à¨å Œ à¨ï ¥¬ àª. —¥àë© ®¡¥«¨áª (germ)
        Erich Maria Remarque. Der schwarze Obelisk
            Roman
     (Auszug:
     Kapitel 1, 12, 13
     OCR: Korrektor)
     Der Roman  einer  Generation  zwischen  den Kriegen: Das Inflationsjahr
1923. Es ist die Zeit der Spekulanten und  Schieber, der kleinen Beamten und
großen  Kaufleute, der verarmten  Rentner  und Kriegsversehrten, einer
Gesellschaft in moralischer Auflusung, Eine ganze Generation hat auf bittere
Weise gelernt zu uberleben -  aber nicht, sich im Leben zurechtzufinden. Wie
Ludwig,  der  im Krieg wie  so viele  andere seine Jugend  verlor und  nicht
weiß, wo er hingehurt Auf  der Suche  nach  Liebe und einem  Platz  im
leben begegnet er der schunen, aber schizophrenen Isabelle..,
     "Mit seinem Schwarzen Obelisken hat Erich Maria Remarque  einer kurzen,
aber wesentlichen Epoche der jungeren deutschen Geschichte ein literarisches
Denkmal gesetzt." Frankfurter Allgemeine Zeitung
     Scheltet nicht, wenn ich  einmal von alten  Zeiten rede. Die Welt liegt
wieder im fahlen Licht der Apokalypse,  der Geruch des Blutes und der  Staub
der  letzten  Zersturung  sind  noch  nicht verflogen,  und  schon  arbeiten
Laboratorien und Fabriken  aufs  neue mit  Hochdruck daran, den  Frieden  zu
erhalten durch  die Erfindung  von Waffen, mit denen  man den ganzen Erdball
sprengen kann.
     Den  Frieden  der Welt! Nie  ist mehr  daruber  geredet und nie weniger
dafur getan  worden als  in unserer Zeit; nie hat es  mehr falsche Propheten
gegeben,  nie  mehr Lugen,  nie mehr Tod, nie mehr  Zersturung und nie  mehr
Trunen  als  in unserem Jahrhundert, dem zwanzigsten,  dem des Fortschritts,
der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordens. -
     Darum schelte  nicht,  wenn ich einmal zuruckgehe  zu  den  sagenhaften
Jahren, als die Hoffnung noch wie eine Flagge uber uns wehte und  wir  an so
verduchtige Dinge glaubten wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz - und
auch daran, daß ein  Weltkrieg  genug Belehrung  sein  musse fur  eine
Generation. -
     1 Die Sonne scheint  in das Buro  der Grabdenkmalsfirma  Heinrich Kroll
& Suhne. Es ist April 1923, und das  Geschuft geht gut. Das Fruhjahr hat
uns nicht im Stich gelassen, wir verkaufen  glunzend und werden arm dadurch,
aber was kunnen wir machen - der Tod ist unerbittlich und  nicht abzuweisen,
und menschliche Trauer verlangt nun einmal  nach  Monumenten  in  Sandstein,
Marmor  und,  wenn  das  Schuldgefuhl  oder die Erbschaft betruchtlich sind,
sogar  nach dem kostbaren schwarzen schwedischen  Granit, allseitig poliert.
Herbst und  Fruhjahr  sind die  besten Jahreszeiten fur die Hundler  mit den
Utensilien  der Trauer- dann  sterben  mehr  Menschen  als im Sommer und  im
Winter  -; im  Herbst, weil die  Sufte schwinden, und  im Fruhjahr, weil sie
erwachen und  den geschwuchten Kurper verzehren wie ein zu dicker Docht eine
zu  dunne Kerze.  Das  wenigstens  behauptet  unser  ruhrigster  Agent,  der
Totengruber Liebermann vom Stadtfriedhof, und  der  muß  es wissen; er
ist achtzig  Jahre alt, hat uber zehntausend  Leichen eingegraben,  sich von
seiner  Provision an Grabdenkmulern ein Haus am Fluß  mit einem Garten
und  einer Forellenzucht gekauft und ist durch seinen Beruf ein  abgeklurter
Schnapstrinker geworden. Das einzige, was er haßt, ist das Krematorium
der Stadt. Es ist unlautere Konkurrenz.  Wir mugen es auch nicht.  An  Urnen
ist nichts zu verdienen.
     Ich sehe auf die Uhr. Es  ist kurz vor Mittag,  und da heute  Sonnabend
ist,   mache   ich   Schluß.  Ich  stulpe   den  Blechdeckel  auf  die
Schreibmaschine,  trage  den Vervielfultigungsapparat  "Presto"  hinter  den
Vorhang, ruume  die  Steinproben beiseite  und  nehme  die  photographischen
Abzuge  von  Kriegerdenkmulern   und  kunstlerischem   Grabschmuck  aus  dem
Fixierbad. Ich bin nicht nur Reklamechef, Zeichner und Buchhalter der Firma;
ich  bin seit einem Jahr auch ihr einziger Buroangestellter und  als solcher
nicht einmal vom Fach.
     Genießerisch hole ich eine Zigarre aus der Schublade. Es ist eine
schwarze Brasil. Der Reisende fur die Wurttembergische Metallwarenfabrik hat
sie  mir  am  Morgen gegeben, um  hinterher zu  versuchen, mir  einen Posten
Bronzekrunze  anzudrehen;  die   Zigarre   ist  also  gut.  Ich  suche  nach
Streichhulzern, aber, wie fast immer, sind sie verlegt. Zum Gluck brennt ein
kleines Feuer im Ofen. Ich rolle einen Zehnmarkschein zusammen, halte ihn in
die Glut und  zunde  mit  damit die Zigarre  an. Das Feuer im Ofen ist  Ende
April  eigentlich nicht mehr nutig; es  ist  nur  ein Verkaufseinfall meines
Arbeitgebers  Georg Kroll. Er  glaubt, daß  Leute in Trauer, die  Geld
ausgeben  mussen, das lieber  in  einem  warmen  Zimmer  tun, als  wenn  sie
frieren. Trauer sei bereits ein Frieren  der Seele, und wenn dazu noch kalte
Fuße kumen, sei es schwer, einen guten Preis herauszuholen. Wurme taue
auf;  auch  den Geldbeutel.  Deshalb ist unser  Buro uberheizt,  und  unsere
Vertreter haben als obersten Grundsatz eingepaukt  bekommen, nie  bei kaltem
Wetter oder Regen  zu  versuchen, auf  dem Friedhof einen  Abschluß zu
machen - immer nur in  der  warmen Bude  und, wenn muglich, nach dem  Essen.
Trauer, Kulte und Hunger sind schlechte Geschuftspartner.
     Ich werfe den Rest des Zehnmarkscheins in den Ofen und richte mich auf.
Im  selben   Moment  hure   ich,  wie  im   Hause   gegenuber  ein   Fenster
aufgestoßen wird.  Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen, was los
ist. Vorsichtig beuge ich  mich uber den Tisch, als hutte ich noch etwas  an
der Schreibmaschine zu  tun. Dabei  schiele ich  verstohlen in einen kleinen
Handspiegel, den ich so gestellt  habe, daß ich das Fenster beobachten
kann.  Es ist, wie immer,  Lisa, die Frau des Pferdeschluchters Watzek,  die
nackt dort steht und guhnt und sich reckt. Sie  ist erst jetzt aufgestanden.
Die Straße ist alt und schmal,  Lisa kann uns sehen und wir  sie,  und
sie  weiß  es; deshalb  steht sie  da.  Plutzlich  verzieht sie  ihren
großen Mund, lacht mit allen Zuhnen und zeigt auf den Spiegel. Sie hat
ihn  mit ihren  Raubvogelaugen entdeckt. Ich urgere  mich, erwischt zu sein,
benehme mich aber, als merke ich nichts und gehe in einer  Rauchwolke in den
Hintergrund des Zimmers. Nach einer Weile komme ich zuruck. Lisa grinst. Ich
blicke hinaus, aber ich sehe sie nicht an, sondern tue, als winke ich jemand
auf   der  Straße  zu.   Zum   uberfluß   werfe  ich  noch  eine
Kußhand  ins Leere.  Lisa fullt  darauf herein.  Sie ist neugierig und
beugt sich vor, um  nachzuschauen,  wer da sei. Niemand ist da. Jetzt grinse
ich. Sie deutet urgerlich mit dem Finger auf die Stirn und verschwindet.
     Ich weiß eigentlich nicht, warum ich diese Komudie auffuhre. Lisa
ist das, was man ein Prachtweib nennt, und ich kenne einen Haufen Leute, die
gern ein paar Millionen zahlen wurden, um jeden Morgen einen solchen Anblick
zu genießen.  Ich genieße ihn auch, aber trotzdem reizt er mich,
weil  diese  faule  Krute, die erst  mittags  aus  dem Bett klettert,  ihrer
Wirkung so  unverschumt  sicher ist.  Sie  kommt gar nicht auf den Gedanken,
daß nicht jeder sofort mit ihr  schlafen muchte. Dabei ist  ihr das im
Grunde ziemlich  gleichgultig.  Sie steht am  Fenster  mit  ihrer  schwarzen
Ponyfrisur  und  ihrer  frechen  Nase  und  schwenkt  ein  Paar  Bruste  aus
erstklassigem Carrara-Marmor herum wie  eine  Tante vor einem Suugling  eine
Spielzeugklapper. Wenn sie ein Paar  Luftballons hutte,  wurde sie  fruhlich
die hinaushalten. Da  sie nackt ist, sind es eben ihre Bruste,  das ist  ihr
vullig egal. Sei freut sich  ganz einfach daruber,  daß  sie lebt  und
daß alle  Munner verruckt nach ihr sein mussen, und dann vergißt
sie es und fullt mit ihrem gefrußigen Mund uber ihr Fruhstuck her. Der
Pferdeschluchter Watzek tutet inzwischen mìde, alte Droschkenguule.
     Lisa  erscheint   aufs   neue.  Sie  trugt  jetzt  einen   ansteckbaren
Schnurrbart und ist außer sich uber  diesen  geistvollen  Einfall. Sie
grußte  militurisch,  und  ich  nehme  schon  an,  daß  sie   so
unverschumt ist, damit den alten Feldwebel a.D. Knopf von nebenan zu meinen;
dann aber  erinnere  ich mich, daß Knopfs Schlafzimmer nur ein Fenster
nach dem Hof hat.  Und Lisa ist raffiniert genug,  zu  wissen, daß man
sie von den paar Nebenhuusern nicht beobachten kann.
     Plutzlich, als  bruchen irgendwo Schalldumme, beginnen die Glocken  der
Marienkirche zu luuten. Die Kirche steht am Ende  der Gasse, und die Schluge
druhnen, als fielen sie vom Himmel direkt ins Zimmer.  Gleichzeitig sehe ich
vor dem  zweiten Burofenster,  das nach  dem Hof geht, wie eine geisterhafte
Melone  den kahlen  Schudel  meines Arbeitgebers  vorubergleiten. Lisa macht
eine  rupelhafte  Geburde  und  schließt  ihr  Fenster.  Die  tugliche
Versuchung des heiligen Antonius ist wieder einmal uberstanden.
     Georg Kroll ist knapp vierzig Jahre; aber  sein Kopf glunzt bereits wie
die Kegelbahn im Gartenrestaurant Boll. Er glunzt,  seit  ich ihn kenne, und
das  ist   jetzt  uber   funf   Jahre  her.  Er  glunzt  so,   daß  im
Schutzengraben, wo wir im selben  Regiment  waren, ein Extrabefehl  bestand,
daß  Georg auch bei ruhigster Front seinen Stahlhelm aufbehalten musse
-  so  sehr hutte seine  Glatze selbst den sanftmutigsten  Gegner  verlockt,
durch einen Schuß festzustellen, ob sie ein riesiger  Billardball  sei
oder nicht.
     Ich reiße  die Knochen  zusammen  und  melde:  "Hauptquartier der
Firma   Kroll   und   Suhne!   Stab   bei   Feindbeobachtung.    Verduchtige
Truppenbewegungen im Bezirk des Pferdeschluchters Watzek."
     "Aha!" sagt Georg. "Lisa bei der Morgengymnastik. Ruhren  Sie Gefreiter
Bodmer!  Warum tragen Sie vormittags keine Scheuklappen wie  das Paukenpferd
einer  Kavalleriekapelle  und  schutzen  so Ihre Tugend? Kennen Sie die drei
kostbarsten Dinge des Lebens nicht?"
     "Wie  soll ich  sie kennen, Herr Oberstaatsanwalt,  wenn ich das  Leben
selbst noch suche?"
     "Tugend, Einfalt  und Jugend",  dekretiert Georg. "Einmal verloren, nie
wieder  zu gewinnen! Und was ist  hoffnungsloser  als  Erfahrung. Alter  und
kahle Intelligenz?"
     "Armut, Krankheit und Einsamkeit", erwidere ich und ruhre.
     "Das  sind  nur andere  Namen fur  Erfahrung, Alter und  mißleite
Intelligenz."
     Georg  nimmt mir die  Zigarre  aus  dem Mund, betrachtet  sie kurz  und
bestimmt  sie  wie  ein   Sammler   einen   Schmetterling.  "Beute  von  der
Metallwarenfabrik."
     Er  zieht eine schune angerauchte, goldbraune Meerschaumspitze aus  der
Tasche, paßt die Brasil hinein und raucht sie weiter.
     "Ich habe nichts gegen die Beschlagnahme  der Zigarre", sage  ich.  "Es
ist rohe  Gewalt, und mehr kennst  du  ehemaliger Unteroffizier ja nicht vom
Leben. Aber wozu die Zigarrenspitze? Ich bin kein Syphilitiker."
     "Und ich kein Homosexueller."
     "Georg", sage ich.  "Im  Kriege  hast du mit meinem Luffel  Erbsensuppe
gegessen, wenn ich sie in der Kuche gestohlen hatte. Und der Luffel wurde in
meinen schmutzigen Stiefeln aufbewahrt und nie gewaschen."
     Georg betrachtet die Asche der Brasil. Sie ist schneeweiß.
     "Der  Krieg ist viereinhalb Jahre vorbei", doziert er. "Damals sind wir
durch maßloses  Ungluck  zu  Menschen  geworden.  Heute  hat  uns  die
schamlose Jagd nach Besitz aufs neue zu Ruubern gemacht. Um das zu
     tarnen, brauchen  wir wieder den Firnis  gewisser Manieren. Ergo!  Aber
hast  du  nicht  noch eine  zweite  Brasil?  Die  Metallwarenfabrik versucht
Angestellte nie mit einer einzigen zu bestechen."
     Ich  hole  die  zweite Zigarre  aus  der Schublade  und  gebe sie  ihm.
"Intelligenz, Erfahrung und Alter scheinen doch fur etwas gut zu sein", sage
ich.
     Er grinst und hundigt mir dafur  eine Schachtel  Zigaretten aus, in der
sechs fehlen. "War sonst was los?" fragt er.
     "Nichts.   Keine   Kunden.   Aber   ich   muß  dringend  um  eine
Gehaltserhuhung ersuchen."
     "Schon wieder? Du hast doch erst gestern eine gehabt!"
     "Nicht  gestern.  Heute  morgen  um  neun.  Lumpige  achttausend  Mark.
Immerhin, heute morgen um neun war das wenigstens noch etwas. Inzwischen ist
der  neue  Dollarkurs  herausgekommen,  und ich  kann nun statt einer  neuen
Krawatte nur noch eine Flasche billigen Wein dafur kaufen.  Ich brauche aber
eine Krawatte."
     "Wie steht der Dollar jetzt?"
     "Heute mittag sechsunddreißigtausend  Mark. Heute morgen waren es
noch dreißigtausend."
     Georg Kroll  besieht seine Zigarre. "Sechsunddreißigtausend!  Das
geht ja wie das Katzenrammeln! Wo soll das enden?"
     "In  einer  allgemeinen  Pleite,  Herr  Feldmarschall",  erwidere  ich.
"Inzwischen aber mussen wir leben. Hast du Geld mitgebracht?"
     "Nur einen kleinen  Handkoffer  voll fur  heute und morgen.  Tausender,
Zehntausender, sogar noch ein paar Pakete mit lieben, alten Hundertern. Etwa
funf Pfund Papiergeld. Die Inflation geht ja jetzt so schnell, daß die
Reichsbank   mit   dem   Drucken   nicht   mehr    nachkommt.   Die    neuen
Hunderttausendernoten sind erst  seit vierzehn  Tagen raus -und jetzt mussen
bald  schon  Millionenscheine  gedruckt  werden.  Wann  sind   wir   in  den
Milliarden?"
     "Wenn es so weitergeht, in ein paar Monaten."
     "Mein Gott!" seufzt Georg. "Wo  sind  die  schunen  ruhigen Zeiten  von
1922. Da stieg  der Dollar  in  einem  Jahr  nur von  zweihundertfunfzig auf
zehntausend.  Ganz  zu  schweigen  von  1921  -  da  waren  es  nur  lumpige
dreihundert Prozent."
     Ich sehe aus dem Fenster, das zur Straße hinausgeht.  Lisa  trugt
jetzt  einen  seidenen  Schlafrock,  mit Papageien  bedruckt. Sie hat  einen
Spiegel an die Fensterklinke gehungt und burstet ihre Muhne.
     "Sieh das  da an", sage ich bitter. "Es sut nicht, es erntet nicht, und
der himmlische Vater ernuhrt es  doch. Den Schlafrock hatte sie gestern noch
nicht. Seide, meterweise! Und ich  kann  nicht den Zaster  fur eine Krawatte
zusammenkriegen."
     Georg  schmunzelt: "Du bist eben  ein  schlichtes Opfer der  Zeit. Lisa
dagegen schwimmt mit vollen  Segeln auf den Wogen  der  deutschen Inflation.
Sie ist die Schune  Helena  der Schieber.  Mit Grabsteinen kann man  nun mal
nicht  reich werden,  mein Sohn. Warum gehst du nicht  in die Heringsbranche
oder in den Aktienhandel, wie dein Freund Willy?"
     "Weil  ich  ein sentimentaler  Philosoph bin  und  den Grabsteinen treu
bleibe.  Also wie ist es mit  der Gehaltserhuhung? Auch Philosophen brauchen
einen bescheidenen Aufwand an Garderobe."
     "Kannst du den Schlips nicht morgen kaufen?"
     "Morgen ist Sonntag. Und morgen brauche ich ihn."
     Georg  holt vom Vorplatz den Koffer mit  Geld herein.  Er greift hinein
und wirft nur zwei Pakete zu. "Reicht das?"
     Ich  sehe, daß es meistens  Hunderter sind.  "Gib ein halbes Kilo
mehr von dem Tapetenpapier", sage ich. "Das hier sind huchstens funftausend.
Katholische Schieber legen  das sonntags als Meßpfennig auf den Teller
und schumen sich, weil sie so geizig sind."
     Georg kratzt sich den kahlen  Schudel - eine  atavistische Geste,  ohne
Sinn  bei  ihm.  Dann reicht  er mir  einen  dritten Packen. "Gott sei Dank,
daß morgen Sonntag ist", sagt er. "Da gibt es keine Dollarkurse. Einen
Tag in der Woche steht die  Inflation still. Gott  hat das  sicher nicht so.
gemeint, als er den Sonntag schuf."
     "Wie ist es  eigentlich mit uns  ?" frage  ich. "Sind wir  pleite, oder
geht es uns glunzend?"
     Georg tut einen langen Zug aus seiner Meerschaumspitze.
     "Ich glaube, das weiß heute keiner mehr  von sich in Deutschland.
Nicht einmal der guttliche  Stinnes. Die Sparer sind  naturlich alle pleite.
Die Arbeiter und Gehaltsempfunger auch. Von den  kleinen Geschuftsleuten die
meisten, ohne es zu wissen. Wirklich glunzend geht es nur
     den Leuten mit Devisen, Aktien oder großen Sachwerten. Also nicht
uns. Genugt das zu deiner Erleuchtung?"
     "Sachwerte!" Ich sehe hinaus in den Garten,  in dem unser  Lager steht.
"Wir  haben  wahrhaftig nicht mehr allzu viele. Hauptsuchlich  Sandstein und
gegossenes Zeug. Aber wenig Marmor und Granit.  Und  das bißchen,  was
wir  haben,  verkauft  uns  dein Bruder mit Verlust. Am  besten wure es, wir
verkauften gar nichts, was?"
     Georg   braucht  nicht   zu  antworten.   Eine  Fahrradglocke  erklingt
draußen.   Schritte  kommen  uber  die  alten  Stufen.  Jemand  hustet
rechthaberisch. Es ist das Sorgenkind des Hauses, Heinrich Kroll junior, der
zweite Inhaber der Firma.
     Er ist ein kleiner,  korpulenter Mann mit einem  strohigen  Schnurrbart
und  staubigen,  gestreiften   Hosen,  die   durch   Radfahrklammern   unten
zusammengehalten werden.  Mit  leichter  MiŸbilligung streifen  seine  Augen
Georg  und  mich.  Wir sind  fur  ihn  die Burohengste, die  den ganzen  Tag
herumbummeln,  wuhrend er der Mann  der  Tat ist, der den  Außendienst
betreut. Er ist unverwustlich. Mit  dem  Morgengrauen zieht er jeden Tag zum
Bahnhof  und dann mit dem Fahrrad auf die entlegensten  Durfer, wenn  unsere
Agenten,  die Totengruber  oder Lehrer, eine Leiche gemeldet  haben.  Er ist
nicht ungeschickt. Seine Korpulenz ist vertrauenswurdig; deshalb hult er sie
durch  fleißige Fruh- und  Dummerschoppen auf der  Huhe.  Bauern haben
kleine Dicke lieber als verhungert aussehende  Dunne. Dazu kommt sein Anzug.
Er trugt nicht, wie die Konkurrenz  bei Steinmeyer, einen schwarzen Gehrock;
auch   nicht,   wie   die   Reisenden   von   Hollmann   und  Klotz,   blaue
Straßenanzuge  - das eine ist zu deutlich,  das andere zu unbeteiligt.
Heinrich  Kroll  trugt  den  kleinen   Besuchsanzug,   gestreifte  Hose  mit
Marengo-Jackett, dazu  einen altmodischen, harten Stehkragen  mit Ecken  und
eine gedumpfte Krawatte mit viel Schwarz darin. Er hat vor zwei Jahren einen
Augenblick geschwankt,  als er dieses Kostum bestellte; er uberlegte, ob ein
Cutaway nicht passender fur ihn wure, entschied sich dann aber dagegen, weil
er zu klein  ist.  Es  war  ein glucklicher  Verzicht;  auch  Napoleon hutte
lucherlich  in  einem  Schwalbenschwanz  ausgesehen.  So,  in  der  heutigen
Aufmachung,  wirkt Heinrich  Kroll wie ein  kleiner Empfangschef  des lieben
Gottes - und das ist genau, wie es sein soll. Die
     Radfahrklammern   geben   dem   Ganzen  noch  einen   heimeligen,  aber
raffinierten Zug - von Leuten, die sie tragen,  glaubt man, im Zeitalter des
Autos billiger kaufen zu kunnen.
     Heinrich  legt seinen  Hut ab und wischt sich mit dem Taschentuch  uber
die Stirn. Es ist draußen ziemlich kuhl, und er schwitzt nicht; er tut
es  nur,  um  uns  zu  zeigen,  was fur  ein  Schwerarbeiter  er  gegen  uns
Schreibtischwanzen ist.
     "Ich   habe  das   Kreuzdenkmal  verkauft",  sagte  er  mit  gespielter
Bescheidenheit, hinter der ein gewaltiger Triumph schweigend brullt.
     "Welches? Das kleine aus Marmor?" frage ich hoffnungsvoll.
     "Das große", erwidert er noch schlichter und starrt mich an.
     "Was?  Das  aus  schwedischem  Granit  mit  dem  Doppelsockel  und  den
Bronzeketten?"
     "Das! Oder haben wir noch ein anderes?"
     Heinrich genießt  deutlich seine blude  Frage als einen Huhepunkt
sarkastischen Humors.
     "Nein", sage ich. "Wir haben kein anderes mehr.  Das ist ja  das Elend!
Es war das letzte. Der Felsen von Gibraltar."
     "Wie hoch hast du verkauft?" fragt jetzt Georg Kroll.
     Heinrich reckt sich. "Fur dreiviertel Millionen,  ohne Inschrift,  ohne
Fracht und ohne Einfassung. Die kommen noch dazu."
     "Großer Gott!" sagen Georg und ich gleichzeitig.
     Heinrich spendet uns einen Blick voll Arroganz; tote Schellfische haben
manchmal so einen  Ausdruck.  "Es  war  ein schwerer Kampf", erklurt er  und
setzt aus irgendeinem Grunde seinen Hut wieder auf.
     "Ich wollte, Sie hutten ihn verloren", erwidere ich.
     "Was?"
     "Verloren! Den Kampf!"
     "Was?" wiederholt Heinrich gereizt. Ich irritiere ihn leicht.
     "Er wollte, du huttest nicht verkauft", sagt Georg Kroll.
     "Was? Was soll denn das nun wieder heißen? Verdammt noch mal, man
plagt sich von morgens bis abends und  verkauft glunzend,  und dann wird man
als Lohn  in  dieser Bude mit Vorwurfen  empfangen! Geht mal selber  auf die
Durfer und versucht -"
     "Heinrich", unterbricht Georg ihn milde. "Wir wissen, daß du dich
     schindest. Aber wir leben heute in  einer Zeit, wo Verkaufen arm macht.
Wir haben seit Jahren eine Inflation. Seit dem Kriege, Heinrich. Dieses Jahr
aber  ist  die Inflation  in  galoppierende Schwindsucht verfallen.  Deshalb
bedeuten Zahlen nichts mehr."
     "Das weiß ich selbst. Ich bin kein Idiot."
     Niemand   antwortet   darauf   etwas.   Nur   Idioten   machen   solche
Feststellungen. Und denen zu widersprechen ist zwecklos. Ich  weiß das
von  meinen  Sonntagen in der  Irrenanstalt.  Heinrich  zieht  ein Notizbuch
hervor. "Das Kreuzdenkmal hat  uns  im  Einkauf funfzigtausend  gekostet. Da
sollte man meinen, daß  dreiviertel  Millionen ein ganz netter  Profit
wuren."
     Er  plutschert wieder in  Sarkasmus. Er  glaubt, er musse ihn  bei  mir
anwenden, weil ich  einmal  Schulmeister gewesen  bin. Ich war das kurz nach
dem  Kriege, in einem  verlassenen  Heidedorf,  fur  neun  Monate,  bis  ich
entfloh, die Wintereinsamkeit wie einen heulenden Hund auf den Fersen.
     "Es wure ein noch grußerer Profit, wenn Sie  statt des herrlichen
Kreuzdenkmals   den  verdammten  Obelisken  draußen  vor  dem  Fenster
verkauft hutten", sage ich. "Den hat Ihr verstorbener Herr Vater vor sechzig
Jahren  bei  der Grundung des Geschuftes noch billiger  eingekauft - fur  so
etwas wie funfzig Mark, der uberlieferung zufolge."
     "Den Obelisken? Was  hat  der Obelisk  mit  diesem Geschuft zu tun? Der
Obelisk ist unverkuuflich, das weiß jedes Kind."
     "Eben deshalb", sage ich. "Um den  wure es nicht schade gewesen. Um das
Kreuz ist es schade. Das mussen wir fur teures Geld wiederkaufen."
     Heinrich Kroll schnauft kurz. Er hat Polypen in seiner dicken Nase  und
schwillt leicht  an.  "Wollen  Sie mir  vielleicht  erzuhlen, daß  ein
Kreuzdenkmal heute dreiviertel Millionen im Einkauf kostet?"
     "Das  werden  wir bald  erfahren", sagt Georg  Kroll. "Riesenfeld kommt
morgen hier an. Wir mussen bei den Odenwulder Granitwerken neu bestellen; es
ist nicht mehr viel auf Lager."
     "Wir haben noch den Obelisken", erklure ich tuckisch.
     "Warum verkaufen Sie den nicht selber?" schnappt Heinrich.
     "So, Riesenfeld kommt morgen; da werde ich hierbleiben und auch mal mit
ihm reden! Dann werden wir sehen, was Preise sind!"
     Georg und ich wechseln einen  Blick. Wir wissen, daß wir Heinrich
von Riesenfeld fernhalten  werden, selbst wenn wir ihn besoffen  machen oder
ihm Rizinusul in  seinen  Sonntagsfruhschoppen  mischen mussen.  Der  treue,
altmodische   Geschuftsmann  wurde  Riesenfeld   zu  Tode   langweilen   mit
Kriegserinnerungen und  Geschichten aus der guten alten Zeit, als eine  Mark
noch  eine  Mark und die  Treue das Mark der Ehre  war, wie unser  geliebter
Feldmarschall  so treffend  geuußert  hat. Heinrich  hult  große
Stucke auf  solche Plattituden; Riesenfeld nicht. Riesenfeld hult Treue  fur
das, was man von anderen  verlangt, wenn es nachteilig fur sie ist - und von
sich selbst, wenn man Vorteile davon hat.
     "Preise wechseln jeden Tag", sagt Georg. "Da ist nichts zu besprechen."
     "So?  Glaubst du  vielleicht  auch,  daß ich  zu  billig verkauft
habe?"
     "Das kommt darauf an. Hast du Geld mitgebracht?"
     Heinrich  starrt Georg an. "Mitgebracht? Was  ist denn  das nun wieder?
Wie kann ich Geld mitbringen, wenn wir  noch nicht geliefert  haben? Das ist
doch unmuglich!"
     "Das  ist nicht  unmuglich", erwidere ich. "Es ist im  Gegenteil  heute
recht gebruuchlich. Man nennt das Vorauszahlung."
     "  Vorauszahlung!"  Heinrichs dicker  Zinken  zuckt  veruchtlich.  "Was
verstehen  Sie  Schulmeister  davon  ?  Wie  kann man  in  unserem  Geschuft
Vorauszahlungen  verlangen?  Von  den trauernden  Hinterbliebenen, wenn  die
Krunze auf  dem Grab noch nicht verwelkt sind? Wollen Sie da Geld  verlangen
fur etwas, was noch nicht geliefert ist?"
     "Naturlich!  Wann sonst? Dann sind  sie schwach und  rucken es leichter
heraus."
     "Dann sind sie schwach? Haben Sie eine Ahnung! Dann sind sie hurter als
Stahl! Nach all den Unkosten fur den  Arzt,  den Sarg, den Pastor, das Grab,
die  Blumen,  den   Totenschmaus  -   da   kriegen  Sie  keine   zehntausend
Vorauszahlung,  junger Mann!  Die  Leute mussen  sich  erst erholen! Und sie
mussen das, was sie bestellen, erst  auf  dem Friedhof stehen sehen, ehe sie
zahlen, und nicht nur  auf  dem Papier im Katalog, selbst wenn  er von Ihnen
gezeichnet  ist,  mit  chinesischer  Tusche  und  echtem Blattgold  fur  die
Inschriften und ein paar trauernden Hinterbliebenen als Zugabe."
     Wieder eine  der persunlichen  Entgleisungen Heinrichs! Ich beachte sie
nicht. Es ist wahr, ich  habe die Grabdenkmuler fur unsern Katalog nicht nur
gezeichnet und auf dem  Presto-Apparat vervielfultigt, sondern sie  auch, um
die   Wirkung  zu  erhuhen,  bemalt  und   mit   Atmosphure   versehen,  mit
Trauerweiden,    Stiefmutterchenbeeten,    Zypressen     und    Witwen    in
Trauerschleiern,  die die Blumen begießen.  Die Konkurrenz starb  fast
vor Neid, als wir  mit dieser Neuigkeit herauskamen; sie hatte weiter nichts
als  einfache Lagerphotographien, und auch  Heinrich  fand  die  Idee damals
großartig,  besonders die Anwendung  des Blattgoldes.  Um  den  Effekt
vullig  naturlich zu machen, hatte ich numlich die gezeichneten und gemalten
Grabsteine mit Inschriften aus in  Firnis aufgelusten Blattgold  geschmuckt.
Ich verlebte eine kustliche Zeit dabei; jeden Menschen, den ich nicht leiden
konnte,  ließ  ich sterben und  malte  ihm  seinen Grabstein -  meinem
Unteroffizier  aus der  Rekrutenzeit,  der  heute  noch fruhlich  lebt,  zum
Beispiel:  Hier  ruht nach  langem, unendlich qualvollem Leiden, nachdem ihm
alle  seine  Lieben  in  den Tod  vorausgegangen  sind, der Schutzmann  Karl
Flumer.  Das  war  nicht  ohne  Berechtigung  - der  Mann hatte  mich  stark
geschunden  und mich im  Felde  zweimal auf Patrouillen geschickt, von denen
ich nur  durch  Zufall lebendig zuruckgekommen war. Da konnte man  ihm schon
allerhand wunschen!
     "Herr Kroll", sage ich,  "erlauben Sie, daß wir Ihnen noch einmal
kurz die  Zeit erkluren. Die  Grundsutze,  mit denen  Sie aufgewachsen sind,
sind edel,  aber  sie fuhren heute zum  Bankrott. Geld verdienen kann  jetzt
jeder;  es  wertbestundig halten  fast  keiner. Das  Wichtige ist  nicht, zu
verkaufen, sondern  einzukaufen  und so rasch wie muglich bezahlt zu werden.
Wir  leben  im  Zeitalter  der  Sachwerte.  Geld  ist  eine  Illusion; jeder
weiß es,  aber viele glauben es  trotzdem noch  nicht. Solange das  so
ist,  geht die  Inflation weiter, bis das absolute Nichts erreicht  ist. Der
Mensch  lebt  zu 75 Prozent von seiner  Phantasie und nur zu  25 Prozent von
Tatsachen  - das  ist seine Sturke  und  seine Schwuche,  und deshalb findet
dieser Hexentanz der Zahlen immer noch  Gewinner und Verlierer.  Wir wissen,
daß wir keine absoluten  Gewinner sein kunnen; wir  muchten  aber auch
nicht ganz zu den  Verlierern zuhlen. Die  dreiviertel Million, fur  die Sie
heute verkauft haben, ist, wenn sie erst in zwei Monaten bezahlt wird, nicht
mehr wert als heute funfzigtausend Mark. Deshalb -"
     Heinrich ist dunkelrot  angeschwollen. Jetzt unterbricht er  mich. "Ich
bin kein Idiot",  erklurt  er zum zweiten Male. "Und Sie brauchen  mir keine
solchen albernen  Vortruge zu  halten. Ich  weiß  mehr vom praktischen
Leben als Sie.  Und  ich will lieber in Ehren untergehen als zu fragwurdigen
Schiebermethoden greifen, um zu existieren.  Solange ich  Verkaufsleiter der
Firma bin, wird das Geschuft im alten, anstundigen Sinne weitergefuhrt,  und
damit basta! Ich weiß, was ich weiß, und damit ist es  bis jetzt
gegangen, und so  wird es weitergehen! Ekelhaft,  einem die  Freude an einem
gelungenen Geschuft so verderben zu wollen! Warum sind Sie nicht Arschpauker
geblieben?"
     Er greift nach seinem Hut und wirft die Tur schmetternd hinter sich zu.
Wir  sehen  ihn  auf  seinen  stummigen  X-Beinen  uber  den  Hof  stampfen,
halbmiliturisch mit seinen  Radfahrklammern.  Er ist im Abmarsch  zu  seinem
Stammtisch in der Gastwirtschaft Blume.
     "Freude am Geschuft will er haben, dieser burgerliche Sadist", sage ich
urgerlich.  "Auch das  noch!  Wie  kann man unser  Geschuft  anders als  mit
frommem Zynismus  betreiben, wenn  man  seine  Seele bewahren  will?  Dieser
Heuchler aber will Freude am Schacher mit Toten  haben und hult das noch fur
sein angestammtes Recht!"
     Georg lacht.  "Nimm  dein  Geld,  und  laß uns  auch  aufbrechen!
Wolltest du dir nicht noch eine Krawatte  kaufen? Vorwurts damit! Heute gibt
es keine Gehaltserhuhungen mehr!"
     Er nimmt  den Koffer mit dem Geld und  stellt ihn achtlos in das Zimmer
neben  dem Buro, wo er schluft. Ich verstaue meine Packen in  einer Tute mit
der Aufschrift: Konditorei Keller  - feinste  Backwaren,  Lieferung auch ins
Haus.
     "Kommt Riesenfeld tatsuchlich?" frage ich.
     "Ja, er hat telegraphiert."
     "Was will er? Geld? Oder verkaufen?"
     "Das werden wir sehen", sagt Georg und schließt das Buro ab.
     2  Wir treten aus der Tur.  Die heftige Sonne  des sputen Aprils sturzt
auf uns herunter, als wurde  ein riesiges goldenes Becken mit Licht und Wind
ausgeschuttet.  Wir bleiben stehen. Der Garten steht in grunen Flammen,  das
Fruhjahr  rauscht im  jungen  Laub  der Pappel wie eine Harfe, und der erste
Flieder bluht.
     "Inflation!" sage ich. "Da hast du  auch eine - die wildeste von allen.
Es  scheint, daß  selbst die  Natur weiß, daß nur noch  in
Zehntausenden und Millionen gerechnet  wird. Sieh dir an,  was die Tulpen da
machen! Und das Weiß druben  und das Rot und uberall das Gelb! Und wie
das riecht!"
     Georg nickt, schnuppert und nimmt einen Zug aus  der Brasil; Natur  ist
fur ihn doppelt schun, wenn er dabei eine Zigarre rauchen kann.
     Wir fuhlen die Sonne auf unseren Gesichtern und blicken auf die Pracht.
Der Garten hinter  dem  Hause  ist  gleichzeitig der  Ausstellungsplatz  fur
unsere  Denkmuler.  Da stehen  sie,  angefuhrt wie eine Kompanie  von  einem
dunnen Leutnant, von dem Obelisken Otto, der  gleich  neben der  Tur  seinen
Posten  hat. Er ist das Stuck, das  ich Heinrich  geraten habe zu verkaufen,
das ulteste Denkmal der Firma,  ihr  Wahrzeichen und  eine  Monstrositut  an
Geschmacklosigkeit.   Hinter   ihm   kommen   zuerst  die  billigen  kleinen
Hugelsteine aus  Sandstein  und  gegossenem Zement, die  Grabsteine  fur die
Armen, die  brav  und anstundig  gelebt und  geschuftet  haben  und  dadurch
naturlich zu nichts gekommen sind. Dann folgen die grußeren, schon mit
Sockeln, aber  immer  noch billig,  fur  die, die schon etwas Besseres  sein
muchten, wenigstens im Tode, da es im Leben nicht muglich war. Wir verkaufen
mehr davon  als  von den ganz einfachen, und  man  weiß nicht,  ob man
diesen  versputeten Ehrgeiz der  Hinterbliebenen ruhrend oder absurd  finden
soll.  Das  nuchste sind  die  Hugelsteine aus  Sandstein mit  eingelassenen
Platten aus  Marmor, grauem Syenit oder  schwarzem  schwedischem Granit. Sie
sind bereits zu teuer fur den Mann, der  von seiner Hunde Arbeit gelebt hat.
Kleine Kaufleute, Werkmeister, Handwerker,  die einen eigenen Betrieb gehabt
haben, sind die  Kunden dafur - und naturlich  der  ewige  Unglucksrabe, der
kleine Beamte, der immer mehr vorstellen muß, als er ist, dieser brave
Stehkragenproletarier, von  dem keiner weiß,  wie er es  fertigbringt,
heutzutage noch zu existieren, da seine Gehaltserhuhungen stets viel zu sput
kommen.
        Mitte des Kapitels 6
     braucht, kann man  ihm nicht folgen und ihm  nicht  beistehen, das habe
ich  oft genug gesehen,  wenn  ich  im Kriege in die toten  Gesichter meiner
Kameraden geblickt  habe. Jeder  hat  seinen eigenen Tod  und  muß ihn
allein sterben, und niemand kann ihm dabei helfen.
     "Du lußt mich nicht allein?" flustert sie.
     "Ich lasse dich nicht allein."
     "Schwure es", sagt sie und bleibt stehen.
     "Ich schwure es", erwidere ich unbedenklich.
     "Gut, Rudolf." Sie seufzt, als wure jetzt vieles leichter.
     "Aber vergiß es nicht. Du vergißt so oft."
     "Ich werde es nicht vergessen."
     "Kusse mich."
     Ich ziehe  sie  an  mich.  Ich  fuhle  ein  sehr  leichtes  Grauen  und
weiß   nicht,  was  ich  tun   soll,  und  kusse  sie  mit  trockenen,
geschlossenen Lippen.
     Sie hebt  ihre Hunde um meinen  Kopf und hult ihn. Plutzlich  spure ich
einen  scharfen  Biß  und stoße  sie  zuruck.  Meine  Unterlippe
blutet. Sie hat hineingebissen. Ich starre  sie an. Sie luchelt. Ihr Gesicht
ist  verundert.  Es  ist  buse  und  schlau.  "Blut!"  sagt  sie  leise  und
triumphierend. "Du wolltest mich wieder betrugen, ich kenne dich! Aber jetzt
kannst du es nicht mehr. Es ist besiegelt. Du kannst nicht mehr weg!"
     "Ich  kann nicht mehr weg", sage  ich  ernuchtert. "Meinetwegen!  Darum
brauchst du mich  aber doch nicht wie eine Katze anzufallen. Wie das blutet!
Was soll ich der Oberin sagen, wenn sie mich so sieht?"
     Isabelle  lacht. "Nichts", erwidert  sie.  "Warum mußt  du  immer
etwas sagen? Sei doch nicht so feige!"
     Ich  spure  das Blut lau in meinem  Munde. Mein Taschentuch hat  keinen
Zweck - die Wunde muß sich von selbst schließen. Genevi¨ve steht
vor mir. Sie ist plutzlich Jenny.  Ihr Mund ist klein und hußlich, und
sie  luchelt  schlau   und  boshaft.  Dann  beginnen  die  Glocken  fur  die
Maiandacht. Eine  Pflegerin kommt den Weg  entlang.  Ihr weißer Mantel
schimmert ungewiß im Zwielicht.
     Meine Wunde ist wuhrend der Andacht getrocknet, ich  habe meine tausend
Mark  empfangen und  sitze jetzt mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek
hat seine seidenen Gewunder in  der kleinen Sakristei abgelegt. Vor funfzehn
Minuten war  er  noch  eine mystische  Figur -weihrauchumdampft stand er  in
Brokat und Kerzenlicht da und hob die goldene Monstranz mit dem Leib Christi
in  der Hostie uber die  Kupfe  der frommen Schwestern und  die Schudel  der
Irren,  die  Erlaubnis  haben, bei der Andacht dabeizusein - jetzt aber,  im
schwarzen  abgeschabten  Rock  und  dem  leicht  verschwitzten  weißen
Kragen,  der  hinten statt  vorne  geschlossen  ist,  ist  er  nur  noch ein
einfacher  Agent Gottes, gemutlich, kruftig, mit den roten Backen, der roten
Nase  und den  geplatzten  Aderchen  darin,  die  den  Liebhaber des  Weines
kennzeichnen. Er  weiß es nicht  -  aber er  war  mein Beichtvater fur
manche Jahre  vor dem Kriege, als wir, auf Anordnung der Schule, jeden Monat
beichten und kommunizieren  mußten. Wer  nicht ganz  dumm war, ging zu
Bodendiek. Er war schwerhurig,  und da  man bei der Beichte flustert, konnte
er  nicht  verstehen,  was  fur  Sunden  man bekannte. Er  gab  deshalb  die
leichtesten Bußen  auf.  Ein paar Vaterunser, und man war aller Sunden
ledig  und  konnte  Fußball  spielen  gehen  oder  in der  Studtischen
Leihbucherei versuchen, verbotene  Bucher zu bekommen. Das war etwas anderes
als beim Dompastor, zu  dem  ich einmal geriet, weil  ich es eilig hatte und
weil vor Bodendieks  Beichtstuhl  eine lange  Schlange  Wartender stand. Der
Dompastor  gab mir  eine  heimtuckische  Buße auf:  Ich mußte in
einer Woche wieder zur Beichte kommen, und als  ich es tat, fragte  er mich,
warum ich da sei. Da man in der Beichte nicht lugen darf, sagte  ich es ihm,
und er gab mir als Buße  ein paar Dutzend Rosenkrunze zu beten und den
Befehl, die folgende Woche ebenfalls wiederzukommen. Das ging so weiter, und
ich verzweifelte fast - ich sah mich bereits  mein ganzes Leben an der Kette
des Dompastors zu wuchentlichen Konfessionen verurteilt. Zum Gluck bekam der
heilige Mann  in der  vierten  Woche  die Masern  und  mußte  im  Bett
bleiben. Als mein Beichttag herankam, ging ich zu Bodendiek und erklurte ihm
mit lauter Stimme die Lage - der  Dompastor  habe  mich verpflichtet,  heute
wieder zu beichten, aber er sei krank. Was ich  tun  solle? Zu  ihm hingehen
kunne ich nicht, da Masern ansteckend seien. Bodendiek entschied,  daß
ich bei  ihm ebensogut  beichten kunne;  Beichte sei  Beichte  und  Preister
Priester. Ich tat es  und war  frei. Den Dompastor aber mied ich seither wie
die Pest.
     Wir sitzen in einem kleinen Zimmer  in der Nuhe des großen Saales
fur  die   freien   Kranken.  Es   ist   kein  eigentliches  Eßzimmer;
Bucherregale  stehen darin, ein Topf  mit  weißen Geranien,  ein  paar
Stuhle und Sessel und ein runder Tisch. Die Oberin hat uns eine Flasche Wein
geschickt, und wir  warten  auf das Essen.  Ich hutte  vor  zehn Jahren  nie
geglaubt, einmal mit meinem Beichtvater eine Flasche Wein  zu trinken - aber
ich hutte damals auch nie geglaubt,  daß ich einmal Menschen tuten und
dafur nicht aufgehungt, sondern dekoriert werden  wurde, und trotzdem ist es
so gekommen.
     Bodendiek probiert den  Wein.  "Ein  Schloß Reinhardshausener von
der Domune  des Prinzen Heinrich  von Preußen", erklurt  er anduchtig.
"Die Oberin hat  uns  da etwas  sehr  Gutes geschickt. Verstehen Sie was von
Wein?"
     "Wenig", sage ich.
     "Sie sollten es lernen. Speise und  Trank sind Gaben  Gottes.  Man soll
sie genießen und verstehen."
     "D