir sind es teilweise schon gewohnt,
der Krieg  ist eine Todesursache wie  Krebs und Tuberkulose, wie Grippe  und
Ruhr.  Die  Todesfulle  sind  nur   viel  huufiger,  verschiedenartiger  und
grausamer.
     Unsere Gedanken sind Lehm, sie  werden geknetet vom  Wechsel der Tage -
sie sind  gut,  wenn wir Ruhe  haben,  und tot,  wenn wir  im  Feuer liegen.
Trichterfelder draußen und drinnen.
     Alle sind so, nicht wir hier allein -  was  fruher war, gilt nicht, und
man weiß es auch  wirklich  nicht mehr. Die Unterschiede, die  Bildung
und  Erziehung schufen, sind fast verwischt und  kaum noch  zu erkennen. Sie
geben manchmal Vorteile im Ausnutzen einer Situation; aber sie bringen  auch
Nachteile mit  sich,  indem  sie  Hemmungen  wachrufen, die erst  uberwunden
werden mussen. Es ist,  als ob  wir fruher  einmal  Geldstucke verschiedener
Lunder gewesen wuren; man  hat  sie  eingeschmolzen,  und  alle  haben jetzt
denselben Prugestempel. Will man  Unterschiede erkennen, dann  muß man
schon  genau das Material prufen. Wir sind Soldaten und erst sputer auf eine
sonderbare und verschumte Weise noch Einzelmenschen.
     Es  ist  eine  große  Bruderschaft,  die  ein  Schimmer  von  dem
Kameradentum der Volkslieder, dem Solidaritutsgefuhl von Struflingen und dem
verzweifelten  Einanderbeistehen von zum Tode Verurteilten seltsam vereinigt
zu einer Stufe von  Leben, das mitten in der Gefahr,  aus der Anspannung und
Verlassenheit des  Todes sich abhebt und  zu einem fluchtigen  Mitnehmen der
gewonnenen Stunden wird, auf gunzlich  unpathetische  Weise. Es ist heroisch
und banal, wenn man es werten wollte - doch wer will das?
     Es ist darin enthalten, wenn  Tjaden  bei einem gemeldeten  feindlichen
Angriff  in rasender Hast seine Erbsensuppe mit Speck ausluffelt, weil er ja
nicht weiß, ob er  in einer Smnde noch lebt. Wir  haben lange  daruber
diskutiert, ob es richtig sei oder nicht. Kat verwirft es, weil er sagt, man
musse mit einem Bauchschuß rechnen, der bei vollem Magen  gefuhrlicher
sei als bei leerem.
     Solche  Dinge sind Probleme fur uns,  sie  sind  uns ernst, und es kann
auch nicht anders sein.  Das Leben  hier an  der Grenze  des Todes  hat eine
ungeheuer  einfache Linie, es  beschrunkt sich  auf das Notwendigste,  alles
andere liegt  in dumpfem Schlaf; - das  ist  unsere Primitivitut und  unsere
Rettung. Wuren wir differenzierter, wir  wuren lungst irrsinnig,  desertiert
oder  gefallen.   Es  ist  wie  eine   Expedition  im  hohen  Eise;  -  jede
Lebensuußerung  darf  nur  der   Daseinserhaltung   dienen   und   ist
zwangsluufig darauf  eingestellt. Alles andere ist verbannt, weil es unnutig
Kraft verzehren wurde. Das ist die einzige Art, uns zu retten, und oft sitze
ich vor  mir selber wie vor einem Fremden, wenn der rutselhafte  Widerschein
des  Fruher  in stillen  Stunden wie  ein matter Spiegel die Umrisse  meines
jetzigen Daseins außer mich stellt, und ich wundere mich dann daruber,
wie das  unnennbare Aktive, das sich  Leben nennt,  sich angepaßt  hat
selbst an diese Form. Alle anderen uußerungen liegen  im Winterschlaf,
das Leben ist nur auf einer stundigen Lauer gegen die Bedrohung des Todes, -
es  hat uns  zu denkenden Tieren gemacht, um uns die Waffe des Instinktes zu
geben, - es hat uns mit Stumpfheit  durchsetzt,  damit wir nicht  zerbrechen
vor dem Grauen, das uns  bei klarem, bewußtem Denken uberfallen wurde,
- es hat in uns  den  Kameradschaftssinn  geweckt, damit wir dem Abgrund der
Verlassenheit entgehen,  -  es  hat  uns  die  Gleichgultigkeit  von  Wilden
verliehen,  damit wir trotz allem  jeden  Moment des Positiven empfinden und
als  Reserve aufspeichern gegen  den Ansturm des  Nichts. So  leben wir  ein
geschlossenes,  hartes Dasein  uußerster Oberfluche,  und nur manchmal
wirft  ein  Ereignis  Funken. Dann  aber  schlugt uberraschend  eine  Flamme
schwerer und furchtbarer Sehnsucht durch.
     Das sind die gefuhrlichen Augenblicke,  die  uns zeigen, daß  die
Anpassung  doch nur  kunstlich  ist, daß  sie  nicht einfach Ruhe ist,
sondern schurfste Anspannung zur Ruhe. Wir unterscheiden uns uußerlich
in  der Lebensform kaum von Buschnegern; aber  wuhrend diese stets  so  sein
kunnen, weil sie  eben so sind und sich durch Anspannung ihrer Geisteskrufte
huchstens fortentwickeln, ist  es bei uns  umgekehrt: unsere inneren  Krufte
sind nicht auf Weiter-, sondern auf Zuruckentwicklung angespannt. Jene  sind
entspannt und  selbstverstundlich so,  wir sind es  uußerst angespannt
und  kunstlich. Und mit Schrecken empfindet  man  nachts,  aus  einem  Traum
aufwachend,  uberwultigt  und  preisgegeben   derBezauberung  heranflutender
Gesichte, wie  dunn der Hak und  die  Grenze ist, die uns von der Dunkelheit
trennt - wir  sind kleine Flammen, notdurftig geschutzt durch schwache Wunde
vor dem Sturm  der Auflusung und der Sinnlosigkeit, in dem  wir flackern und
manchmal  fast  ertrinken. Dann wird  das  gedumpfte Brausen der Schlacht zu
einem  Ring,  der  uns  einschließt, wir kriechen in uns  zusammen und
starren mit großen Augen in die  Nacht. Trustlich fuhlen wir  nun  den
Schlafatem der Kameraden, und so warten wir auf den Morgen.
     Jeder Tag und jede Stunde, jede Granate und jeder Tote wetzen an diesem
dunnen Halt, und die  Jahre  verschleißen ihn rasch. Ich sehe,  wie er
allmuhlich schon um mich herum niederbricht. Da ist die dumme Geschichte mit
Detering.
     Er war einer von denen, die  sich sehr  fur sich  hielten. Sein Ungluck
war, daß er in einem Garten einen Kirschbaum sah. Wir kamen gerade von
der Front, und dieser Kirschbaum stand  in der Nuhe des  neuen  Quartiers an
einer Wegbiegung uberraschend in der Morgendummerung vor uns. Er hatte keine
Blutter, aber er war ein einziger weißer Blutenbusch.
     Abends war  Detering  nicht zu sehen.  Er kam  schließlich an und
hatte ein paar Zweige  mit Kirschbluten in der  Hand. Wir machten uns lustig
und fragten, ob er auf Brautschau wolle. Er gab keine Antwort, sondern legte
sich auf sein Bett. Nachts hurte  ich ihn rumoren, er schien  zu packen. Ich
witterte Unheil und ging zu ihm. Er tat, als wure nichts, und ich sagte ihm:
"Mach keinen Unsinn, Detering."
     "Ach wo - ich kann nur nicht schlafen.
     "Weshalb hast du denn die Kirschzweige geholt?"
     "Ich werde  doch wohl  noch Kirschzweige  holen  durfen",  antwortet er
verstockt - und nach  einer Weile:  "Zu  Hause  habe ich einen  großen
Obstgarten mit Kirschen. Wenn die bluhen, sieht das vom Heuboden aus wie ein
einziges Bettlaken, so weiß. Es ist jetzt die Zeit."
     "Vielleicht  gibt's bald Urlaub.  Es kann auch  sein, daß du, als
Landwirt, abkommandiert wirst."
     Er nickt,  aber  er ist abwesend.  Wenn  diese Bauern aufgeruhrt  sind,
haben  sie   einen   sonderbaren  Ausdruck,  eine  Mischung  von   Kuh   und
sehnsuchtigem Gott, halb blude  und halb hinreißend. Um ihn von seinen
Gedanken  abzubringen, verlange ich ein Stuck Brot von ihm.  Er gibt es  mir
ohne Einschrunkung. Das ist verduchtig, denn er ist sonst knauserig. Deshalb
bleibe ich wach. Es passiert nichts, er ist morgens wie sonst.
     Wahrscheinlich hat er gemerkt,  daß ich ihn beobachtet habe. - Am
ubernuchsten Morgen ist er trotzdem fort. Ich  sehe  es, sage jedoch nichts,
um ihm  Zeit zu  lassen, vielleicht kommt er  durch. Nach  Holland haben  es
schon verschiedene Leute geschafft.
     Beim  Appell  aber fullt  sein Fehlen auf. Nach einer Woche  huren wir,
daß  er gefaßt  ist  von  den  Feldgendarmen, diesen verachteten
Kommißpolizisten.  Er hatte  die Richtung  nach Deutschland genommen -
das war naturlich aussichtslos -, und  ebenso  naturlich hatte er alles sehr
dumm angefangen. Jeder  hutte daraus wissen kunnen, daß die Flucht nur
Heimweh  und momentane Verwirrung war. Doch was begreifen Kriegsgerichtsrute
hundert  Kilometer hinter  der Linie  davon? -  Wir  haben  nichts mehr  von
Detering vernommen.
     Aber  auch  auf  andere   Weise  bricht   es  manchmal  heraus,  dieses
Gefuhrliche, Gestaute - wie aus uberhitzten  Dampfkesseln. Da  ist auch noch
das Ende zu berichten, das Berger fand.
     Schon  lange   sind  unsere  Gruben  zerschossen,  und  wir  haben  die
elastische   Front,   so   daß   wir   eigentlich   keinen   richtigen
Stellungskrieg  mehr fuhren.  Wenn  Angriff und  Gegenangriff  hin  und  her
gegangen sind,  bleibt eine  zerrissene Linie und ein  erbitterter Kampf von
Trichter zu Trichter. Die  vordere Linie ist durchbrochen, und uberall haben
sich Gruppen festgesetzt, Trichternester, von denen aus gekumpft wird.
     Wir sind in einem Trichter,  seitlich sitzen  Englunder, sie rollen die
Flanke  auf und  gelangen hinter uns. Wir  sind umzingelt. Es ist schwierig,
sich  zu  ergeben,  Nebel und  Rauch  schwanken uber uns hin, niemand  wurde
erkennen, daß wir kapitulieren wollen, vielleicht  wollen wir es  auch
gar  nicht, das weiß man selbst nicht in  solchen Momenten.  Wir huren
die   Explosionen  der  Handgranaten  herankommen.   Unser   Maschinengewehr
bestreicht den vorderen Halbkreis. Das Kuhlwasser verdampft, wir reichen die
Kusten eilig herum, jeder pißt hinein, so  haben wir wieder Wasser und
kunnen  weiterfeuern. Aber  hinter  uns kracht  es immer nuher.  In  einigen
Minuten sind wir verloren.
     Da rast  ein  zweites Maschinengewehr auf  kurzeste Entfernung  los. Es
steckt  im  Trichter  neben uns, Berger hat  es  geholt, und  nun setzt  ein
Gegenangriff  von  hinten ein,  wir kommen frei  und finden  Verbindung nach
ruckwurts.
     Als wir nachher in einigermaßen guter Deckung sind, erzuhlt einer
von  den  Essenholern,  daß  ein paar  hundert Schritte  entfernt  ein
verwundeter Meldehund liege.
     "Wo?" fragt Berger.
     Der andere  beschreibt  es ihm. Berger geht los,  um  das Tier zu holen
oder  es zu erschießen. Noch vor einem halben Jahr hutte er sich nicht
darum  gekummert,  sondern  wure  vernunftig  gewesen.  Wir  versuchen,  ihn
zuruckzuhalten.  Doch   als  er  ernsthaft  geht,   kunnen  wir  nur  sagen:
"Verruckt!" und  ihn laufenlassen. Denn diese Anfulle von Frontkoller werden
gefuhrlich,  wenn man den Mann  nicht gleich  zu Boden werfen und festhalten
kann.  Und Berger ist ein Meter achtzig groß, der kruftigste  Mann der
Kompanie.
     Er  ist tatsuchlich verruckt, denn er muß  durch die Feuerwand; -
aber es  ist dieser Blitz, der irgendwo  uber  uns allen  lauert, der in ihn
eingeschlagen ist und ihn  besessen  macht. Bei  andern ist es so, daß
sie zu  toben anfangen,  daß sie wegrennen,  ja einer war da, der sich
mit  Hunden  und  Fußen und Mund  immerfort  in  die Erde  einzugraben
versuchte.
     Es wird  naturlich auch viel  simuliert  mit  solchen Sachen, aber  das
Simulieren  ist  ja eigentlich auch schon ein  Zeichen. Berger, der den Hund
erledigen  will, wird mit einem Beckenschuß weggeholt,  und  einer der
Leute, die es tun, kriegt sogar dabei noch eine Gewehrkugel in die Wade.
     Muller ist tot. Man  hat ihm aus nuchster Nuhe eine Leuchtkugel  in den
Magen geschossen. Er lebte noch  eine halbe Stunde bei  vollem Verstande und
furchtbaren Schmerzen. Bevor er starb,  ubergab er mir seine Brieftasche und
vermachte mir seine Stiefel -  dieselben, die er damals von Kemmerich geerbt
hat. Ich  trage sie,  denn  sie passen mir  gut. Nach  mir  wird Tjaden  sie
bekommen, ich habe sie ihm versprochen.
     Wir haben Muller zwar  begraben kunnen,  aber  lange wird er wohl nicht
ungesturt bleiben.  Unsere Linien werden zuruckgenommen.  Es  gibt druben zu
viele frische englische und amerikanische Regimenter. Es gibt zuviel  Corned
beef  und  weißes  Weizenmehl.   Und  zuviel  neue  Geschutze.  Zuviel
Flugzeuge.
     Wir  aber  sind mager und ausgehungert. Unser Essen ist so schlecht und
mit so viel Ersatzmitteln gestreckt, daß wir krank  davon  werden. Die
Fabrikbesitzer in Deutschland sind  reiche Leute  geworden - uns zerschrinnt
die Ruhr die Durme. Die Latrinenstangen sind stets dicht gehockt voll; - man
sollte  den  Leuten  zu  Hause  diese  grauen,  gelben,  elenden,  ergebenen
Gesichter hier zeigen, diese verkrummten Gestalten, denen die Kolik das Blut
aus  dem   Leibe   quetscht  und  die   huchstens   mit   verzerrten,   noch
schmerzbebenden  Lippen sich angrinsen:  "Es hat gar keinen Zweck, die  Hose
wieder hochzuziehen -"
     Unsere Artillerie ist ausgeschossen - sie  hat zuwenig Munition -,  und
die Rohre sind so ausgeleiert, daß sie unsicher schießen und bis
zu  uns heruberstreuen. Wir haben  zuwenig Pferde. Unsere  frischen  Truppen
sind  blutarme,  erholungsbedurftige  Knaben,  die  keinen  Tornister tragen
kunnen, aber  zu  sterben  wissen. Zu  Tausenden.  Sie verstehen nichts  vom
Kriege,  sie gehen  nur  vor und lassen sich  abschießen. Ein einziger
Flieger knallte aus Spaß zwei Kompanien von ihnen weg,  ehe  sie etwas
von Deckung wußten, als sie frisch aus dem Zuge kamen.
     "Deutschland muß bald leer sein", sagt Kat.
     Wir sind ohne  Hoffnung,  daß  einmal  ein Ende  sein kunnte. Wir
denken uberhaupt  nicht so weit. Man kann einen Schuß bekommen und tot
sein; man kann verletzt werden,  dann ist das Lazarett die nuchste  Station.
Ist man nicht amputiert, dann  fullt man  uber kurz oder lang  einem  dieser
Stabsurzte in die Hunde, die das  Kriegsverdienstkreuz  im Knopfloch,  einem
sagen:  "Wie, das  bißchen  verkurzte Bein? An der Front  brauchen Sie
nicht zu laufen, wenn Sie Mut haben. Der Mann ist k.v. Wegtreten!"
     Kat erzuhlt eine  der Geschichten, die die ganze Front  von den Vogesen
bis Flandern entlanglaufen, - von dem Stabsarzt, der Namen  vorliest auf der
Musterung  und,  wenn  der  Mann  vortritt,  ohne  aufzusehen,  sagt:  "K.v.
Wirbrauchen Soldaten  draußen." Ein Mann mit  Holzbein tritt vor,  der
Stabsarzt sagt wieder: k.v. - "Und da", Kat hebt die Stimme,  "sagt der Mann
zu ihm: >Ein Holzbein habe ich schon; aber  wenn ich jetzt hinausgehe und
wenn  man mir den  Kopf abschießt, dann lasse  ich mir  einen Holzkopf
machen und werde Stabsarzt!<" - Wir sind alle tief  befriedigt uber diese
Antwort.
     Es  mag gute urzte geben, und viele sind  es; doch einmal fullt bei den
hundert Untersuchungen jeder Soldat einem  dieser zahlreichen  Heldengreifer
in  die Finger, die sich bemuhen, auf  ihrer Liste muglichst viele a.v.  und
g.v. in k.v. zu verwandeln.
     Es gibt  manche  solcher  Geschichten,  sie  sind  meistens  noch  viel
bitterer. Aber sie haben trotzdem nichts mit Meuterei und Miesmachen zu tun;
sie sind ehrlich und nennen die Dinge beim Namen;  denn es besteht sehr viel
Betrug, Ungerechtigkeit und Gemeinheit beim Kommiß. Ist es nicht viel,
daß  trotzdem  Regiment  auf  Regiment  in  den  immer  aussichtsloser
werdenden  Kampf  geht  und   daß  Angriff  auf  Angriff  erfolgt  bei
zuruckweichender, zerbruckelnder Linie?
     Die  Tanks  sind vom  Gesputt zu  einer  schweren  Waffe geworden.  Sie
kommen, gepanzert, in  langer  Reihe gerollt  und verkurpern  uns  mehr  als
anderes das Grauen des Krieges.
     Die Geschutze, die  uns das Trommelfeuer  heruberschicken, ]  sehen wir
nicht, die angreifenden Linien der Gegner sind Menschen wie wir - aber diese
Tanks  sind Maschinen, ihre  Kettenbunder  laufen endlos wie der  Krieg, sie
sind die  Vernichtung, wenn  sie fuhllos in Trichter hineinrollen und wieder
hochklettern, unaufhaltsam,  eine Flotte brullender, rauchspeiender  Panzer,
unverwundbare,   Tote   und  Verwundete  zerquetschende  Stahltiere   -  Wir
schrumpfen zusammen vor ihnen  in unserer dunnen Haut, vor ihrer  kolossalen
Wucht  werden  unsere  Arme  zu   Strohhalmen  und  unsere  Handgranaten  zu
Streichhulzern.
     Granaten,  Gasschwaden  und  Tankflottillen  - Zerstampfen, Zerfressen,
Tod.
     Ruhr,  Grippe,  Typhus  -Wurgen,  Verbrennen,Tod.   Graben,   Lazarett,
Massengrab - mehr Muglichkeiten gibt es nicht.
     Bei  einem  Angriff fullt unser  Kompaniefuhrer  Bertinck. Er war einer
dieser prachtvollen Frontoffiziere, die  in jeder brenzligen Situation vorne
sind. Seit zwei Jahren war er bei uns, ohne daß er verwundet wurde, da
mußte ja endlich  etwas  passieren. Wir sitzen in einem Loch  und sind
eingekreist. Mit  den  Pulverschwaden weht der Gestank von ul oder Petroleum
heruber. Zwei Mann mit einem Flammenwerfer werden entdeckt, einer trugt  auf
dem Rucken den  Kasten, der  andere hat in  den Hunden den Schlauch, aus dem
das  Feuer  spritzt.  Wenn  sie  so  nahe  herankommen,  daß  sie  uns
erreichen, sind wir erledigt, denn zuruck kunnen wir gerade jetzt nicht. Wir
nehmen sie unter Feuer.  Doch sie  arbeiten sich  nuher heran,  und  es wird
schlimm.  Bertinck liegt mit uns im Loch. Als  er merkt, daß wir nicht
treffen, weil  wir bei dem  scharfen Feuer zu sehr  auf Deckung bedacht sein
mussen,  nimmt er  ein  Gewehr,  kriecht aus  dem  Loch und  zielt,  liegend
aufgestutzt. Er schießt - im selben Moment schlugt eine  Kugel bei ihm
klatschend auf, er ist getroffen. Doch er  bleibt liegen und zielt weiter  -
einmal  setzt  er ab  und  legt  dann  aufs  neue  an;  endlich  kracht  der
Schuß. Bertinck lußt das Gewehr fallen, sagt: "Gut", und rutscht
zuruck.  Der hinterste der  beiden Flammenwerfer ist verletzt, er fullt, der
Schlauch rutscht dem andern weg, das Feuer  spritzt nach allen  Seiten,  und
der Mann brennt.
     Bertinck hat einen  Brustschuß.  Nach einer  Weile schmettert ihm
ein Splitter das Kinn weg. Der gleiche Splitter hat noch die Kraft, Leer die
Hufte  aufzureißen.  Leer  stuhnt und  stemmt  sich  auf die  Arme, er
verblutet  rasch, niemand  kann ihm helfen.  Wie ein leerlaufender  Schlauch
sackt er nach ein  paar Minuten zusammen. Was nutzt es ihm nun, daß er
in der Schule ein so guter Mathematiker war.
     Die Monate rucken weiter. Dieser Sommer  1918 ist der blutigste und der
schwerste. Die  Tage  stehen wie Engel in Gold und Blau  unfaßbar uber
dem  Ring  der  Vernichtung. Jeder hier weiß, daß wir  den Krieg
verlieren.  Es wird  nicht  viel daruber gesprochen,  wir gehen zuruck,  wir
werden nicht wieder angreifen kunnen nach dieser großen Offensive, wir
haben keine Leute und keine Munition mehr.
     Doch der Feldzug geht weiter - das Sterben geht weiter - Sommer 1918  -
Nie ist uns das  Leben in seiner kargen Gestalt so  begehrenswert erschienen
wie  jetzt; - der rote Klatschmohn auf  den  Wiesen unserer  Quartiere,  die
glatten Kufer  an  den Grashalmen,  die warmen Abende  in den  halb-dunklen,
kuhlen  Zimmern,  die schwarzen,  geheimnisvollen  Buume der  Dummerung, die
Sterne und das Fließen des Wassers, die Truume und der  lange Schlaf -
o Leben, Leben, Leben!
     Sommer 1918 -  Nie ist  schweigend  mehr ertragen  worden  als  in  dem
Augenblick des Aufbruchs zur Front. Die wilden  und aufpeitschenden Geruchte
von Waffenstillstand und Frieden  sind aufgetaucht, sie verwirren die Herzen
und machen den Auf bruch schwerer als jemals!
     Sommer 1918 - Nie ist das Leben vorne bitterer und grauenvoller als  in
den Stunden des Feuers,  wenn die bleichen Gesichter  im Schmutz liegen  und
die Hunde verkrampft sind zu einem einzigen: Nicht! Nicht! Nicht jetzt noch!
Nicht jetzt noch im letzten Augenblick!
     Sommer 1918  - Wind  der Hoffnung,  der  uber  die  verbrannten  Felder
streicht,  rasendes  Fieber  der Ungeduld, der  Enttuuschung, schmerzlichste
Schauer des Todes, unfaßbare Frage: Warum? Warum  macht man kein Ende?
Und warum flattern diese Geruchte vom Ende auf?
     Es gibt so  viele  Flieger hier, und sie sind so sicher,  daß sie
auf einzelne  Leute Jagd  machen  wie auf Hasen. Auf  ein deutsches Flugzeug
kommen  mindestens  funf englische und amerikanische. Auf  einen  hungrigen,
muden  deutschen Soldaten im Graben  kommen funf kruftige, frische andere im
gegnerischen.  Auf  ein  deutsches Kommißbrot  kommen funfzig  Buchsen
Fleischkonserven  druben.  Wir sind  nicht  geschlagen,  denn  wir  sind als
Soldaten  besser  und  erfahrener;  wir  sind  einfach  von  der  vielfachen
ubermacht zerdruckt und zuruckgeschoben.
     Einige   Regenwochen  liegen   hinter   uns  -  grauer   Himmel,  graue
zerfließende Erde, graues  Sterben.  Wenn wir hinausfahren, dringt uns
bereits die Nusse  durch die Muntel und Kleider, - und so bleibt es die Zeit
vorne  auch. Wir  werden nicht trocken.  Wer noch Stiefel trugt,  bindet sie
oben mit Sandsucken zu, damit das Lehmwasser nicht so rasch hineinluuft. Die
Gewehre  verkrusten, die Uniformen  verkrusten, alles ist fließend und
aufgelust, eine  triefende, feuchte,  ulige  Masse Erde, in  der die  gelben
Tumpel  mit  spiralig  roten  Blutlachen  stehen  und Tote,  Verwundete  und
uberlebende langsam versinken.
     Der Sturm peitscht uber uns hin,  der Splitterhagel reißt aus dem
wirren  Grau und Gelb die spitzen Kinderschreie der Getroffenen, und  in den
Nuchten  stuhnt das zerrissene Leben sich  muhsam  dem  Schweigen zu. Unsere
Hunde sind Erde, unsere Kurper Lehm und unsere Augen Regentumpel. Wir wissen
nicht, ob wir noch leben.
     Dann  sturzt  die  Hitze wie  eine Qualle feucht und schwul  in  unsere
Lucher, und an einem dieser  Sputsommertage, beim  Essenholen, fullt Kat um.
Wir beide  sind  allein.  Ich verbinde seine  Wunde; das  Schienbein scheint
zerschmettert  zu  sein.  Es  ist  ein  Knochenschuß, und  Kat  stuhnt
verzweifelt: "Jetzt noch - gerade jetzt noch -"
     Ich truste ihn. "Wer weiß, wie lange der Schlamassel noch dauert!
Du bist erst mal gerettet -"
     Die Wunde beginnt heftig  durchzubluten. Kat kann nicht allein bleiben,
damit  ich eine Bahre zu holen versuche.  Ich weiß auch nirgendwo eine
Sanitutsstation in der Nuhe.
     Kat ist  nicht sehr schwer; deshalb  nehme ich ihn auf  den Rucken  und
gehe zuruck mit ihm zum Verbandsplatz.
     Zweimal machen  wir Rast. Er hat starke  Schmerzen durch den Transport.
Wir sprechen  nicht viel. Ich habe  den  Kragen  meiner Jacke aufgemacht und
atme heftig, ich schwitze, und mein Gesicht ist gedunsen von der Anstrengung
des  Tragens.  Trotzdem  drunge  ich, daß wir  weitergehen,  denn  das
Terrain ist gefuhrlich.
     "Geht's wieder, Kat?"
     "Muß wohl, Paul."
     "Dann los."
     Ich richte ihn auf, er steht auf dem unverletzten Bein und hult sich an
einem Baum fest. Dann fasse ich vorsichtig das verwundete Bein, er gibt sich
einen Ruck, und ich nehme auch das Knie des gesunden Beines unter den Arm.
     Unser  Weg wird  schwieriger. Manchmal pfeift eine  Granate  heran. Ich
gehe,  so schnell ich  vermag, denn das Blut von Kats Wunde tropft zu Boden.
Wir  kunnen uns nur  schlecht schutzen vor  den Einschlugen,  denn  ehe  wir
Deckung  nehmen, sind sie lungst  voruber. Um abzuwarten, legen  wir uns  in
einen kleinen Trichter. Ich gebe Kat Tee aus meiner Feldflasche. Wir rauchen
eine  Zigarette. "Ja, Kat", sage ich trubsinnig, "nun kommen  wir  doch noch
auseinander."
     Er schweigt und sieht mich an.
     "Weißt du  noch,  Kat, wie wir die Gans  requirierten? Und wie du
mich aus dem  Schlamassel holtest, als ich noch  ein kleiner Rekrut und  zum
erstenmal  verwundet  war? Damals habe ich noch geweint.  Kat, es  sind fast
drei Jahre jetzt."
     Er nickt.
     Die   Angst  vor   dem  Alleinsein   steigt   in   mir  auf.  Wenn  Kat
abtransportiert ist, habe ich keinen Freund mehr hier.
     "Kat, wir mussen uns  auf jeden Fall wiedersehen, wenn wirklich Frieden
ist, ehe du zuruckkommst."
     "Glaubst  du,  daß ich  mit dem Knochen da  noch mal k.v. werde?"
fragt er bitter.
     "Du wirst  ihn  in  Ruhe  ausheilen.  Das  Gelenk  ist  ja in  Ordnung.
Vielleicht klappt es doch damit."
     "Gib mir noch eine Zigarette", sagt er.
     "Vielleicht kunnen wir irgend etwas sputer zusammen machen, Kat." - Ich
bin  sehr traurig, es ist  unmuglich, daß Kat - Kat, mein  Freund, Kat
mit den  Hungeschultern und dem  dunnen,  weichen  Schnurrbart, Kat, den ich
kenne auf eine  andere  Weise als jeden  anderen  Menschen, Kat, mit dem ich
diese  Jahre geteilt habe -, es ist unmuglich, daß  ich Kat vielleicht
nicht wiedersehen soll.
     "Gib mir deine Adresse fur zu Hause,  Kat, auf jeden Fall. Und hier ist
meine, ich schreibe sie dir auf."
     Den Zettel  schiebe ich in meine Brusttasche.  Wie  verlassen ich schon
bin, obschon  er noch neben mir sitzt. Soll ich mir rasch  in den  Fuß
schießen, um bei ihm bleiben zu kunnen? Kat gurgelt plutzlich und wird
grun und gelb. "Wir wollen weiter", stammelt er.
     Ich springe auf, gluhend, ihm zu helfen, ich nehme ihn  hoch  und setze
mich in Lauf, einen gedehnten, langsamen Dauerlauf, damit sein Bein nicht zu
sehr schlenkert.
     Mein Hals ist trocken, es tanzt mir rot und schwarz vor den Augen,  als
ich verbissen und ohne Gnade  weiterstolpernd,  endlich die  Sanitutsstation
erreiche.
     Dort breche  ich in  die  Knie, habe aber noch so viel Kraft, nach  der
Seite  umzufallen,  wo Kats gesundes Bein ist. Langsam richte ich mich  nach
einigen Minuten wieder auf. Meine Beine und meine  Hunde zittern heftig, ich
habe Muhe, meine Feldflasche  zu finden,  um einen  Schluck  zu neh