er  Tod ist  sicher auch eine Gabe Gottes",  erwidere ich und  blicke
durch das  Fenster  in den dunklen Garten.  Es  ist windig geworden, und die
schwarzen Kronen der Buume schwanken. "Soll man den  auch genießen und
verstehen?"
     Bodendiek sieht mich uber den Rand seines Weinglases belustigt an. "Fur
einen  Christen ist der Tod kein Problem.  Er  braucht ihn  nicht gerade  zu
genießen;  aber  verstehen  kann er ihn ohne weiteres. Der Tod ist der
Eingang zum ewigen Leben. Da ist  nichts zu furchten. Und fur viele  ist  er
eine Erlusung."
     "Warum?"
     "Eine Erlusung von Krankheit, Schmerz, Einsamkeit und Elend."
     Bodendiek  nimmt einen genießerischen Schluck und  lußt ihn
hinter seinen roten Backen im Munde umhergehen.
     "Ich weiß", sage ich. "Die Erlusung vom irdischen Jammertal.
     Warum hat Gott es eigentlich geschaffen?" Bodendiek sieht im Augenblick
nicht so  aus, als  kunne er das Jammertal nicht ertragen.  Er ist  rund und
voll und hat die Schuße seines Priesterrocks uber die Lehne des Stuhls
gebreitet,  damit  sie nicht  zerknittern unter  dem Druck seines  kruftigen
Hinterns. So
        Ende des Kapitels 11
     "Ich  hutte es nicht  sagen kunnen! Das  nicht!  Selbst  wenn  es  mein
sofortiger Tod gewesen w¤re. Es liegt nicht in meinem Charakter."
     "Das stimmt", sage ich. "Der Geizknochen wure lieber verreckt."
     "Das meine ich", erklurt Eduard, aufatmend, Hilfe gefunden zu haben. Er
wischt  sich die Stirn.  Seine Locken sind naß,  so hat ihn die letzte
Drohung  Valentins erschreckt.  Er  sah  schon  einen  Prozeß  um  das
"Walhalla" vor sich. "Also meinetwegen,  fur dieses Mal", sagt er  rasch, um
nicht weiter bedrungt zu werden. "Kellner, eine halbe Flasche Mosel."
     "Johannisberger Langenberg, eine  ganze  Flasche",  korrigiert Valentin
und wendet sich an mich. "Darf ich dich zu einem Glas einladen?"
     "Und ob!" erwidere ich.
     "Halt!" sagt Eduard. "Das  war bestimmt nicht in der Abmachung! Sie war
nur fur Valentin allein! Ludwig kostet mich ohnehin schon jeden Tag schweres
Geld, der Blutsauger mit den entwerteten Eßmarken!"
     "Sei ruhig, du  Giftmischer",  erwidere  ich.  "Dies ist  geradezu eine
Karma-Verknupfung. Du schießt  auf mich  mit Sonetten,  ich bade meine
Wunden  dafur  in deinem Rheinwein. Willst du, daß  ich einer gewissen
Dame  einen  Zwulfzeiler  in  der  Art  des  Aretino  uber  diese  Situation
zuschicke, du Wucherer an deinem Lebensretter?"
     Eduard verschluckt sich. "Ich brauche frische Luft", murmelt er wutend.
"Erpresser! Zuhulter! Schumt ihr euch eigentlich nie?"
     "Wir   schumen    uns   uber    schwierigere    Dinge,   du   harmloser
Millionenzuhler."  Valentin   und   ich  stoßen  an.  Der   Wein   ist
hervorragend.
     "Wie  ist  es mit  dem Besuch im Haus  der Sunde?" fragt Otto  Bambuss,
scheu vorubergleitend.
     "Wir gehen bestimmt, Otto. Wir sind es der Kunst schuldig."
     "Warum trinkt man eigentlich am liebsten bei Regen?" fragt Valentin und
schenkt neu ein. "Es mußte doch umgekehrt sein."
     "Muchtest du fur alles immer eine Erklurung haben?"
     "Naturlich nicht.  Wo  bliebe sonst  die Unterhaltung? Mir ist das  nur
aufgefallen."
     "Vielleicht  ist  es   der   Herdentrieb,   Valentin.  Flussigkeit   zu
Flussigkeit."
     "Mag sein. Aber ich pisse auch ufter an Tagen, wenn es regnet.  Das ist
doch zumindest sonderbar."
     Du  pißt mehr,  weil du mehr  trinkst.  Was ist daran sonderbar?"
Stimmt."  Valentin  nickt erleichtert. "Daran habe ich nicht gedacht.  Fuhrt
man auch mehr Kriege, weil mehr Menschen geboren werden?"
     12 Bodendiek  streicht  wie  eine große schwarze Kruhe  durch den
Nebel. "Nun", fragt er jovial. "Verbessern Sie noch immer die Welt?"
     "Ich betrachte sie", erwidere ich.
     "Aha! Der Philosoph! Und was finden Sie?"
     Ich schaue  in sein munteres Gesicht, das rot  und naß  vom Regen
unter  dem Schlapphut  leuchtet. "Ich finde, daß  das  Christentum die
Welt in zweitausend  Jahren  nicht wesentlich  weitergebracht hat", erwidere
ich.
     Einen Augenblick  verundert sich die wohlwollend uberlegene Miene; dann
ist  sie  wieder  wie  vorher.   "Meinen   Sie   nicht,  daß  Sie  ein
bißchen jung fur solche Urteile sind?"
     "Ja - aber  finden Sie nicht, daß es ein trostloses Argument ist,
jemand seine Jugend vorzuwerfen? Haben Sie nichts anderes?"
     "Ich  habe  eine  ganze  Menge   anderes.  Aber  nicht   gegen   solche
Albernheiten. Wissen Sie nicht, daß jede Verallgemeinerung ein Zeichen
von Oberfluchlichkeit ist?"
     "Ja", sage ich mude. "Ich habe das auch nur gesagt,  weil es regnet. Im
ubrigen ist etwas daran. Ich studiere seit  einigen Wochen Geschichte,  wenn
ich nicht schlafen kann."
     "Warum? Auch weil es ab und zu regnet?"
     Ich ignoriere den harmlosen Schuß. "Weil ich mich vor vorzeitigen
Zynismus und  lokaler  Verzweiflung bewahren muchte. Es ist nicht Jedermanns
Sache,  mit   einfachem  Glauben  an   die  heilige  Dreifaltigkeit  daruber
hinwegzusehen,  daß   wir  mitten  drin   sind,  einen   neuen   Krieg
vorzubereiten - nachdem wir gerade einen verloren haben, den Sie und
     Ihre   Herren   Kollegen   von   den   verschiedenen   protestantischen
Bekenntnissen  im  Namen  Gottes und  der Liebe  zum  Nuchsten gesegnet  und
geweiht haben - ich will zugeben, Sie etwas gedumpfter und verlegener - Ihre
Kollegen dafur  um  so munterer,  in Uniform, mit  den  Kreuzen rasselnd und
siegschnaubend."
     Bodendiek schuttelt den  Regen von seinem schwarzen Hut. "Wir haben den
Sterbenden im Felde  den  letzten  Trost gespendet - das scheinen Sie vullig
vergessen zu haben."
     "Sie hutten es nicht dazu kommen  lassen sollen! Warum  haben Sie nicht
gestreikt? Warum  haben Sie  Ihren Gluubigen den  Krieg nicht verboten?  Das
wure Ihre Aufgabe gewesen. Aber  die Zeiten der Murtyrer sind vorbei.  Dafur
habe ich oft genug, wenn  ich zum Feldgottes dienst mußte,  die Gebete
um  die Siege unserer  Waffen gehurt Glauben Sie, daß Christus fur den
Sieg der Galiluer gegen die Philister gebetet hutte?"
     "Der  Regen", erwidert Bodendiek  gemessen, "scheint  Sie  ungewuhnlich
emotionell und  demagogisch  zu machen. Sie wissen  anscheinend  schon recht
gut, daß man  auf geschickte Weise, mit Auslassungen, Umdrehungen  und
einseitiger Darstellung, alles  in der Welt angreifen und angreifbar  machen
kann."
     "Das weiß ich. Deshalb studiere ich ja Geschichte. Man hat uns in
der Schule  und  im Religionsunterricht  immer von  den dunklen, primitiven,
grausamen vorchristlichen  Zeiten  erzuhlt.  Ich  lese  das  nach und finde,
daß wir nicht viel besser sind - abgesehen von den Erfolgen in Technik
und Wissenschaft. Die aber benutzen wir zum  grußten Teil nur, um mehr
Menschen tuten zu kunnen."
     "Wenn man  etwas beweisen will, kann man alles beweisen, lieber Freund.
Das Gegenteil  auch. Fur jede  vorgefaßte  Meinung lassen sich Beweise
erbringen."
     "Das weiß ich auch",  sage ich.  "Die  Kirche  hat  das  auf  das
brillanteste vorgemacht, als sie die Gnostiker erledigte."
     "Die  Gnostiker!  Was  wissen denn Sie  von denen?" fragt Bodendiek mit
beleidigendem Erstaunen.
     "Genug, um  den Verdacht zu haben, daß sie  der tolerantere  Teil
des Christentums waren. Und alles, was ich bis jetzt in meinem Leben gelernt
habe, ist, Toleranz zu schutzen."
     "Toleranz -", sagt Bodendiek.
     "Toleranz!" wiederhole ich. "Rucksicht auf den anderen. Verstundnis fur
den anderen. Jeden auf  seine Weise  leben  lassen. Toleranz, die in  unserm
geliebten Vaterlande ein Fremdwort ist."
     Mir einen Wort,  Anarchie", erwidert Bodendiek leise und plutzlich sehr
scharf.
     Wir stehen vor der Kapelle. Die Lichter sind angezundet, und die bunten
Fenster schimmern trustlich in den wehenden Regen. Aus der offenen Tur kommt
der schwache Geruch  von Weihrauch. "Toleranz, Herr Vikar", sage ich. "Nicht
Anarchie, und Sie wissen den Unterschied. Aber Sie durfen ihn nicht zugeben,
weil Ihre Kirche ihn nicht hat. Sie sind alleinseligmachend! Niemand besitzt
den Himmel, nur  Sie!  Keiner  kann  lossprechen, nur  Sie!  Sie  haben  das
Monopol. Es  gibt keine  Religion  außer  der  Ihren!  Sie  sind  eine
Diktatur! Wie kunnen Sie da tolerant sein?"
     "Wir brauchen es nicht zu sein. Wir haben die Wahrheit."
     "Naturlich",  sage ich  und  zeige  auf die erleuchteten  Fenster. "Das
dort!  Trost  fur Lebensangst.  Denke nicht  mehr; ich weiß alles  fur
dich! Die Versprechung des Himmels und  die Drohung mit der  Hulle - spielen
auf den einfachsten Emotionen - was hat das mit der Wahrheit zu  tun, dieser
Fata Morgana unseres Gehirns?"
     "Schune Worte",  erklurt Bodendiek, lungst wieder  friedlich, uberlegen
und leicht sputtisch.
     "Ja, das ist alles, was wir haben - schune  Worte", sage ich, urgerlich
uber mich selbst. "Und Sie haben auch nichts anderes - schune Worte."
     Bodendiek tritt in die Kapelle. "Wir haben die heiligen Sakramente -"
     "Ja -"
     "Und  den  Glauben,  der  nur  Schwachkupfen,  denen  ihr bißchen
Schudel Verdauungsbeschwerden macht, als Dummheit und Weltflucht  erscheint,
Sie harmloser Regenwurm im Acker der Trivialitut."
     "Bravo." sage ich.  "Endlich werden auch Sie poetisch. Allerdings stark
sputbarock."
     Bodendiek lacht plutzlich. "Mein lieber Bodmer", erklurt er. "In den
     last  zweitausend Jahren des Bestehens der Kirche ist schon aus manchem
Saulus  ein  Paulus geworden.  Und wir haben  in dieser  Zeit  grußere
Zwerge gesehen und uberstanden als Sie.  Krabbeln Sie  nur munter weiter. Am
Ende jedes Weges steht Gott und wartet auf Sie."  Er verschwindet mit seinem
Regenschirm  in der  Sakristei, ein wohlgenuhrter Mann im schwarzen Gehrock.
In  einer   halben   Stunde  wird  er,  phantastischer   gekleidet  als  ein
Husarengeneral,  wieder  heraustreten und ein Vertreter Gottes sein. Es sind
die Uniformen, sagte Valentin Busch nach der zweiten Flasche Johannisberger,
wuhrend  Eduard Knobloch  in Melancholie  und Mordgedanken versank,  nur die
Uniformen Nimm  ihnen die Kostume weg, und es gibt keinen Menschen mehr, der
Soldat sein will.
     Ich  gehe  nach  der  Andacht mit Isabelle in  der  Allee spazieren. Es
regnet hier unregelmußiger - als hockten Schatten  in den  Buumen, die
sich mit Wasser  besprengen. Isabelle  trugt einen hochgeschlossenen dunklen
Regenmantel und eine kleine Kappe, die das Haar verdeckt. Nichts ist von ihr
zu sehen als das Gesicht, das durch  das Dunkel  schimmert wie ein  schmaler
Mond. Das Wetter ist  kalt  und windig, und niemand außer uns ist mehr
im Garten. Ich habe Bodendiek und den schwarzen urger, der manchmal grundlos
wie eine schmutzige Fontune aus  mir hervorschießt,  lungst vergessen.
Isabelle  geht dicht neben  mir, ich hure  ihre Schritte durch den Regen und
spure ihre Bewegungen und  ihre Wurme, und es scheint  die einzige Wurme  zu
sein, die in der Welt ubriggeblieben ist.
     Sie  bleibt  plutzlich  stehen.   Ihr   Gesicht   ist  blaß   und
entschlossen, und ihre Augen scheinen fast schwarz zu sein.
     "Du liebst mich nicht genug", stußt sie hervor.
     Ich sehe sie uberrascht an. "Es ist, soviel ich kann", sage ich.
     Sie steht eine  Weile schweigend. "Nicht genug", murmelt sie dann. "Nie
genug! Es ist nie genug!"
     "Ja", sage ich.  "Wahrscheinlich ist es  nie genug.  Nie im Leben, nie,
mit niemandem. Wahrscheinlich ist es  immer zu wenig, und das ist  das Elend
der Welt."
     "Es  ist  nicht genug",  wiederholt Isabelle, als hutte sie mich  nicht
gehurt. "Sonst wuren wir nicht noch zwei."
     "Du meinst, sonst wuren wir eins?"
     Sie nickt.
     Ich  denke an das Gespruch mit Georg, wuhrend wir den Gluhwein tranken.
"Wir werden immer zwei bleiben mussen, Isabelle", sage ich vorsichtig. "Aber
wir kunnen uns lieben und glauben, wir wuren nicht mehr zwei."
     "Glaubst du, wir sind schon einmal eins gewesen?"
     "Das weiß ich nicht. Niemand kunnte so  etwas  wissen.  Man wurde
keine Erinnerung haben."
     Sie  sieht mich starr aus dem Dunkel an. "Das ist es, Rudolf", flustert
sie. "Man hat keine. An  nichts. Warum nicht? Man sucht und sucht. Warum ist
alles fort? Es ist doch so viel dagewesen! Nur das weiß man noch! Aber
nichts anderes mehr. Warum weiß man es nicht mehr? Du und ich, war das
nicht einmal schon ? Sag es! Sag es doch! Wo ist es jetzt,
     Rudolf?"
     Der Wind wirft einen Schwall Wasser klatschend uber uns weg. Vieles ist
so, als  wure es  schon einmal gewesen,  denke ich. Es  kommt  oft ganz nahe
wieder heran  und steht vor einem, und man weiß,  es war schon  einmal
da,  genauso,  man  weiß  sogar einen Augenblick  fast  noch,  wie  es
weitergehen  muß, aber dann entschwindet es, wenn man  es fassen will,
wie Rauch oder eine tote Erinnerung.
     "Wir kunnten uns nie erinnern, Isabelle", sage ich. "Es wure so wie mit
dem  Regen.  Er ist  auch  etwas, das  eins geworden ist,  aus  zwei  Gasen,
Sauerstoff und Wasserstoff, die nun nicht mehr wissen, daß sie  einmal
Gase waren. Sie  sind jetzt nur noch Regen und haben keine Erinnerung an das
Vorher."
     "Oder  wie   Trunen",  sagt  Isabelle.  "Aber  Trunen  sind  voll   von
Erinnerungen."
     Wir gehen eine Zeitlang schweigend weiter. Ich denke an die sonderbaren
Momente, wenn  einen  unvermutet das  Doppelgungergesicht einer  scheinbaren
Erinnerung  uber viele Leben hinweg juh anzusehen scheint. Der Kies knirscht
unter  unseren Schuhen. Hinter der Mauer  des Gartens  hupt langgezogen  ein
Auto, als warte es  auf jemand, der entfliehen will. "Dann ist sie wie Tod",
sagt Isabelle schließlich.
     "Was?"
     "Liebe. Vollkommene Liebe."
     "Wer  weiß das,  Isabelle?  Ich glaube, niemand  kann das  jemals
wissen. Wir erkennen immer nur etwas, solange  wir jeder noch  ein Ich sind.
Wenn  unsere Ichs miteinander verschmulzen,  so wure es wie beim Regen.  Wir
wuren ein neues  Ich  und kunnten  uns an die einzelnen  fruheren Ichs nicht
mehr erinnern. Wir wuren etwas anderes - so verschieden wie Regen von Luft -
nicht mehr ein gesteigertes Ich durch ein Du."
     "Und wenn  Liebe vollkommen wure, so daß  wir  verschmulzen, dann
wure es wie Tod ?"
     "Vielleicht", sage ich zugernd. "Aber nicht so wie Vernichtung. Was Tod
ist,   weiß  niemand,  Isabelle.  Man  kann  ihn  deshalb  mit  nichts
vergleichen.  Aber wir wurden uns sicher nicht mehr  als  Selbst fuhlen. Wir
wurden nur wieder ein anderes einsames Ich werden."
     "Dann muß Liebe immer unvollkommen sein?"
     "Sie ist vollkommen genug", sage ich  und  verfluche mich, weil ich mit
meiner  pedantischen  Schulmeisterei  wieder  so  weit   in   ein   Gespruch
hineingeraten bin.
     Isabelle schuttelt den Kopf. "Weiche nicht aus,  Rudolf!  Sie muß
unvollkommen  sein, ich  sehe das  jetzt.  Wenn sie vollkommen wure, gube es
einen Blitz, und nichts wure mehr da."
     "Es wure noch etwas da - aber jenseits von unserer Erkenntnis."
     "So wie der Tod?"
     Ich sehe  sie an.  "Wer weiß das?" sage ich  vorsichtig,  um  sie
nicht  weiter zu erregen. "Vielleicht hat der Tod einen ganz falschen Namen.
Wir sehen ihn immer nur von  einer Seite. Vielleicht ist er  die vollkommene
Liebe zwischen Gott und uns."
     Der Wind wirft einen Schwall Regen durch die Blutter der Buume, die ihn
mit  Geisterhunden weiterwerfen. Isabelle  schweigt eine Weile.  "Ist  Liebe
deshalb so traurig?" fragt sie dann.
     "Sie ist nicht traurig. Sie macht nur traurig, weil sie unerfullbar und
nicht zu halten ist."
     Isabelle bleibt stehen. "Warum, Rudolf?" sagt sie plutzlich sehr heftig
und stampft mit den Fußen. "Warum muß das so sein?"
     Ich sehe in das  blasse, gespannte  Gesicht.  "Es ist das Gluck",  sage
ich.
     Sie starrt mich an. "Das ist das Gluck?"
     Ich nicke.
     "Das kann nicht sein! Es ist doch nichts als Ungluck!"
     Sie wirft sich gegen  mich, und ich halte sie  fest. Ich fuhle, wie das
Schluchzen gegen  ihre Schultern stußt. "Weine nicht", sage ich.  "Was
wurde sein, wenn man um so etwas schon weinen wollte?"
     "Um was denn sonst?"
     T  um  was sonst,  denke  ich. Um  alles andere,  um das Elend auf  die
verfluchten  Planeten, aber nicht um  das. "Es ist  kein Ungluck, Isabelle",
sage  ich.  "Es  ist  das  Gluck.  Wir  haben  nur  so  turichte  Namen  wie
'vollkommen' und 'unvollkommen' dafur."
     "Nein, nein!" Sie schuttelt  heftig den Kopf  und lußt sich nicht
trusten. Sie weint und klammert sich an mich, und ich halte sie in den Armen
und fuhle,  daß nicht  ich recht  habe, sondern sie, daß sie  es
ist, die  keine Kompromisse kennt, daß in ihr  noch das erste, einzige
Warum  brennt, das vor aller Verschuttung  durch den Murtel des  Daseins  da
war, die erste Frage des erwachten Selbst.
     "Es  ist  kein Ungluck",  sage  ich  trotzdem.  "Ungluck ist etwas ganz
anderes, Isabelle."
     "Was?"
     "Ungluck ist nicht,  daß  man nie ganz eins werden  kann. Ungluck
ist,  daß man sich immerfort verlassen muß, jeden Tag  und  jede
Stunde. Man  weiß es und kann es nicht aufhalten, es rinnt einem durch
die  Hunde und ist  das Kostbarste, was  es gibt, und man kann es doch nicht
halten. Immer stirbt einer zuerst. Immer bleibt einer zuruck."
     Sie sieht auf. "Wie kann man verlassen, was man nicht hat?"
     "Man kann es", erwidere ich bitter. "Und wie man es kann! Es gibt viele
Stufen des  Verlassens und des Verlassenwerdens, und jede  ist  schmerzlich,
und viele sind wie der Tod."
     Isabeiles Trunen haben aufgehurt. "Woher weißt du das?" sagt sie.
"Du bist doch noch nicht alt."
     Ich bin alt  genug, denke ich. Ein Stuck von mir ist  alt geworden, als
ich aus dem Kriege zuruckkam.  "Ich weiß es", sage  ich.  "Ich habe es
erfahren."
     Ich habe es  erfahren,  denke ich. Wie oft  habe ich  den Tag verlassen
mussen, und die  Stunde,  und das Dasein, und den Baum  im  Morgenlicht, und
meine Hunde, und meine Gedanken, und es war jedesmal fur immer, und wenn ich
zuruckkam, war ich ein anderer. Man kann viel verlassen  und muß stets
alles hinter sich lassen, wenn  man dem Tode entgegentreten  muß,  man
ist immer nackt vor ihm, und wenn man  zuruckfindet, muß man alles neu
erwerben, was man zuruckgelassen hat.
     Isabeiles  Gesicht  schimmert  vor  mir  in  der  Regennacht, und  eine
plutzliche  Zurtlichkeit  uberstrumt  mich.  Ich  spure  wieder  in  welcher
Einsamkeit sie lebt, unerschrocken, allein mit ihren Geschichten bedroht von
ihnen und  ihnen hingegeben, ohne Dach, unter das sie fluchten  kunnte, ohne
Entspannung  und  ohne Ablenkung, ausgesetzt allen Winden  des Herzens, ohne
Hilfe von irgend jemand, ohne Klage und ohne Mitleid  mit  sich  selbst.  Du
sußes,  furchtloses  Herz, denke  ich, unberuhrt und  pfeilgerade  zum
Wesentlichen allein  hinzielend auch wenn  du es  nicht erreichst  und  dich
verirrst -  aber wer  verirrte sich nicht? Und haben nicht fast  alle lungst
aufgegeben? Wo  beginnt der Irrtum, das Narrentum,  die Feigheit, und wo die
Weisheit und wo der letzte Mut?
     Eine Glocke luutet.  Isabelle erschrickt. "Es ist Zeit", sage  ich. "Du
mußt hineingehen. Sie warten auf dich."
     "Kommst du mit?"
     "Ja."
     Wir gehen dem Hause zu. Als wir aus der Allee treten,  empfungt uns ein
Spruhregen,  den der  Wind in kurzen Stußen  wie einen nassen Schleier
umherfegt. Isabelle druckt sich an  mich. Ich blicke den Hugel hinunter  zur
Stadt. Nichts ist zu  sehen. Nebel  und Regen  haben uns isoliert. Nirgendwo
sieht man mehr ein Licht, wir sind ganz allein. Isabelle geht neben mir, als
gehurte sie fur immer zu mir und als hutte sie kein  Gewicht, und es scheint
mir wieder, als habe sie wirklich keines und sei wie die Figuren in Legenden
und Truumen, bei denen auch andere Gesetze gelten als im tuglichen Dasein.
     Wir stehen unter der Tur. "Komm!" sagt sie.
     Ich schuttle den Kopf. "Ich kann nicht. Heute nicht."
     Sie schweigt und  sieht mich an, gerade und klar, ohne Vorwurf und ohne
Enttuuschung; aber etwas  in ihr scheint auf einmal erloschen  zu  sein. Ich
senke  die Augen.  Mir  ist, als  hutte  ich ein Kind  geschlagen  oder eine
Schwalbe getutet. "Heute nicht", sage ich. "Sputer. Morgen."
     Sie dreht sich wortlos um und geht in die Halle. Ich sehe die Schwester
mit ihr die Treppe hinaufsteigen  und habe plutzlich das  Gefuhl etwas,  das
man nur einmal im Leben findet, unwiederbringlich verloren zu haben.
     Verwirrt stehe ich  herum. Was  hutte ich schon tun kunnen? Und wie bin
ich in  all dieses wieder hineingeraten? Ich  wollte  es doch nicht!  Dieser
verfluchte Regen!
     Langsam gehe ich dem  Haupthause  zu.  Wernicke  kommt im  weißen
Mantel  mit  einem  Regenschirm   heraus.   "Haben  Sie   Fruulein  Terhoven
abgeliefert?"
     "Ja."
     "Gut. Kummern Sie sich doch weiter etwas um sie. Besuchen  Sie sie auch
einmal tagsuber, wenn Sie Zeit haben."
     "Warum?"
     "Daraufkriegen  Sie  keine Antwort", erwidert Wernicke.  "Aber  sie ist
ruhig, wenn sie mit Ihnen zusammen war. Es ist gut fur sie. Genugt das?"
     "Sie hult mich fur jemand anders."
     "Das  macht  nichts. Mir kommt  es  nicht auf  Sie an - nur  auf  meine
Kranken." Wernicke blinzelt durch die Spruhnusse. "Bodendiek  hat  Sie heute
abend gelobt."
     "Was? - Dazu hatte er wahrhaftig keinen Grund!"
     "Er  behauptet, Sie seien auf dem Weg zuruck.  Zum Beichtstuhl  und zur
Kommunion."
     "So etwas!" erklure ich, ehrlich entrustet.
     "Verkennen  Sie die  Weisheit  der  Kirche nicht! Sie ist  die  einzige
Diktatur, die seit zweitausend Jahren nicht gesturzt worden ist."
     Ich  gehe zur  Stadt hinunter. Nebel weht seine grauen Fahnen durch den
Regen.  Isabelle geistert  durch  meine Gedanken.  Ich  habe  sie  im  Stich
gelassen;  das  ist es,  was sie jetzt glaubt, ich weiß es. Ich sollte
uberhaupt nicht mehr hinaufgehen, denke  ich. Es  verwirrt mich nur, und ich
bin  ohnehin verwirrt genug.  Aber  was wure, wenn sie nicht mehr  da  wure?
Wurde es nicht  so sein, als fehle mir  das Wichtigste, das, was nie alt und
verbraucht und alltuglich werden kann, weil man es nie besitzt?
     Ich  komme  zum  Hause  des  Schuhmachermeisters Karl  Brill.  Aus  der
Schuhbesohlanstalt dringen die Klunge eines Grammophons. Ich bin heute abend
hier zu einem  Herrenabend eingeladen. Es ist einer der beruhmten Abende, an
denen Frau  Beckmann  ihre akrobatische Kunst  zum  besten gibt.  Ich zugere
einen Augenblick - ich fuhle mich wahrhaftig nicht danach -, aber dann trete
ich ein. Gerade deshalb.
     Ein Schwall  von Tabaksrauch und Biergeruch empfungt  mich.  Karl Brill
steht auf und umarmt  mich,  leicht schwankend.  Er hat einen ebenso  kahlen
Kopf wie Georg Kroll, aber er trugt dafur alle seine Haare unter der Nase in
einem  muchtigen Walroßschnurrbart. "Sie  kommen  zur  rechten  Zeit",
erklurt  er.  "Die  Wetten sind gelegt. Wir brauchen nur  bessere Musik  als
dieses dumme Grammophon! Wie wure es mit dem Donauwellenwalzer?"
     "Gemacht!"
     Das  Klavier ist bereits in die  Schnellbesohlanstalt geschafft worden.
Es steht vor  den Maschinen. Im vorderen Teil des Raumes sind die Schuhe und
das Leder beiseite geschoben worden,  und  uberall,  wo es geht, sind Stuhle
und ein paar Sessel verteilt. Ein Faß Bier ist aufgelegt, und ein paar
Flaschen  Schnaps  sind  schon  leer.  Eine zweite  Batterie  steht auf  dem
Ladentisch. Auf dem Tisch liegt auch ein großer, mit Watte umwickelter
Nagel neben einem kruftigen Schusterhammer.
     Ich  schmettere den  Donauwellenwalzer herunter. Im Qualm schwanken die
Bundesbruder von Karl Brill umher. Sie sind bereits gut geladen. Karl stellt
ein Glas Bier und einen doppelten Steinhuger Schnaps auf das Klavier.
     "Klara bereitet sich vor",  sagt er. "Wir haben uber drei Millionen  in
Wetten  zusammen. Hoffentlich ist  sie  in  Huchstform; sonst  bin  ich halb
bankrott."
     Er blinzelt mir zu. "Spielen Sie etwas sehr Schmissiges, wenn es soweit
ist. Das facht sie immer muchtig an. Sie ist ja verruckt mit Musik."
     "Ich  werde den 'Einzug der Gladiatoren' spielen. Aber wie wure  es mit
einer kleinen Seitenwette fur mich?"
     Karl blickt auf. "Lieber  Herr Bodmer", sagt er verletzt.  "Sie  wollen
doch nicht gegen Klara wetten! Wie kunnen Sie dann uberzeugend spielen?"
     "Nicht gegen sie. Mit ihr. Eine Seitenwette."
     "Wieviel?" fragt Karl rasch.
     "Lumpige achtzigtausend", erwidere ich. "Es ist mein ganzes Vermugen."
     Karl uberlegt einen Augenblick. Dann dreht er sich um.
     "Ist  noch  jemand  da,  der achtzigtausend wetten  will? Gegen unseren
Klavierspieler?"
     "Ich!"  Ein  dicker  Mann  tritt  vor,  holt  Geld  aus  einem  kleinen
Kufferchen und knallt es auf den Ladentisch.
     Ich lege mein Geld  daneben. "Der Gott  der Diebe beschutze mich", sage
ich. "Sonst bin ich morgen aufs Mittagessen allein angewiesen."
     "Also los!" sagt Karl Brill.
     Der Nagel wird herumgezeigt. Dann tritt  Karl an die Wand, setzt ihn in
der  Huhe  eines  menschlichen  Gesußes an und  schlugt ihn  zu  einem
Drittel  ein.  Er  schlugt weniger stark,  als  seine  Geburden es  vermuten
lassen. "Sitzt gut und fest", sagt er und tut, als ruttele er kruftig an dem
Nagel.
     "Das werden wir erst einmal prufen."
     Der Dicke, der gegen mich gewettet hat,  tritt vor. Er bewegt den Nagel
und grinst. "Karl", sagt er hohnlachend. "Den blase ich ja aus der Wand. Gib
mal den Hammer her."
     "Blase ihn erst aus der Wand."
     Der   Dicke  blust  nicht.  Er  zerrt  kruftig,   und   der  Nagel  ist
draußen.  "Mit meiner  Hand",  sagt Karl Brill, "kann ich einen  Nagel
durch eine  Tischplatte schlagen. Mit  meinem Hintern nicht. Wenn ihr solche
Bedingungen stellt, lassen wir das Ganze lieber sein."
     Der Dicke antwortet nicht. Er nimmt den Hammer und schlugt den Nagel an
einer anderen Stelle der Wand ein.
     "Hier, wie ist das?"
     Karl Brill pruft.  Etwa sechs  oder sieben Zentimeter  des Nagels ragen
noch  aus der  Wand. "Zu  fest. Den kann  man nicht einmal mit der Hand mehr
herausreißen."
     "Entweder - oder", erklurt der Dicke.
     Karl pruft noch einmal. Der Dicke legt den Hammer auf den Ladenisch und
merkt nicht, daß Karl jedesmal, wenn er probiert, wie  fest der  Nagel
sei, ihn dadurch lockert.
     "Ich kann  keine  Wette  eins  zu  eins  darauf  annehmen",  sagt  Karl
schließlich. "Nur zwei zu eins, und auch da muß ich verlieren."
     Sie einigen sich auf sechs zu vier. Ein Haufen Geld turmt  sich auf dem
Ladentisch.  Karl hat  noch zweimal  entrustet an dem  Nagel  gezerrt  um zu
zeigen,  wie  unmuglich die Wette  sei.  Jetzt  spiele  ich den "Einzug  der
Gladiatoren", und  bald  darauf  rauscht  Frau Beckmann in die Werkstatt  in
einen losen, lachsroten  chinesischen  Kimono  gekleidet,  mit eingestickten
Puonien und einem Phunix auf dem Rucken.
     Sie  ist eine  imposante Figur mit dem  Kopf eines Bullenbeißers,
aber eines  eher hubschen  Bullenbeißers.  Sie  hat  reiches,  krauses
schwarzes   Haar   und   glunzende    Kirschenaugen    -   der   Rest    ist
bullenbeißerisch besonders das Kinn. Der Kurper ist muchtig und vullig
aus Eisen. Ein  Paar steinharter Bruste ragt  wie ein  Bollwerk hervor, dann
kommt eine im Verhultnis zierliche Taille und dann das beruhmte Gesuß,
um das es hier  geht. Es ist gewaltig und ebenfalls steinhart. Selbst  einem
Schmied  soll  es  angeblich  unmuglich  sein,  hineinzukneifen,  wenn  Frau
Beckmann  es  anspannt; er bricht sich eher  die Finger. Karl Brill hat auch
damit schon Wetten  gewonnen,  allerdings nur  im  intimsten Freundeskreise.
Heute, wo der Dicke dabei ist, wird nur das andere Experiment gemacht  - den
Nagel mit dem Gesuß aus der Wand zu reißen.
     Alles geht sehr sportlich und  kavaliersmußig  zu;  Frau Beckmann
grußt zwar, ist  aber  sonst  reserviert  und  beinahe abweisend.  Sie
betrachtet  die  Angelegenheit nur von  der  sportlich-geschuftlichen Seite.
Ruhig  stellt  sie  sich  mit  dem Rucken zur  Wand,  hinter einen niedrigen
Para-vent, macht ein paar fachmunnische Bewegungen und steht dann still, das
Kinn  gereckt,  bereit,  und  ernst,  wie  es sich  bei  einer  großen
sportlichen Leistung geziemt.
     Ich breche den Marsch ab  und beginne zwei tiefe Triller,  die  klingen
sollen wie die  Trommeln beim  Todessprung im  Zirkus  Busch.  Frau Beckmann
strafft sich und entspannt sich. Sie strafft sich  noch  zweimal  Karl Brill
wird nervus. Frau Beckmann erstarrt wieder, die  Augen zur  Decke gerichtet,
die Zuhne zusammengebissen. Dann  klappert es, und  sie  tritt von der  Wand
weg. Der Nagel liegt auf dem Boden.
     Ich spiele "Das Gebet einer Jungfrau", eine ihrer Lieblingsnummern. Sie
dankt  mit  einem  graziusen  Neigen  ihres  starken  Hauptes,  wunscht eine
wohlklingende "Gute Nacht allerseits", rafft den  Kimono enger um sich herum
und entschwindet.
     Karl  Brill  kassiert.  Er  reicht  mir  mein Geld  heruber.  Der Dicke
inspiziert den Nagel und die Wand. "Fabelhaft", sagt er.
     Ich  spiele  das   "Alpengluhen"  und  das  "Weserlied",  zwei  weitere
Favoriten Frau Beckmanns. Sie kann sie  im oberen Stock huren. Karl blinzelt
mir  stolz  zu; er ist  ja schließlich  der Besitzer dieser imposanten
Kneifzange. Steinhuger, Bier und Korn fließen. Ich trinke ein paar mit
und spiele weiter. Es paßt mir, jetzt nicht allein zu sein. Ich muchte
nachdenken,  und trotzdem  auf keinen Fall nachdenken. Meine Hunde sind voll
einer unbekannten  Zurtlichkeit,  etwas weht und  scheint sich  an  mich  zu
drungen, die Werkstatt verschwindet, der Regen ist wieder da,  der Nebel und
Isabelle und das Dunkel. Sie ist nicht krank, denke ich und weiß doch,
daß sie es  ist  - aber wenn sie  krank ist,  dann sind  wir alle noch
krunker -
     Ein lauter Streit weckt mich. Der Dicke hat Frau Beckmanns Formen nicht
vergessen  kunnen. Angefeuert  durch eine Anzahl Schnupse hat er  Karl Brill
ein dreifaches Angebot gemacht: funf Millionen fur einen Nachmittag mit Frau
Beckmann zum Tee -  eine  Million fur ein kurzes Gespruch jetzt, bei dem  er
sie wahrscheinlich zu einem ehrenhaften Abendessen ohne  Karl Brill einladen
muchte - und zwei Millionen fur ein paar  gute Griffe an das Prachtstuck der
Beckmannschen Anatomie,  hier  in der Werkstatt, unter Brudern in fruhlicher
Gesellschaft, also durchaus ehrenhaft.
     Jetzt aber zeigt sich der Charakter Karls. Wenn der Dicke nur sportlich
interessiert wure,  kunnte er die Griffe vielleicht haben, schon gegen  eine
Wette von solch einer Lumperei wie  hunderttausend Mark - aber in bockhafter
Lust wird  sogar  der  Gedanke an einen  solchen  Griff von Karl als schwere
Beleidigung empfunden. "So eine  Schweinerei!" brullt  er. "Ich  dachte, ich
hutte nur Kavaliere hier!"
     "Ich bin Kavalier", lallt der Dicke. "Deshalb ja mein Angebot."
     "Sie sind ein Schwein."
     "Das auch. Sonst wure ich ja kein Kavalier. Sie sollten stolz sein, bei
einer solchen  Dame - haben  Sie denn  kein  Herz in der Brust? Was kann ich
machen, wenn meine Natur sich in mir aufbuumt? Wozu sind Sie
     beleidigt? Sie sind doch nicht mit ihr verheiratet!" Ich sehe, wie Karl
Brill zuckt, als hutte man ihn angeschossen. Er lebt in  wilder Ehe mit Frau
Beckmann, die eigentlich seine Haushulterin ist.
     Warum  er  sie  nicht heiratet,  weiß  niemand  -  huchstens  aus
derselben Hartnuckigkeit seines Charakters heraus, mit der er auch im Winter
ein Loch  ins Eis haut, um  schwimmen zu  kunnen.  Trotzdem  ist  dies seine
schwache Stelle.
     "Ich", stottert  der Dicke, "wurde ein  solches Juwel auf Hunden tragen
und sie in Samt und Seide hullen - Seide, rote  Seide  -", er schluchzt fast
und malt uppige Formen in die Luft. Die Flasche neben  ihm ist leer. Es  ist
ein tragischer Fall von Liebe  auf  den ersten Blick. Ich spiele weiter. Die
Vorstellung, daß der Dicke Frau Beckmann auf Hunden tragen kunnte, ist
zuviel fur mich.
     "Raus!" erklurt  Karl  Brill.  "Es  ist  genug.  Ich  hasse  es,  Guste
rauszuschmeißen, aber -"
     Ein furchtbarer Schrei  ertunt aus dem Hintergrund.  Wir springen  auf.
Ein kleiner Mann tanzt dort herum. Karl sturzt auf ihn zu, greift nach einer
Schere und stellt eine Maschine ab. Der kleine Mann wird ohnmuchtig.
     "Verdammt!  Wer  kann  auch  wissen,  daß  er   im  Suff  an  der
Schnellbesohlmaschine herumspielt!" flucht Karl.
     Wir  besichtigen  die  Hand.  Ein paar Fuden hungen  heraus. Es hat ihn
zwischen Zeigefinger  und Daumen  im weichen  Fleisch erwischt -  ein Gluck.
Karl gießt Schnaps auf die Wunde, und der kleine Mann kommt zu sich.
     "Amputiert?" fragt er voll Grauen,  als er seine  Hand  in Karls Pfoten
sieht.
     "Unsinn, der Arm ist noch dran."
     Der Mann seufzt  erleichtert,  als  Karl ihm  den Arm  vor seinen Augen
schuttelt. "Blutvergiftung, was?" fragt er.
     "Nein.  Aber die Maschine wird rostig von deinem Blut. Wir werden deine
Flosse mit Alkohol waschen, Jod draufschmieren und sie verbinden."
     "Jod? Tut das nicht weh?"
     "Es beißt eine Sekunde. So, als ob deine Hand einen sehr scharfen
Schnaps trinkt."
     Der kleine Mann  reißt  seine Hand  weg. "Den Schnaps trinke  ich
lieber selbst."
     Er holt ein nicht zu sauberes Taschentuch hervor, wickelt es um die
     Pfote und greift nach der Flasche. Karl grinst. Dann sieht er umher und
wird unruhig. "Wo ist der Dicke?"
     Keiner  weiß  es. "Vielleicht  hat  er sich dunne  gemacht", sagt
jemand und bekommt einen Schluckauf vor Lachen uber seinen Witz.
     Die  Tur uffnet sich. Der  Dicke  erscheint; waagerecht vornubergebeugt
stolpert er herein, hinter ihm, im lachsfarbenen Kimono, Frau Beckmann.  Sie
hat  ihm  die  Arme  nach hinten  hochgedreht  und  stußt  ihn in  die
Werkstatt. Mit  einem  kruftigen Schubs lußt sie los. Der  Dicke fullt
vornuber  in  die  Abteilung  fur  Damenschuhe.  Frau  Beckmann  macht  eine
Bewegung, als stuube sie sich die  Hunde ab, und geht hinaus. Karl Brill tut
einen  riesigen  Satz. Er zerrt den Dicken hoch. "Meine  Arme!" wimmert  der
verschmuhte Liebhaber. "Sie hat sie mir ausgedreht! Und mein Bauch! Oh, mein
Bauch! Was fur ein Schlag!"
     Erbraucht  uns nichts zu erkluren. Frau  Beckmann  ist ein ebenburtiger
Gegner fur Karl Brill, den Winterschwimmer und erstklassigen Turner, und hat
ihm bereits  zweimal einen Arm gebrochen, ganz zu schweigen von dem, was sie
mit einer Vase oder einem Schureisen anrichten kann. Es ist noch kein halbes
Jahr  her,  daß  zwei  Einbrecher  von  ihr nachts  in  der  Werkstatt
uberrascht  wurden. Beide  lagen hinterher wochenlang  im  Krankenhaus,  und
einer hat sich nie  von  einem Hieb mit einem eisernen Fußmodell  uber
den Schudel erholt,  bei  dem er gleichzeitig ein Ohr verlor.  Er redet wirr
seitdem.
     Karl  schleppt den Dicken ans Licht. Er ist weiß vor Wut, aber er
kann  nichts mehr  tun  - der Dicke ist  fertig. Es  ist, als wolle er einen
schwer  Typhuskranken verprugeln. Der Dicke  muß  einen furchterlichen
Schlag  in  die Organe erhalten  haben,  mit denen  er sundigen  wollte.  Er
unfuhig  zu gehen.  Karl kann ihn nicht einmal  rauswerfen. Wir legen ihn in
den Hintergrund auf das Abfalleder.
     "Das Schune bei  Karl ist, daß es immer  so gemutlich  ist", sagt
jemand, der versucht, das Klavier mit Bier zu trunken.
     ich habe  durch  die Große  Straße  nach  Hause.  Mein Kopf
schwimmt;
     uber zuviel getrunken, aber das wollte ich auch. Der Nebel treibt
     uber die  vereinzelten Lichter, die  noch in den Schaufenstern brennen,
und webt goldene Schleier um die  Laternen.  Im Fenster ein Schlachterladens
bluht  ein  Alpenrosenstock  neben  einem  geschlachteten  Ferkel, dem  eine
Zitrone in die blasse Schnauze  geklemmt worden ist. Wurste liegen  traulich
im  Kreise  herum.  Es  ist  ein  Stimmungsbild,  das  Schunheit  und  Zweck
harmonisch vereint. Ich stehe eine Zeitlang davor und wandere dann weiter.
     Auf  dem dunklen Hof pralle  ich im Nebel gegen  einen Schatten. Es ist
der alte Knopf, der wieder einmal vor dem schwarzen Obelisken steht. Ich bin
mit voller Wucht gegen ihn gerannt,  und er taumelt und schlingt  beide Arme
um den Obelisken,  als wolle  er ihn erklettern. "Es tut mir leid, daß
ich Sie gestoßen habe",  sage ich. "Aber weshalb stehen Sie auch hier?
Kunnen Sie Ihre Geschufte denn  wirklich nicht in  Ihrer Wohnung  erledigen?
Oder,  wenn  Sie schon  ein  Freiluftakrobat  sind,  warum  nicht  an  einer
Straßenecke?"
     Knopf lußt den Obelisken los. "Verdammt, jetzt ist es in die Hose
gegangen", murmelt er.
     "Das schadet Ihnen nichts. Nun erledigen Sie den Rest meinetwegen schon
hier."
     "Zu sput."
     Knopf stolpert  zu seiner Tur hinuber. Ich gehe die  Treppen hinauf und
beschließe, Isabelle  von dem  Geld,  das ich bei Karl Brill  gewonnen
habe, morgen einen Strauß Blumen zu schicken. Zwar bringt mir so etwas
gewuhnlich nur  Ungluck, aber ich weiß nun einmal nichts anderes. Eine
Zeitlang stehe ich noch am Fenster und sehe hinaus in die Nacht  und beginne
dann etwas beschumt  und  sehr leise, Worte und  Sutze zu  flustern, die ich
gerne einmal  jemandem  sagen  muchte,  aber  fur  die ich  niemanden  habe,
außer vielleicht Isabelle - doch die  weiß  ja nicht einmal, wer
ich uberhaupt bin. Doch wer weiß das schon von irgend jemand.
     13 Der Reisende Oskar Fuchs, genannt Trunen-Oskar, sitzt im  Buro. "Was
gibt  es,  Herr Fuchs ?" frage  ich. "Wie  steht  es  mit der Grippe in  den
Durfern?"
     "Ziemlich harmlos. Die Bauern sind gut im Futter. In der Stadt  ist  es
anders.  Ich habe