b sein Glas. "Die  vierzehn  toten Inder sollen leben!"
rief  er  und trank.  Dann  fiel  er  wieder über  den  Kanzler her.  "Einen
Stuß  redet unser  hehres  Staatsoberhaupt  wieder  einmal  zusammen!"
erklärte er. "Das ist geradezu ein Schulaufsatz über  das Thema: Das Wasser,
in  dem  Deutschlands  Zukunft  liegt,  ohne  unterzugehen. In  Untersekunda
kriegte er dafür die  Drei." Er drehte sich zu Fabian herum und fragte: "Und
wie überschreibt man den Scherzartikel?"
     "Ich  möchte  lieber  wissen, was Sie drunterschreiben",  sagte  Fabian
ärgerlich.
     Der andere trank wieder, bewegte  langsam den Wein im  Mund,  schluckte
hinter  und  antwortete: "Keine Silbe. Nicht ein  Wort. Wir haben Anweisung,
der Regierung  nicht  in den Rücken zu  fallen.  Wenn  wir dagegenschreiben,
schaden wir uns, wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung."
     "Ich mache Ihnen einen Vorschlag", sagte Fabian. "Schreiben Sie dafür!"
     "O nein", rief Münzer. "Wir sind anständige Leute. Tag, Malmy."
     Im Türrahmen stand ein schlanker eleganter Herr und nickte ins Zimmer.
     "Sie  dürfen ihm  nichts  übelnehmen",  sagte der  Handelsredakteur  zu
Fabian.  "Er ist seit zwanzig Jahren  Journalist und glaubt bereits,  was er
lügt. Über  seinem Gewissen  liegen zehn  weiche Betten, und obenauf schläft
Herr  Münzer  den Schlaf  des  Ungerechten."  Der  alte Bote brachte  wieder
Schreibmaschinenblätter. Münzer griff nach einem  Leimtopf, vervollständigte
das   Spruchband   des   Reichskanzlers   und    redigierte   weiter.   "Sie
mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen?" fragte  Fabian Herrn  Malmy.
"Was tun Sie außerdem?"
     Der  Handelsredakteur lächelte, freilich  nur mit dem Mund.  "Ich  lüge
auch", erwiderte er. "Aber ich  weiß es. Ich weiß, daß das
System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. Aber ich
diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen  des falschen Systems,
dem ich  mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle,  sind  die  falschen
Maßnahmen   naturgemäß   richtig    und   die   richtigen   sind
begreiflicherweise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz, und
ich bin außerdem ..."
     "Ein  Zyniker", warf  Münzer  ein, ohne  aufzublicken.  Malmy  hob  die
Schultern. "Ich wollte  sagen, ein Feigling. Das trifft  noch genauer.  Mein
Charakter ist  meinem Verstand in keiner Weise  gewachsen.  Ich  bedaure das
aufrichtig, aber ich tue nichts mehr dagegen."
     Doktor  Irrgang, der  junge Mann, trat ein  und besprach mit Münzer  an
Hand der Postauflage, welche  Meldungen sie  aus dem Blatt werfen und welche
sie statt dessen in die Stadtausgabe übernehmen wollten. Es waren in der Tat
zwei Dachstuhlbrände passiert. In Genf waren außerdem einige  nebulose
Worte  gefallen,  die  der  deutschen   Minderheit  in  Polen  galten.   Den
ostelbischen   Großgrundbesitzern  waren  vom  Landwirtschaftsminister
Zollerhöhungen  in Aussicht  gestellt  worden. Die  Untersuchung  gegen  die
Direktoren  des  Städtischen  Beschaffungsamtes  hatte  eine  einschneidende
Wendung erfahren.
     "Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzlers?" fragte Münzer.
"Los,  Herrschaften. Zehn Pfennige  für  eine gute  Schlagzeile.  Die  Sache
muß in Satz. Wenn die Matern zu  spät kommen, kriegen wir wieder Krach
mit dem Maschinenmeister."
     Der junge  Mann  dachte  so  angestrengt  nach,  daß  seine Stirn
schwitzte. "Der Kanzler fordert Vertrauen", schlug er vor.
     "Mäßig", urteilte Münzer.  "Nehmen  Sie sich ein  Wasserglas, und
trinken Sie erst einen Schluck Wein!"  Der junge Mann befolgte den Rat,  als
sei er ein Befehl. "Deutschland oder die Trägheit des Herzens", sagte Malmy.
     "Reden Sie keinen Unsinn!" rief  der politische Redakteur. Dann schrieb
er eine Zeile groß mit dem Bleistift über das Manuskript und erklärte:
"Der Groschen gehört mir." "Was haben Sie denn geschrieben?" fragte Fabian.
     Münzer   drückte  auf   den   Klingelknopf   und  erklärte  pathetisch:
"Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!" Der Bote  holte die Papiere. Der
Handelsredakteur griff in die Tasche  und legte wortlos ein Zehnpfennigstück
auf den Schreibtisch.
     Sein Kollege blickte verwundert hoch.
     "Ich  eröffne  hiermit  eine  Aktion,  die  umgehend  notwendig  wird",
behauptete Malmy.
     "Um welche Aktion handelt es sich?"
     "Darum,  Ihnen  Ihr  Schulgeld  zurückzuerstatten",  sagte  Malmy,  und
Irrgang,  der politische  Lehrling, lachte in Grenzen.  Dann  stürzte er ans
Telefon. Es hatte geläutet. "Ein Abonnent möchte etwas wissen", bekundete er
nach einiger Zeit und überdeckte das Sprachrohr mit der Hand. "Sie sitzen am
Stammtisch und haben  gewettet, ob  es die Tür oder die  Türe  heißt."
Münzer  nahm ihm  den  Hörer weg.  "Einen  Augenblick", sagte er. "Wir sagen
Ihnen sofort Bescheid,  mein Herr."  Dann winkte er Irrgang  und  flüsterte:
"Feuilleton."
     Der junge Mann rannte fort, kehrte zurück und zuckte die Achseln.
     "Ich erfahre soeben, daß es die Tür heißen muß. Bitte
schön. Guten  Abend." Münzer legte den  Hörer auf die  Gabel, schüttelte den
Kopf und steckte Malmys Groschen ein.
     Hinterher saßen sie in einer kleinen  Weinstube, die in der  Nähe
des  Zeitungsgebäudes gelegen war.  Münzer hatte sich von einem Setzer,  der
nach Hause ging, das Blatt bringen lassen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung
sei. Er hatte sich über ein paar Druckfehler geärgert, über  die Schlagzeile
auf  der  ersten  Seite  hatte   er  sich   gefreut.  Dann  war  Strom,  der
Theaterkritiker, an den  Tisch  gekommen.  Nun  tranken  sie  fleißig.
Irrgang, der  junge  Mann, war  schon fast  hinüber.  Strom,  der  Kritiker,
verglich  einige  namhafte  Regisseure   mit  Schaufensterdekorateuren,  das
Theater der  Gegenwart erschien  ihm symptomatisch  für  den  Niedergang des
Kapitalismus, und als jemand einwarf, es gebe  keine  Dramatiker, behauptete
Strom, es gebe welche.
     "Ganz nüchtern sind Sie auch nicht mehr", bemerkte Münzer schwerzüngig,
und Strom lachte ohne Anlaß.
     Fabian ließ sich inzwischen,  nicht  ganz  freiwillig,  von Malmy
über kurzfristige Anleihen aufklären. "Erstens  werden Reich und  Wirtschaft
in wachsendem Maße überfremdet",  behauptete der  Redakteur. "Zweitens
genügt ein Riß, und die ganze Bude fällt  ein. Wenn  das  Geld  mal in
großen  Posten abgerufen  wird, sacken  wir alle  ab,  die Banken, die
Städte, die Konzerne, das Reich."
     "Aber im Blatt schreiben Sie nichts davon", sagte Irrgang.
     "Ich  helfe, das Verkehrte  konsequent zu  tun. Alles,  was gigantische
Formen  annimmt, kann  imponieren, auch  die Dummheit." Malmy  musterte  den
jungen Mann. "Gehen Sie mal rasch hinaus, bei Ihnen ist ein kleines Unwetter
im   Anzug."  Irrgang   legte   den  Kopf  auf   den   Tisch.   "Werden  Sie
Sportredakteur",  riet  Malmy. "Dieses  Ressort stellt an Ihr  zartes  Gemüt
nicht  so  große  Anforderungen." Der  Volontär stand  auf,  schwankte
durchs Gastzimmer der Hintertür zu und verschwand.
     Münzer  saß  auf dem Sofa  und  weinte  plötzlich.  "Ich bin  ein
Schwein", murmelte er.
     "Eine  ausgesprochen  russische  Atmosphäre",   stellte   Strom   fest.
"Alkohol, Selbstquälerei, Tränen  bei erwachsenen Männern." Er war ergriffen
und streichelte dem Politiker die Glatze.
     "Ich bin ein Schwein", murmelte der andere. Er blieb dabei.
     Malmy  lächelte Fabian  zu.  "Der  Staat  unterstützt  den  unrentablen
Großbesitz.  Der  Staat unterstützt die  Schwerindustrie.  Sie liefert
ihre Produkte zu Verlustpreisen ins Ausland, aber sie verkauft sie innerhalb
unserer  Grenzen über dem Niveau des Weltmarktes. Die Rohmaterialien sind zu
teuer; der Fabrikant drückt die Löhne;  der  Staat beschleunigt den  Schwund
der Massenkaufkraft durch Steuern, die er den Besitzenden nicht  aufzubürden
wagt; das  Kapital flieht ohnedies milliardenweise über die Grenzen. Ist das
etwa  nicht konsequent?  Hat der Wahnsinn etwa keine Methode? Da  läuft doch
jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammen!"
     "Ich  bin ein Schwein", murmelte  Münzer und  fing  mit  vorgeschobener
Unterlippe die Tränen auf.
     "Sie überschätzen sich,  Verehrter", sagte der Handelsredakteur. Münzer
zog, während er weiter weinte, ein  gekränktes Gesicht. Er  war  entschieden
beleidigt,  daß  man ihn darin hindern wollte, das  zu sein, wofür  er
sich, wenn auch nur im betrunkenen Zustand, hielt.
     Malmy  fuhr mit  Vergnügen fort, die Situation zu  klären. "Die Technik
multipliziert die Produktion. Die  Technik  dezimiert das  Arbeitsheer.  Die
Kaufkraft  der   Massen  hat  die  galoppierende  Schwindsucht.  In  Amerika
verbrennt man  Getreide  und Kaffee,  weil  sie sonst zu  billig  würden. In
Frankreich jammern die Weinbauern, daß die Ernte zu gut gerät. Stellen
Sie sich das vor. Die  Menschen sind verzweifelt,  weil  der  Boden zu  viel
trägt! Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu fressen! Wenn in so eine
Welt   kein    Blitz    fährt,   dann   können   sich    die    historischen
Witterungsverhältnisse  begraben lassen."  Malmy stand auf, wankte ein wenig
und schlug ans Glas. Die Umsitzenden sahen ihn an.
     "Meine Herrschaften", rief er, "ich will eine Rede halten.  Wer dagegen
ist, stehe auf."
     Münzer erhob sich mühsam.
     "Der stehe auf", rief Malmy, "und verlasse das Lokal."
     Münzer setzte sich wieder, Strom lachte.
     Nun begann Malmy seine Rede: "Wenn das, woran unser geschätzter Erdball
heute  leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie habe
die  Paralyse.  Und  sicher  ist  Ihnen  allen   bekannt,  daß  dieser
äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur
heilbar  ist, bei der es um  Leben und  Tod geht. Was tut  man  mit  unserem
Globus?  Man  behandelt ihn mit Kamillentee.  Alle  wissen, daß dieses
Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten
und   Tee   trinken,   denkt   man,  und   so   schreitet  die   öffentliche
Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist."
     "Lassen  Sie  doch  diese  ekelhaften  medizinischen  Vergleiche!" rief
Strom. "Ich bin nicht fest auf dem Magen."
     "Lassen  wir  die medizinischen Vergleiche",  sagte  Malmy. "Wir werden
nicht  daran  zugrunde   gehen,  daß   einige  Zeitgenossen  besonders
niederträchtig sind, und nicht daran, daß einige  von diesen und jenen
mit einigen von denen identisch sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an
der  seelischen  Bequemlichkeit  aller  Beteiligten  zugrunde.  Wir  wollen,
daß es sich ändert, aber wir  wollen nicht,  daß wir uns ändern.
"Wozu sind die anderen da?", denkt jeder  und  wiegt  sich im Schaukelstuhl.
Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin  Geld,  wo wenig
ist.  Die Schieberei und das Zinszahlen nehmen kein Ende,  und die Besserung
nimmt keinen Anfang."
     "Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer, hob sein  Glas und hielt es vor
den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.
     "Der  Blutkreislauf ist  vergiftet", rief Malmy. "Und wir  begnügen uns
damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der  sich Entzündungen zeigen,
ein Pflaster  zu kleben. Kann man eine Blutvergiftung so heilen? Man kann es
nicht.  Der   Patient  geht   eines  Tages,  über  und  über  mit  Pflastern
bepflastert, kaputt!"
     Der Theaterkritiker  wischte sich  den Schweiß von der Stirn  und
sah den Redner bittend an.
     "Lassen Sie die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy.
     "Wir  gehen  an der  Trägheit  unserer  Herzen  zugrunde. Ich  bin  ein
Wirtschaftler und  erkläre Ihnen:  Die  Gegenwartskrise  ohne eine vorherige
Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!"
     "Es ist  der Geist, der  sich den Körper baut", behauptete  Münzer  und
warf sein Glas um.  Dann schluchzte er laut auf. Er bekam jetzt das heulende
Elend in  ganz  großem  Maßstab. Und  Malmy mußte, um  den
Kollegen zu übertönen, noch lauter sprechen. "Sie werden einwenden,  es gebe
ja zwei große Massenbewegungen. Diese Leute, ob  sie  nun  von  rechts
oder links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung  heilen,  indem sie  dem
Patienten   mit  einem  Beil  den  Kopf   abschlagen.  Allerdings  wird  die
Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und  das
heißt, die Therapie zu weit treiben."
     Herr Strom  hatte von den Krankheitsbildern  endgültig genug und suchte
das Weite.
     Am Ecktisch stand mühsam ein  dicker Mann auf, versuchte dem Redner den
Kopf  zuzuwenden, aber  der Hals  war  zu  massiv,  und  so sagte  er m  die
verkehrte Richtung:  "Mediziner hätten Sie werden sollen."  Dann plumpste er
wieder auf  seinen Stuhl. Dort  packte ihn plötzlich die helle  Wut,  und er
brüllte: "Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!"
     Münzer nickte und flüsterte: "Montecuccoli war  auch ein Schwein." Dann
weinte er wieder weiter. Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen.
"Einfach  lächerlich",   knurrte  er.  "Geistige  Erneuerung,  Trägheit  des
Herzens,  einfach  lächerlich. Geld  her,  und wir sind gesund.  Das wäre ja
gelacht, wäre das ja!"
     Münzer schnarchte jetzt auf erlaubte  Weise, er schlief. Eine Frau, die
ihm gegenübersaß  und die genau so dick war wie  er,  fragte: "Aber wo
kriegen wir denn das Geld her, Arthur?"
     "Hab  ich dich  gefragt?"  schrie er,  schon  wieder aufgebracht.  Dann
beruhigte   er  sich  endgültig,  hielt  den  Kellner,  der  vorbeiging,  am
Rockschoß fest und sagte: "Noch ein Sülzkotelett, und Essig und Öl."
     Malmy zeigte zu dem Dicken  hinüber und meinte:  "Habe ich recht? Wegen
solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten? Ich denke  nicht daran. Es wird
weitergelogen. Es ist richtig, das Falsche zu tun."
     Münzer  hatte sich's bequem gemacht, lag auf  dem  Sofa und  schnarchte
schon, obwohl er noch gar nicht schlief.
     "Und Ihr Auto habe  ich  doch",  grunzte er und  drehte die Pupillen zu
Malmy hinüber.
     Kurz darauf kamen Strom  und Irrgang zurück. Sie kamen Arm in Arm daher
und sahen  aus, als hätten sie die Gelbsucht. "Ich vertrage keinen Alkohol",
erläuterte Irrgang entschuldigend. Die zwei nahmen Platz.
     "Ein Kriegsprodukt",  sagte  Strom.  "Eine  bedauernswerte Generation."
Dieser Theaterkritiker konnte die selbstverständlichsten und  unstreitigsten
Dinge  äußern,  sobald er  es  war, der  sie  behauptete, wirkten  sie
unglaubwürdig  und reizten zum Widerspruch.  Hätte er, in seinem Pathos  von
der Stange,  erklärt,  zweimal zwei sei vier,  Fabian hätte plötzlich an der
Richtigkeit der  Rechnung  gezweifelt. Er  wandte sich von  dem  Mann ab und
betrachtete Malmy. Der saß  steil auf  dem Stuhl und war mit dem Blick
sonstwo,  dann gab er sich, weil er sich beobachtet  fühlte, einen Ruck, sah
Fabian  an  und   sagte:  "Man  sollte  sich  mehr  zusammennehmen.  Schnaps
zerfrißt den Maulkorb."
     Fabian  erhob  sich  und  gab den Journalisten die  Hand,  zuletzt  dem
Handelsredakteur.
     "Aber vielleicht haben Sie recht", meinte Malmy und lächelte traurig.
     "Ich  bin nicht mehr ganz nüchtern", sagte Fabian, als er vor  der  Tür
stand, zur Nacht. Er schätzte jenes frühe Stadium der Trunkenheit, das einen
glauben  machen  will,  man  spüre die Umdrehungen  der Erde. Die Bäume  und
Häuser stehen  noch ruhig an ihrem Platz, die Laternen treten noch nicht als
Zwillinge auf, aber die  Erde dreht sich, endlich  fühlt man es einmal! Doch
heute mißfiel  ihm auch das. Er ging neben seinem Schwips her und tat,
als kennten sie einander nicht. Was war das für eine  komische Kugel, ob sie
sich  nun  drehte oder nicht! Er mußte  an eine Zeichnung  von Daumier
denken,  die  "Der  Fortschritt"  hieß.  Daumier  hatte auf dem  Blatt
Schnecken dargestellt,  die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der
menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen  im Kreise! Und das war
das Schlimmste.
     VIERTES KAPITEL
     Eine Zigarette, groß wie der Kölner Dom
     Frau Hohlfeld ist neugierig
     Ein möblierter Herr liest Descartes
     Am nächsten  Morgen  kam Fabian müde ins Büro. Außerdem  hatte er
einen  Kater.  Fischer,  der  Kollege, begann die Arbeit damit, daß er
zunächst frühstückte.
     "Wo  nehmen Sie  bloß den permanenten Hunger her?" fragte Fabian.
"Sie  verdienen  weniger  als  ich. Sie  sind  verheiratet.  Sie  haben  ein
Sparkonto. Und dabei  essen Sie derart  viel, daß ich davon  mit  satt
werde."
     Fischer kaute hinter.  "Das hegt bei uns in der Familie", erklärte  er.
"Wir Fischers sind dafür berühmt."
     "Man sollte Ihrer Familie ein Denkmal bauen", sagte Fabian ergriffen.
     Fischer rutschte unruhig auf dem  Stuhl umher. "Bevor  ich's  vergesse,
Kunze  hat  eine Inseratensene  gezeichnet,  zu der  wir gereimte Zweizeiler
liefern sollen. Das liegt Ihnen sicher."
     "Ihr  Zutrauen  ehrt mich", sagte  Fabian, "aber ich habe  noch mit den
Schlagzeilen für die fotomontierten Plakate zu  tun. Dichten  Sie inzwischen
ruhig   drauflos.  Denn  was  nützt  Ihnen  und  Ihrer  werten  Familie  das
Frühstücken,  wenn   sich's  nicht  reimt?"  Er   sah  durchs  Fenster,  zur
Zigarettenfabrik  hinüber,  und gähnte. Der Himmel  war grau wie der Asphalt
auf  den  Radrennbahnen.  Fischer  ging auf  und ab,  gab  Falten  lebhaften
Unwillens zum besten und fing Reimwörter.
     Fabian  rollte ein  Plakat auf, befestigte es  mit Reißzwecken an
der Wand, stellte sich in die entlegenste  Zimmerecke und starrte das Plakat
an, das mit einer Fotografie des Kölner Domes und einer vom Plakathersteller
daneben errichteten,  dem Dom  an  Größe nichts nachgebenden Zigarette
bedeckt war. Er  notierte: "Nichts  geht über  ...  So  groß  ist  ...
Turmhoch  über  allen ... Völlig unerreichbar." Er tat seine Pflicht, obwohl
er nicht einsah, wozu.
     Fischer fand keinen Reim und keine Ruhe. Er fing eine Unterhaltung  an.
"Bertuch erzählt, es stünden wieder Kündigungen bevor."
     "Schon möglich", sagte Fabian.
     "Was fangen Sie an", fragte der andere,  "wenn man Sie hier vor die Tür
setzt?"
     "Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht,
gute Propaganda  für  schlechte Zigaretten zu machen?  Wenn ich hier fliege,
suche  ich mir einen neuen Beruf.  Auf  einen mehr oder weniger kommt es mir
nicht mehr an."
     "Erzählen Sie  mal  was von sich", bat  Fischer. "Während der Inflation
hab ich für eine Aktiengesellschaft Börsenpapiere verwaltet. Ich mußte
jeden  Tag  zweimal den Effektivwert der Papiere ausrechnen, damit die Leute
wußten, wie groß ihr Kapital war."
     "Und dann?"
     "Dann hab ich mir für etwas Valuta einen Grünwarenladen gekauft."
     "Warum gerade einen Grünwarenladen?"
     "Weil  wir  Hunger  hatten! Überm  Schaufenster stand:  Doktor  Fabians
Feinkosthandlung. Frühmorgens, wenn es noch  dunkel war, zogen wir mit einem
wackeligen Handwagen in die Markthalle."
     Fischer stand auf. "Wie? Doktor sind Sie auch?"
     "Ich machte die Prüfung  in dem gleichen Jahr, in dem ich beim Messeamt
als Adressenschreiber angestellt war."
     "Wie hieß denn Ihre Dissertation?"
     "Sie  hieß "Hat Heinrich von Kleist  gestottert?" Erst wollte ich
an   Hand   von   Stiluntersuchungen   nachweisen,   daß   Hans  Sachs
Plattfüße gehabt hat. Aber  die Vorarbeiten  dauerten zu lange. Genug,
dichten Sie lieber!" Er schwieg und ging vor dem  Plakat auf und ab. Fischer
schielte  neugierig  zu  ihm hin.  Doch  er wagte  nicht,  das  Gespräch  zu
erneuern.  Seufzend drehte  er.  sich  im Stuhl  herum  und  musterte  seine
Reimnotizen. Er beschloß, Brauchen auf Rauchen zu reimen, glättete das
Schreibpapier,  das vor ihm lag,  und kniff, der Inspiration vertrauend, die
Augen zu. Aber da klingelte das Telefon. Er hob ab und sagte: "Ja, ist hier.
Einen Augenblick, Doktor Fabian kommt sofort."
     Und zu Fabian meinte  er:  "Ihr Freund Labude."  Fabian nahm den Hörer.
"Tag, Labude, was gibt's?"
     "Seit wann betiteln dich die Zigarettenfritzen?" fragte der Freund.
     "Ich habe aus der Schule geplaudert."
     "Geschieht dir recht. Kannst du heute zu mir kommen?"
     "Ich komme."
     "In Wohnung Nummer zwei. Auf Wiedersehen."
     "Auf  Wiedersehen, Labude."  Er  hängte ab. Fischer hielt  ihn am Ärmel
fest.
     "Dieser  Herr  Labude  ist  doch  Ihr  Freund.  Warum  nennen  Sie  ihn
eigentlich nie beim Vornamen?"
     "Er hat keinen", meinte Fabian. "Die Eltern haben seinerzeit vergessen,
ihm einen zu geben."
     "Er hat überhaupt keinen Vornamen?"
     "Nein,  denken  Sie  an!  Er will sich  seit  Jahren nachträglich einen
beschaffen. Aber die Polizei erlaubt es nicht."
     "Sie veralbern mich ja", rief Fischer gekränkt.
     Fabian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter  und sagte: "Sie merken
alles." Dann  widmete er sich von  neuem dem  Kölner  Dom,  schrieb ein paar
Schlagzeilen auf und brachte sie zu Direktor Breitkopf.
     "Sie   können   sich   mal  ein  kleines,   hübsches  Preisausschreiben
ausdenken", meinte der  Direktor. "Ihr Prospekt für  Detailhändler  hat  uns
ganz gut gefallen."
     Fabian verbeugte sich leicht.
     "Wir   brauchen   etwas   Neues",  fuhr   der   Direktor   fort.   "Ein
Preisausschreiben  oder  etwas   Ähnliches.  Es  darf  aber  nichts  kosten,
verstehen Sie? Der Aufsichtsrat  hat schon neulich geäußert, er  müsse
den Reklame-Etat möglicherweise um die Hälfte  reduzieren. Was  das für  Sie
bedeuten  würde, können Sie sich denken.  Ja?  Also,  junger  Freund, an die
Arbeit! Bringen Sie mir bald was Neues. Ich wiederhole aber: So  billig  wie
möglich, 'n Morgen."
     Fabian ging.
     Als er  sein Zimmer - achtzig Mark monatlich, Morgenkaffee Inbegriffen,
Licht extra  - am Spätnachmittag  betrat,  fand er  einen Brief  von  seiner
Mutter auf dem Tisch. Baden  konnte er nicht. Das  warme Wasser war kalt. Er
wusch  sich  nur, wechselte  die Wäsche,  zog den grauen  Anzug an, nahm den
Brief  seiner Mutter  und  setzte  sich  ans Fenster.  Der Straßenlärm
trommelte wie ein Regenguß an  die Scheiben. In der dritten Etage übte
jemand Klavier. Nebenan schrie der alte eingebildete Oberrechnungsrat  seine
Frau an. Fabian öffnete das Kuvert und las: "Mein lieber, guter Junge!
     Gleich  zu  Anfang und um Dich zu beruhigen, der Doktor hat gesagt,  es
ist  nichts Schlimmes. Es  wird wohl was mit den Drüsen sein. Und kommt  bei
älteren  Leuten öfter  vor. Mach  Dir also meinetwegen keine Sorgen. Ich war
erst  sehr  nervös. Aber nun wird es  schon  wieder  werden  mit  dem  alten
Lehmann. Gestern war ich  ein  bißchen im Palais-Garten.  Die  Schwäne
haben Junge. Im Parkcafé verlangen sie siebzig Pfennig für die Tasse Kaffee,
so eine Frechheit. Gott sei Dank, daß die Wäsche vorbei ist. Frau Hase
sagte im  letzten Augenblick  ab. Einen Bluterguß hat sie, glaub  ich.
Aber es ist mir gut  bekommen. Morgen früh  bringe ich  den Karton zur Post.
Hebe  ihn gut  auf  und schnür  ihn fester zu als das letzte Mal. Wie leicht
kann unterwegs was wegkommen. Die Mieze sitzt mir auf dem  Schoß,  sie
hat eben  ein Stück Gurgel gefressen, und  nun stößt sie  mich mit dem
Kopf  und  will  mich  nicht  schreiben  lassen. Wenn  Du  mir  wieder,  wie
vergangene Woche, Geld m den Brief  steckst, reiße  ich Dir die  Ohren
ab. Wir  reichen  schon, und Du brauchst Dein Geld selber. Macht es Dir denn
wirklich Spaß, für Zigaretten Reklame  zu machen? Die Drucksachen, die
Du schicktest, haben mir  gut gefallen.  Frau Thomas meinte, es ist doch ein
Jammer, daß Du solches Zeug schreibst. Aber  ich sagte, das  ist nicht
seine Schuld. Wer  heute nicht verhungern will, und wer will  das schon, der
kann  nicht warten, bis ihm der richtige Beruf durch den Schornstein  fällt.
Und dann  habe ich  noch gesagt, es  ist ja nur  ein Übergang. Der Vater hat
halbwegs zu  tun. Es scheint  aber was mit der Wirbelsäule zu sein. Er  geht
ganz krumm.  Tante Martha brachte gestern  ein Dutzend Eier aus  dem Garten.
Die Hühner  legen  fleißig.  Das ist eine gute Schwester. Wenn sie nur
nicht so viel Ärger mit dem Mann hätte.
     Mein  lieber Junge,  wenn  Du  doch  bald mal wieder  nach Hause kommen
könntest.  Ostern warst Du da. Wie die Zeit vergeht. Da hat man nun ein Kind
und hat eigentlich keins. Die  paar Tage im  Jahr,  wo  wir  uns  sehen.  Am
liebsten setzte ich mich gleich  auf die Eisenbahn und  käme hinüber. Früher
war  das  schön. Fast jeden  Abend vor dem  Schlafengehen  sehe ich  mir die
Bilder und die Ansichtskarten an. Weißt Du noch, wenn wir den Rucksack
nahmen und loszogen?  Einmal  kamen wir mit einem ganzen Pfennig  zurück. Da
muß ich gleich lachen, während ich dran denke.
     Na, auf  Wiedersehen, mein  gutes  Kind.  Vor Weihnachten wird es  wohl
nicht werden.  Gehst Du immer noch  so spät schlafen? Grüß Labude. Und
er soll auf Dich aufpassen. Was machen die Mädchen? Sieh Dich vor. Der Vater
läßt  grüßen.  Viele Grüße  und Küsse von Deiner  Mutter."
Fabian  steckte den  Brief ein und  blickte auf die  Straße  hinunter.
Warum  saß er hier in  diesem fremden gottverlassenen  Zimmer, bei der
Witwe Hohlfeld, die das  Vermieten  früher nicht nötig gehabt  hatte? Warum
saß er nicht zu Hause, bei  seiner Mutter? Was hatte er hier in dieser
Stadt, in  diesem verrückt  gewordenen  Steinbaukasten, zu suchen?  Blumigen
Unsinn schreiben,  damit  die Menschheit  noch  mehr Zigaretten rauchte  als
bisher? Den Untergang Europas konnte  er  auch dort  abwarten, wo er geboren
worden  war.  Das hatte  er davon,  daß er sich einbildete, der Globus
drehe  sich  nur,  solange  er ihm  zuschaue. Dieses  lächerliche Bedürfnis,
anwesend  zu sein! Andere hatten  einen Beruf, kamen  vorwärts,  heirateten,
ließen ihre Frauen  Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema.
Und er mußte, noch  dazu freiwillig, hinterm  Zaun stehen, zusehen und
ratenweise verzweifeln. Europa  hatte große  Pause.  Die Lehrer  waren
fort. Der Stundenplan war verschwunden.  Der alte Kontinent  würde  das Ziel
der Klasse nicht erreichen. Das Ziel keiner Klasse!
     Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte: "Pardon, ich
dachte, Sie wären noch nicht da."  Sie kam näher. "Haben Sie  gestern  nacht
den  Krach  gehört,  den Herr  Tröger  veranstaltet  hat?  Er  hatte  wieder
Frauenzimmer mit  oben. Das Sofa sieht aus!  Ich werfe ihn hinaus, wenn  das
noch einmal vorkommt.  Was soll die neue Untermieterin denken, die im ändern
Zimmer wohnt?"
     "Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu helfen."
     "Aber, Herr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Absteigequartier!"
     "Gnädige Frau, es  ist  weithin  bekannt,  daß  sich,  von  einem
gewissen Alter ab, beim Menschen  Bedürfnisse regen, die im Widerspruch  zur
Moral der Vermieterinnen stehen."
     Die   Wirtin  wurde   ungeduldig.  "Aber   er  hatte  mindestens   zwei
Frauenzimmer bei sich!"
     "Herr  Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das beste  wird sein, Sie
teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine Dame mitbringen.  Und wenn
er  sich  nicht  danach  richtet,  lassen  wir  ihn  von  der  Sittenpolizei
kastrieren."
     "Man  geht mit  der Zeit", erklärte Frau  Hohlfeld nicht ohne Stolz und
rückte noch näher. "Die Sitten haben  sich geändert. Man paßt sich an.
Ich verstehe manches. Schließlich, ich bin ja auch noch nicht so alt."
     Sie stand knapp hinter ihm. Er sah sie nicht, aber vermutlich wogte ihr
unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag  schlimmer.  Fand  sich  denn
wirklich niemand für  sie?  Nachts  stand  sie vermutlich,  auf bloßen
Füßen,  vor  dem  Zimmer des  Stadtreisenden Tröger und  nahm,  durchs
Schlüsselloch, seinen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal
blickte sie ihn an, als wolle sie ihm  die Hosen ausziehen. Früher war diese
Sorte  Damen fromm  geworden. Er stand auf und sagte: "Schade, daß Sie
keine Kinder haben."
     "Ich gehe schon." Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zimmer.
     Er sah auf die Uhr. Labude war noch in  der Bibliothek. Fabian trat zum
Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln  darauf. Darüber, an der Wand,
hing eine Stickerei mit der Inschrift: "Nur ein Viertelstündchen." Er hatte,
als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht.
Manchmal  las  er noch ein  paar Seiten in irgendeinem der Bücher. Geschadet
hatte es  fast  nie. Er  griff zu. Es war Descartes. "Betrachtungen über die
Grundlagen der Philosophie",  so  hieß  das  kleine Heft.  Sechs Jahre
waren  es her, seit er sich damit  befaßt hatte. Driesch hatte  in der
mündlichen Prüfung dergleichen wissen  wollen.  Sechs  Jahre  waren mitunter
eine  lange  Zeit.  Auf  der  anderen Straßenseite  hatte  ein  Schild
gehangen: "Chaim Pines, Ein- und Verkauf von Fellen". War  das alles, was er
von damals  wußte? Bevor  er vom Examinator aufgerufen wurde, war  er,
mit dem Zylinder eines anderen Kandidaten auf dem Kopfe, durch die Korridore
spaziert und  hatte den  Pedell  erschreckt.  Vogt,  der Kandidat, war  dann
durchgefallen und nach Amerika gegangen.
     Er setzte  sich  und  schlug das Heft  auf.  Was  hatte  Descartes  ihm
mitzuteilen? "Schon vor Jahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich von Jugend
auf  als  wahr  hingenommen hatte, und wie  zweifelhaft alles  sei, was  ich
später darauf gründete. Darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben
von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je irgend
etwas  Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses  schien  mir aber eine
ungeheure  Aufgabe   zu  sein,  und   so   wartete  ich  jenes   reife,  für
wissenschaftliche  Untersuchungen  angemessene Alter  ab.  Darum habe ich so
lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld  auf mich lüde, wenn ich die
Zeit, die mir zu  handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das
trifft sich nun sehr günstig.  Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich
habe  mir  eine  ruhige  Muße  verschafft. So  ziehe  ich mich in  die
Einsamkeit zurück  und will  ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller
meiner Meinungen unternehmen."
     Fabian blickte auf die Straße hinunter,  sah den Autobussen nach,
die, wie  Elefanten auf Rollschuhen,  die Kaiserallee entlang  fuhren,  und
schloß vorübergehend  die Augen. Dann  blätterte er  und  überflog die
Einleitung. Fünfundvierzig Jahre  war  Descartes alt gewesen, als  er  seine
Revolution  ankündigte.  Am  Dreißigjährigen  Krieg hatte er  sich ein
bißchen beteiligt. Ein kleiner Kerl,  mit immensem Schädel. "Von allen
Sorgen frei." Revolution  in  der Einsamkeit. In  Holland. Tulpenbeete  vorm
Haus. Fabian lachte,  legte den Philosophen  beiseite und zog den Mantel an.
Im  Korridor  begegnete  er  Herrn  Tröger,  dem Reisenden  mit dem  starken
Frauenverbrauch. Sie zogen die Hüte.
     Labudes zweite  Wohnung  lag  im  Zentrum.  Wenige wußten  davon.
Hierhin zog er sich zurück, wenn  ihm der  Westen, die noble Verwandtschaft,
die  Damen der guten Gesellschaft und das Telefon auf die Nerven gingen. Und
hier hing er seinen wissenschaftlichen und sozialen Neigungen nach.
     "Wo hast du denn in der vorigen Woche gesteckt?" fragte Fabian.
     "Danke, gut",  sagte  Labude  und trank  den Kognak, der vor ihm stand.
"Ich war in Hamburg. Leda läßt grüßen."
     "Und wie befindet sich das Fräulein Braut?"
     "Davon später."
     "Was vom Geheimrat gehört? Hat er deine Arbeit gelesen?"
     "Nein.   Er   hatte   keine   Zeit,   sondern  Promotionen,  Prüfungen,
Vorlesungen, Seminare und Senatssitzungen. Bis er meine Habilitationsschrift
gelesen  hat, habe ich einen kniefreien Vollbart." Labude schenkte sich  ein
und  trank. "Sei  nicht nervös. Die  Kerle werden sich  wundern,  wie du aus
Lessings  Gesammelten  Werken das  Gehirn  und die  Denkvorgänge  des Mannes
rekonstruiert hast,  den  sie, bis du  kamst,  als  den Logos  mit  Freilauf
dargestellt und noch nie verstanden haben."
     "Ich fürchte, sie werden sich zu sehr wundern. Die geweihte Logik eines
toten  Schriftstellers  psychologisch  auswerten,  Denkfehler entdecken  und
individuell und als  sinnvolle Vorgänge  behandeln,  den Typus  des zwischen
zwei   Zeitaltern   schwankenden   genialen   Menschen   an   einem   längst
verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern
werden. Warten wir ab. Lassen wir den ollen Sachsen in Ruhe. Fünf Jahre habe
ich diesen  Kerl seziert, auseinandergenommen und zusammengesetzt! Auch eine
Beschäftigung für einen erwachsenen Menschen,  im  achtzehnten  Jahrhundert
wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!"
     Fabian nahm ein Likörglas aus dem Schrank und schenkte sich ein. Labude
blickte  vor sich  hin.  "Heute  morgen  war  ich  dabei,  wie  sie  in  der
Staatsbibliothek  einen Professor  festnahmen. Einen  Sinologen. Er hat seit
einem Jahr seltene Drucke und Bilder der Bibliothek  gestohlen und verkauft.
Er wurde blaß  wie eine Wand,  als man ihn verhaftete, und setzte sich
erst mal  auf die  Treppe. Man fütterte ihn mit kaltem Wasser. Dann wurde er
abtransportiert."
     "Der Mann  hat den Beruf verfehlt", sagte Fabian.  "Wozu lernt er  erst
Chinesisch, wenn  er zum  Schluß vom Stehlen  lebt? Es steht  schlimm.
Jetzt räubern schon die Philologen."
     "Trink aus und komm!" rief Labude.
     Sie  gingen  an  der Markthalle vorbei, durch tausend scheußliche
Gerüche hindurch, zur Autobushaltestelle.
     "Wir fahren zu Haupt", sagte Labude.
     FÜNFTES KAPITEL
     Ein ernstes Gespräch am Tanzparkett
     Fräulein Paula ist insgeheim rasiert
     Frau Moll wirft mit Gläsern
     In Haupts  Sälen  war, wie an  jedem Abend,  Strandfest. Punkt zehn Uhr
stiegen, im Gänsemarsch,  zwei  Dutzend  Straßenmädchen von der Empore
herunter.  Sie trugen  bunte Badetrikots, gerollte Wadenstrümpfe  und Schuhe
mit hohen Absätzen. Wer sich derartig auszog, hatte freien Zutritt zum Lokal
und erhielt einen Schnaps  gratis. Diese Vergünstigungen waren in Anbetracht
des daniederliegenden  Gewerbes  nicht zu  verachten.  Die  Mädchen  tanzten
anfangs miteinander, damit die Männer etwas zu sehen hatten.
     Das von Musik  begleitete Rundpanorama weiblicher  Fülle erregte die an
der   Barriere  drängenden   Kommis,   Buchhalter   und  Einzelhändler.  Der
Tanzmeister  schrie, man möge sich  auf die Damen stürzen, und  das geschah.
Die dicksten  und  frechsten Frauenzimmer wurden  bevorzugt. Die Weinnischen
waren schnell besetzt. Die Barfräuleins hantierten mit  dem Lippenstift. Die
Orgie  konnte  beginnen. Labude und  Fabian saßen  an  der Rampe.  Sie
liebten dieses Lokal,  weil sie nicht hierher  gehörten.  Das  Nummernschild
ihres  Tischtelefons  glühte  ohne  Unterbrechung. Der  Apparat surrte.  Man
wollte sie sprechen. Labude hob den Hörer aus der Gabel  und legte ihn unter
den Tisch. Sie hatten wieder Ruhe. Denn der Lärm, der übrigblieb, die Musik,
das Gelächter und  der Gesang waren nicht  persönlich  gemeint  und  konnten
ihnen nichts anhaben.
     Fabian berichtete von der Nachtredaktion, von der Zigarettenfabrik, von
der verfressenen  Familie  Fischer und  vom Kölner Dom.  Labude  blickte den
Freund an und sagte: "Du müßtest endlich vorwärtskommen."
     "Ich kann doch nichts."
     "Du kannst vieles."
     "Das ist  dasselbe",  meinte Fabian. "Ich kann  vieles und will nichts.
Wozu soll  ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir einmal an,  ich
sei der  Träger einer Funktion. Wo ist das System,  in dem ich funktionieren
kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn."
     "Doch, man verdient beispielsweise Geld."
     "Ich  bin  kein   Kapitalist."   "Eben  deshalb."   Labude  lachte  ein
bißchen.
     "Wenn ich sage, ich bin kein  Kapitalist, dann meine ich: ich habe kein
pekuniäres  Organ.  Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem  Geld
anfangen? Um  satt zu werden,  muß man  nicht  vorwärtskommen.  Ob ich
Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist
überhaupt  gleichgültig. Sind  das Aufgaben für einen erwachsenen  Menschen?
Rotkohl en  gros oder  en detail,  wo steckt der Unterschied?  Ich  bin kein
Kapitalist,  wiederhole ich dir! Ich  will  keine Zinsen,  ich  will  keinen
Mehrwert."
     Labude schüttelte den Kopf. "Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es
nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen."
     "Was  fang ich mit der Macht  an?" fragte  Fabian. "Ich  weiß, du
suchst sie. Aber  was  fange  ich  mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu
sein wünsche? Machthunger  und Geldgier  sind Geschwister, aber mit mir sind
sie nicht verwandt."
     "Man kann  die Macht im Interesse  anderer  verwenden." "Wer  tut  das?
Dieser wendet  sie für sich an,  jener für seine Familie, der eine für seine
Steuerklasse, der andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der  fünfte
für  solche,  die über zwei  Meter  groß sind,  der sechste,  um  eine
mathematische Formel an der  Menschheit  auszuprobieren. Ich pfeif auf  Geld
und  Macht!"  Fabian  hieb mit  der Faust auf  die  Brüstung,  aber sie  war
gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm.
     "Wenn  es eine  Gärtnerei gäbe, wie  ich sie mir  erträume! Ich brächte
dich, an  Händen  und Füßen  gefesselt, hin  und  ließe  dir ein
Lebensziel einpflanzen!" Labude war  ernstlich bekümmert  und legte die Hand
auf den Arm des Freundes.
     "Ich sehe zu. Ist das nichts?"
     "Wem ist damit geholfen?"
     "Wem ist zu helfen?"  fragte Fabian. "Du willst Macht haben. Du willst,
träumst  du,  das Kleinbürgertum sammeln  und führen. Du willst  das Kapital
kontrollieren  und  das  Proletariat einbürgern. Und dann willst du  helfen,
einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und
ich sage dir: Noch in deinem Paradies  werden sie sich die Fresse vollhauen!
Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird... Ich weiß ein
Ziel, aber es  ist leider keines.  Ich möchte helfen, die Menschen anständig
und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich  damit beschäftigt, sie auf ihre
diesbezügliche Eignung hin anzuschauen."
     Labude hob sein  Glas und  rief: "Viel Vergnügen!" Er  trank, setzte ab
und sagte:  "Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden
sich die Menschen anpassen."