Fabian trank und schwieg.
     Labude  fuhr erregt  fort:  "Das siehst du  ein,  nicht wahr? Natürlich
siehst  du  das  ein. Aber du phantasierst  lieber von  einem unerreichbaren
vollkommenen  Ziel  anstatt  einem  unvollkommenen  zuzustreben,   das  sich
verwirklichen läßt.  Es ist dir bequemer so.  Du  hast keinen Ehrgeiz,
das ist das Schlimme."
     "Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere  fünf Millionen  Arbeitslosen
begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf  Unterstützung. Stell dir vor, sie
wären ehrgeizig!"
     Da  lehnten sich  zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war
dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei sie serviert. Die
andere  Person  war mager, und ihr Gesicht  sah aus,  als  hätte sie  krumme
Beine. "Schenkt  uns  'ne  Zigarette",  sagte die Blonde. Fabian  hielt  die
Schachtel hin,  Labude gab Feuer. Die  Frauen rauchten,  blickten die jungen
Männer  abwartend  an,  und  die  Magere konstatierte nach  einer  Pause mit
verrosteter Stimme: "Na ja, so ist das."
     "Wer spendiert 'nen Schnaps?" fragte die Dicke.
     Sie  gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und gewaltige Weintrauben,
alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Sie setzten sich in eine Ecke. Die Wand
war  mit  der Pfalz  bei  Caub  bemalt. Fabian  dachte  an  Blücher,  Labude
bestellte  Likör. Die Frauen  flüsterten miteinander.  Vermutlich verteilten
sie die zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke Blonde
den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und tat  wie zu  Hause. Die
Magere  trank  ihr  Glas auf einen Zug leer,  zupfte Labude an der Nase  und
kicherte   blöde.  "Oben  sind  Nischen",  sagte  sie,  strich  die   blauen
Trikothosen von  den  Schenkeln zurück und zwinkerte. "Woher  haben  Sie  so
rauhe Hände?"  fragte  Labude.  Sie drohte mit  dem  Finger. "Nicht,  was du
denkst", rief sie und verschluckte sich vor Schelmerei.
     "Paula  hat  früher  in einer  Konservenfabrik gearbeitet",  sagte  die
Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so lange über die Brüste,
bis die Brustwarzen groß und fest  wurden. "Gehen wir dann ins Hotel?"
fragte sie.
     "Ich  bin  überall  rasiert",  erläuterte  die  Magere  und  war  nicht
abgeneigt,  den  Nachweis zu erbringen.  Labude  hielt  sie  mühsam  von dem
äußersten zurück.
     "Man schläft nachher  besser", sagte die Blondine zu Fabian und  reckte
die fetten Beine.
     Lottchen  von  der  Theke  füllte die Gläser. Die  Frauen  tranken, als
hätten sie acht Tage  nichts gegessen. Die Musik  drang gedämpft herüber. An
der  Bar saß ein riesenhafter Kerl und gurgelte mit Kirschwasser.  Der
Scheitel reichte ihm  bis  ins Rückgrat.  Hinter der Pfalz bei  Caub brannte
eine elektrische Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten.
     "Oben sind  Nischen", sagte die  Magere wieder, und  man stieg  hinauf.
Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller mit Fleisch und Wurst vor
den  Mädchen  stand,  vergaßen  sie alles übrige und kauten  drauflos.
Unten im Saal wurde  die  schönste  Figur prämiiert. Die Frauen drehten sich
mit  ihren knappen  Badeanzügen im Kreis, spreizten  die Arme und Finger und
lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt.
     "Der  erste Preis  ist  eine  große  Bonbonniere",  erklärte  die
kauende  Paula,  "und  wer  sie  gekriegt  hat,  muß   sie  dann  beim
Geschäftsführer wieder abliefern."
     "Ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu dick",
sagte die Blondine. "Dabei sind dicke  Beine das beste, was es gibt. Ich war
einmal  mit einem russischen Fürsten zusammen,  der schreibt mir  noch jetzt
Ansichtskarten."
     "Quatsch!" knurrte Paula.  "Jeder Mann will was anderes. Ich habe einen
Herrn  gekannt,  einen Ingenieur,  der  liebte  Lungenkranke. Und  Viktorias
Freund hat  einen Buckel, und sie sagt,  sie braucht  das zum Leben. Da mach
was dagegen. Ich finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram."
     "Gelernt ist  gelernt",  behauptete die Dicke und  angelte  das  letzte
Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde gerade die schönste Figur
ausgerufen. Die Kapelle spielte einen Tusch. Der Geschäftsführer überreichte
der   Siegerin  eine  große  Bonbonniere.  Sie  dankte  ihm  beglückt,
verneigte sich vor den  klatschenden und johlenden Gästen und zog mit  ihrem
Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie's ins Büro zurück.
     "Warum arbeiten  Sie eigentlich  nicht  mehr in Ihrer Konservenfabrik?"
fragte Labude, und seine Frage klang recht vorwurfsvoll.
     Paula  schob den leeren Teller zurück,  strich sich über  den Magen und
erzählte:  "Erstens war  es gar  nicht  meine Fabrik, und zweitens wurde ich
abgebaut. Glücklicherweise  wußte ich was über den  Direktor. Er hatte
ein  vierzehnjähriges  Mädchen  verführt. Verführt ist übertrieben.  Aber er
glaubte den  Zimt. Und dann  rief  ich ihn  alle vierzehn Tage an, ich müsse
fünfzig  Mark haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag ging
ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab." "Das ist ja Erpressung!"
rief Labude.
     "Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals schickte, fand das
auch. Ich mußte einen Wisch  unterschreiben, bekam hundert  Mark,  und
aus war's mit der Lebensrente. Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in
den Mund."
     "Es  ist  furchtbar", sagte Labude  zu Fabian, "es ist schrecklich, wie
viele Direktoren das Angestelltenverhältnis mißbrauchen."
     Die Dicke rief: "Ach Mensch, was redest  du da. Wenn ich ein Mann wäre,
und  ein  Fabrikdirektor  dazu, ich hätte dauernd Angestelltenverhältnisse."
Dann fuhr sie Fabian in  die Haare, versetzte ihm  einen  Kuß, ergriff
seine Hand  und legte sie  platt auf ihren satten Magen.  Labude  und  Paula
tanzten miteinander. Sie hatte tatsächlich krumme Beine.
     In der Nachbarnische sang eine Frau laut mit betrunkener Stimme:
     "Die Liebe ist ein Zeitvertreib.
     Man nimmt dazu den Unterleib."
     Die Dicke  sagte: "Die nebenan  ist  'ne  Marke. Sie gehört  gar  nicht
hierher,  kommt in  teuren Pelzmänteln an, aber darunter  trägt sie was ganz
Durchsichtiges.  Es  soll  eine  reiche  Frau  aus dem  Westen  sein,  sogar
verheiratet. Sie holt sich junge Kerle in die Nische,  bezahlt für  sie  und
gibt an, daß die Wände rot werden." Fabian erhob sich und blickte über
die halbhohe Zwischenwand hinweg nebenan.
     Dort  saß  in  einem  grünseidenen   Badeanzug  eine  große
gutgewachsene  Frau  und  war, unter  Absingung von  Liedern,  dabei,  einen
Reichswehrsoldaten, der sich verzweifelt wehrte,  auszuziehen. "Kerl!"  rief
sie. "Mach nicht so einen schlappen Eindruck! Los!  Zeig  den Ausweis!" Aber
der brave  Infanterist stieß  sie zurück.  Fabian fiel  jene  bekannte
ägyptische  Ministergattin  ein, die den armen  Josef, den begabten  Urenkel
Abrahams, so schamlos belästigt hatte.  Da  stand die Grüne  auf, packte ein
Sektglas und taumelte zur Brüstung.
     Es  war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene  Moll, deren
Schlüssel er im Mantel hatte. Schwankend  stand  sie  an der Balustrade, hob
das spitze Glas hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang  auf dem
Parkett.  Die  Musiker  setzten  die  Instrumente  ab.  Die Tanzpaare  hoben
erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Nische herauf.
     Frau Moll streckte die Hand aus und rief: "Männer  nennt sich das! Wenn
man sie anpackt, gehen sie aus dem  Leim!  Meine sehr verehrten  Damen,  ich
schlage  vor,  die  Bande  einzusperren. Meine  sehr  verehrten  Damen,  wir
brauchen Männerbordelle! Wer dafür ist, der  hebe die Hand!" Sie schlug sich
emphatisch  vor  die Brust  und bekam davon  den  Schlucken.  Im Saal  wurde
gelacht.  Der Geschäftsführer war  schon  unterwegs. Irene  Moll fing an  zu
weinen. Das Schwarz der getuschten Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen
liniierten ihr Gesicht. "Laßt uns  singen!" schrie sie schluchzend und
schluckend. "Wir singen  das  schöne  Lied vom  Klavierspiel!"  Sie breitete
beide Arme aus und brüllte:
     "Auch der Mensch ist nur ein Tier,
     Immer, und erst recht zu zweit,
     Komm und spiel auf mir Klavier!
     Komm und spieleee auf mir
     Die Schule der Geläufigkeit.
     Dazu bin ich ja..."
     Der  Geschäftsführer  hielt ihr den Mund  zu, sie mißverstand die
Bewegung und fiel ihm um  den Hals.  Dabei sah sie den zu ihr  hinblickenden
Fabian, riß sich los und schrie: "Dich kenne ich doch!" und  wollte zu
ihm.  Aber der  Reichswehrsoldat, der sich inzwischen erholt hatte, und  der
Geschäftsführer packten  sie und drückten sie auf einen Stuhl. Im Saal wurde
wieder  musiziert und getanzt. Labude  hatte  während der Szene bezahlt, gab
Paula und der Dicken etwas Geld, faßte Fabian unter und zog ihn fort.
     In  der  Garderobe  fragte er:  "Sie kennt dich wirklich?"  "Ja", sagte
Fabian,  "sie  heißt Moll, ihr  Mann  ist Rechtsanwalt und zahlt  jede
Summe, wenn man mit ihr schläft. Die Schlüssel dieser komischen Familie habe
ich noch in der Tasche. Hier sind sie."
     Labude  nahm die  Schlüssel  weg, rief: "Ich komme gleich wieder!"  und
lief in Hut und Mantel zurück.
     SECHSTES KAPITEL
     Der Zweikampf am Märkischen Museum
     Wann findet der nächste Krieg statt?
     Ein Arzt versteht sich auf Diagnose
     Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: "Hast du
mit dieser Verrückten etwas gehabt?"
     "Nein,  ich  war  nur in  ihrem  Schlafzimmer, und  sie zog  sich  aus.
Plötzlich kam noch ein Mann hinzu,  behauptete, mit ihr verehelicht zu sein,
ich  solle  mich  aber  nicht  stören  lassen.  Dann  deklamierte  er  einen
ungewöhnlichen Kontrakt, den die beiden geschlossen haben. Dann ging ich."
     "Warum nahmst du die Schlüssel mit?"
     "Weil die Haustür verschlossen war."
     "Ein schauderhaftes  Weib", sagte  Labude.  "Sie  hing  besoffen  überm
Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die Handtasche."
     "Sie  hat  dir  nicht  gefallen?"  fragte  Fabian.  "Sie  ist doch sehr
eindrucksvoll  gewachsen, und das freche Konfirmandengesicht obendrauf wirkt
so wunderbar unpassend."
     "Wenn  sie  häßlich wäre,  hättest du die Schlüssel  längst  beim
Portier abgegeben." Labude zog den Freund weiter. Sie bogen langsam in  eine
Nebenstraße   ein,   kamen    an   einem   Denkmal,   auf   dem   Herr
Schulze-Delitzsch  stand,  und am  Märkischen  Museum vorbei, der  Steinerne
Roland  lehnte  finster in  einer  Efeuecke, und auf  der Spree jammerte ein
Dampfer. Oben auf der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen
Fluß und  auf  die fensterlosen Lagerhäuser.  Über der  Friedrichstadt
brannte der Himmel.
     "Lieber  Stephan", sagte Fabian  leise, "es ist rührend, wie du dich um
mich bemühst. Aber ich  bin  nicht unglücklicher  als unsere Zeit. Willst du
mich   glücklicher  machen,   als  sie   es  ist?  Und  wenn  du  mir  einen
Direktorposten,  eine  Million  Dollar oder  eine anständige  Frau, die  ich
lieben könnte, verschaffst, oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht
gelingen." Ein  kleines  schwarzes  Boot, mit  einer roten Laterne  am Heck,
trieb den Fluß  entlang. Fabian  legte die Hand auf die  Schulter  des
Freundes.  "Als  ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit  damit, neugierig
zuzusehen, ob die Welt  zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe
Wahrheit.  Daß  ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen Grund.
Ich treibe mich herum,  und ich warte wieder,  wie damals im  Krieg, als wir
wußten:  Nun werden wir eingezogen.  Erinnerst du dich? Wir  schrieben
Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es war gleichgültig, ob wir
es taten oder unterließen.  Wir sollten  ja in den Krieg. Saßen
wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich
die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten  nicht aus
Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich?  Wir wollten
nichts versäumen, und wir  hatten  einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir
glaubten, es sei die Henkersmahlzeit."
     Labude lehnte  am  Geländer und blickte auf die Spree hinunter.  Fabian
ging hin und  her, als  liefe er in seinem  Zimmer auf und ab. "Erinnerst du
dich?" fragte er. "Und ein halbes Jahr  später  waren wir marschbereit.  Ich
bekam acht Tage Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin,  weil ich als Kind
einmal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief melancholisch
über den schwankenden Boden der Erlenwälder.  Die Ostsee  war verrückt,  und
die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit
sechsen  schlief   ich.  Die   nächste   Zukunft  haltenden  Entschluß
gefaßt, mich  zu Blutwurst  zu  verarbeiten.  Was sollte ich bis dahin
tun?  Bücher lesen? An  meinem  Charakter  feilen  ? Geld  verdienen  ?  Ich
saß  in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa.  Acht
Tage später fuhr der Zug. Das wußte ich.  Aber  wohin er fuhr, und was
aus mir  werden sollte, das wußte kein Mensch.  Und jetzt  sitzen  wir
wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir
nicht,  was  geschehen  wird. Wir leben  provisorisch, die Krise nimmt  kein
Ende!"
     "Zum Donnerwetter!"  rief Labude, "wenn alle so denken wie du, wird nie
stabilisiert!  Empfinde  ich vielleicht  den  provisorischen  Charakter  der
Epoche  nicht? Ist dieses Mißvergnügen dein  Privileg?  Aber  ich sehe
nicht zu, ich versuche, vernünftig zu handeln."
     "Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen", sagte Fabian, "und
die Gerechten noch weniger."
     "So?" Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit beiden Händen
am Mantelkragen. "Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?"
     In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen Aufschrei
und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. Labude rannte ins Dunkel,
die Brücke entlang,  auf das Museum  zu. Wieder klang ein Schuß. "Viel
Spaß!"  sagte  Fabian  zu  sich selber,  während  er lief, und suchte,
obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen.
     Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuchtelte mit dem
Revolver  und  brüllte:  "Warte  nur,  du Schwein!" Und  dann schoß er
wieder über die Straße weg auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Laterne
zerbrach. Glas klirrte aufs Pflaster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der
Hand, und Fabian fragte: "Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?"
     "Weil mich's am Bein erwischt hat", knurrte der Mann. Es war ein junger
stämmiger Mensch, und er  trug eine Mütze. "So ein  Mistvieh",  brüllte  er.
"Aber ich weiß, wie du heißt." Und er drohte der Dunkelheit.
     "Quer  durch  die Wade", stellte Labude fest, kniete  nieder,  zog  ein
Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Notverband.
     "Drüben in der  Kneipe ging's  los",  lamentierte  der Verwundete.  "Er
schmierte  ein  Hakenkreuz aufs Tischtuch.  Ich sagte was. Er sagte was. Ich
knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt  schmiß uns raus. Der Kerl
lief mir nach und schimpfte auf  die  Internationale. Ich drehte mich um, da
schoß er schon."
     "Sind Sie nun wenigstens  überzeugt?" fragte Fabian und blickte auf den
Mann  hinunter,  der  die  Zähne  zusammenbiß,   weil  Labude  an  der
Schußwunde hantierte.
     "Die Kugel  ist nicht mehr drin", bemerkte Labude. "Kommt denn hier gar
kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf."
     "Nicht einmal ein Schutzmann ist da", stellte Fabian bedauernd fest.
     "Der  hätte  mir   gerade  noch  gefehlt!"   Der  Verletzte   versuchte
aufzustehen.  "Damit  sie  wieder einen  Proleten  einsperren,  weil  er  so
unverschämt  war, sich von einem Nazi  die  Knochen  kaputtschießen zu
lassen."
     Labude hielt  den Mann  zurück, zog  ihn wieder zu Boden und befahl dem
Freund,  ein   Taxi  zu  besorgen.  Fabian  rannte  davon,   quer  über  die
Straße, um die Ecke, den nächtlichen Uferweg entlang.
     In der nächsten Nebenstraße standen  Wagen. Er gab dem  Chauffeur
den Auftrag, zum Märkischen Museum zu  fahren, am Roland gäbe es eine Fuhre.
Das Auto verschwand. Fabian folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam.
Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals.
Es pochte unterm Schädel.  Er blieb  stehen und  trocknete die Stirn. Dieser
verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei  erwischt zu
haben, war zwar eine  Kinderei, aber  Fabian  genügte  das Andenken.  In der
Provinz   zerstreut  sollte  es   einsame  Gebäude   geben,  wo  noch  immer
verstümmelte  Soldaten  lagen.  Männer  ohne  Gliedmaßen,  Männer  mit
furchtbaren Gesichtern,  ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor
nichts  zurückschreckten, füllten diesen  entstellten Kreaturen Nahrung ein,
durch  dünne  Glasröhren,   die  sie  dort  in   wuchernd  vernarbte  Löcher
spießten,  wo früher einmal  ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte
lachen und sprechen und schreien können. Fabian bog um  die Ecke. Drüben war
das Museum. Das Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich
schrecklicher Fotografien, die er gesehen hatte  und die  mitunter in seinen
Träumen  auftauchten  und  ihn erschreckten. Diese armen Ebenbilder  Gottes!
Noch immer lagen sie  in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten
sich füttern lassen und mußten weiterleben. Denn es war ja  Sünde, sie
zu töten. Aber es war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu
zerfressen. Die Familien wußten  nichts von diesen Männern  und Vätern
und Brüdern. Man hatte ihnen  gesagt,  sie wären  vermißt. Das war nun
fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten wieder geheiratet. Und der Selige, der
irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde,  lebte zu
Hause  nur  noch als hübsche  Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen im
Gewehrlauf, und  darunter  saß  der Nachfolger  und  ließ sich's
schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein?
     Plötzlich rief  jemand "Hallo!" Fabian öffnete die Augen und suchte den
Rufer.  Der  lag auf der  Erde, hatte sich  auf  den Ellenbogen gestützt und
preßte seine Hand aufs Gesäß.
     "Was ist denn mit Ihnen los?"
     "Ich bin der andere", sagte der Mann. "Mich hat's auch erwischt."
     Da  stellte sich  Fabian breitbeinig  hin und  lachte. Von der  anderen
Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte ein Echo mit.
     "Entschuldigen  Sie",  rief Fabian, "meine Heiterkeit ist nicht  gerade
höflich." Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die
Hände,  die voll Blut  waren, und sagte verbissen:  "Wie's beliebt.  Der Tag
wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht."
     "Warum stehst du  denn da herum?" schrie Labude und  kam ärgerlich über
die Straße.
     "Ach, Stephan",  sagte Fabian, "hier sitzt die andere Hälfte des Duells
mit einem Steckschuß im Allerwertesten."
     Sie  riefen den Chauffeur und transportierten  den  Nationalsozialisten
ins Auto, neben den kommunistischen  Spielgefährten.  Die Freunde kletterten
hinterdrein und gaben dem Chauffeur Anweisung,  sie zum nächsten Krankenhaus
zu bringen.
     Das Auto fuhr los.
     "Tut's sehr weh?" fragte Labude.
     "Es   geht",  antworteten  die   beiden  Verwundeten  gleichzeitig  und
musterten sich finster.
     "Volksverräter!" sagte der Nationalsozialist.  Er war  größer als
der Arbeiter,  etwas  besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe
aus.
     "Arbeiterverräter!" sagte der Kommunist.
     "Du Untermensch!" rief der eine.
     "Du Affe!" rief der andere. Der Kommis griff in die Tasche.
     Labude faßte sein  Handgelenk.  "Geben  Sie  den  Revolver  her!"
befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waffe heraus und steckte
sie ein.
     "Meine  Herren",  sagte  er.  "Daß es mit  Deutschland  so  nicht
weitergehen kann, darüber  sind wir  uns wohl alle  einig. Und daß man
jetzt  versucht,  mit  Hilfe  der  kalten  Diktatur unhaltbare  Zustände  zu
verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre  Strafe finden wird. Trotzdem
hat  es  keinen  Sinn,  wenn  Sie einander Reservelöcher in die entlegensten
Körperteile schießen. Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins
Leichenschauhaus führen, statt in  die  Klinik, wäre auch nichts  Besonderes
erreicht. Ihre Partei", er meinte den  Faschisten, "weiß nur,  wogegen
sie kämpft, und auch das  weiß sie nicht genau.  Und Ihre  Partei", er
wandte sich an den Arbeiter, "Ihre Partei..."
     "Wir kämpfen gegen die  Ausbeuter  des Proletariats", erklärte  dieser,
"und Sie sind ein  Bourgeois." "Freilich",  antwortete Fabian, "ich bin  ein
Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort."
     Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite geneigt, auf
der  heilen Sitzfläche  und hatte  Mühe,  mit seinem Kopf nicht  an den  des
Gegners zu stoßen.
     "Das Proletariat ist ein  Interessenverband", sagte Fabian. "Es ist der
größte Interessenverband.  Daß ihr  euer  Recht  wollt, ist eure
Pflicht. Und ich  bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil  ich
die  Gerechtigkeit liebe. Ich  bin euer  Freund, obwohl  ihr darauf  pfeift.
Aber, mein Herr, auch wenn  Sie  an die Macht kommen, werden die  Ideale der
Menschheit im verborgenen sitzen und  weiterweinen.  Man ist noch  nicht gut
und klug, bloß weil man arm ist."
     "Unsere Führer..." begann der Mann.
     "Davon wollen wir lieber nicht reden", unterbrach ihn Labude.
     Das  Auto  hielt. Fabian  klingelte  am Portal  des  Krankenhauses. Der
Portier  öffnete. Krankenwärter  kamen  und  trugen die  Verletzten aus  dem
Wagen. Der wachhabende Arzt gab den Freunden die Hand.
     "Sie bringen mir zwei Politiker?" fragte er lächelnd. "Heute nacht sind
insgesamt  neun  Leute   eingeliefert  worden,   einer  mit  einem  schweren
Bauchschuß. Lauter  Arbeiter  und  Angestellte. Ist Ihnen  auch  schon
aufgefallen,  daß  es sich meist um Bewohner von  Vororten handelt, um
Leute, die  einander  kennen? Diese politischen  Schießereien gleichen
den Tanzbodenschlägereien  zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um
Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat  man den Eindruck, sie
wollen die Arbeitslosenziffer  senken, indem sie einander totschießen.
Merkwürdige Art von Selbsthilfe."
     "Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist", meinte Fabian.
     "Ja, natürlich." Der Arzt  nickte. "Der Kontinent hat den Hungertyphus.
Der  Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich  zu schlagen. Leben
Sie wohl!" Das Portal schloß sich.
     Labude gab dem Chauffeur Geld  und schickte  den  Wagen weg. Sie gingen
schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb Labude stehen und sagte: "Ich kann
jetzt  noch  nicht  nach  Hause  gehen. Komm, wir  fahren  ms  Kabarett  der
Anonymen."
     "Was ist das?"
     "Ich  kenne es  auch  noch  nicht. Ein findiger  Kerl hat Halbverrückte
aufgelesen und  läßt  sie singen und tanzen.  Er zahlt  ihnen ein paar
Mark,  und sie lassen  sich dafür  vom Publikum beschimpfen  und  auslachen.
Wahrscheinlich merken sie  es gar nicht. Das Lokal soll  sehr  besucht sein.
Das ist ja  auch verständlich. Es gehen sicher Leute  hin, die sich  darüber
freuen,  daß es  Menschen  gibt,  die  noch  verrückter sind  als  sie
selber."
     Fabian  war einverstanden.  Er  blickte  noch  einmal  zum  Krankenhaus
zurück, über dem der Große Bär funkelte.
     "Wir leben in einer großen Zeit", sagte er, "und  sie wird  jeden
Tag größer."
     SIEBENTES KAPITEL
     Verrückte auf dem Podium
     Die Todesfahrt von Paul Müller
     Ein Fabrikant in Badewannen
     Vor  dem Kabarett parkten viele  Privatautos. Ein rotbärtiger Mann, der
einen Pleureusenhut  trug und  eine riesige Hellebarde hielt, lehnte an  der
Tür des Lokals und rief: "Immer herein in die Gummizelle!" Labude und Fabian
traten  ein,  gaben die Garderobe ab und fanden nach  langem  Suchen  in dem
überfüllten, verqualmten Raum an einem Ecktisch Platz.
     Auf  der  wackligen  Bühne machte ein  zwecklos  vor sich hinlächelndes
Mädchen  Sprünge. Es handelte sich  offenbar um  eine Tänzerin. Sie trug ein
giftgrünes selbstgeschneidertes Kleid, hielt eine  Ranke künstlicher Blumen
und warf sich und die Ranke in regelmäßigen Zeitabständen in die Luft.
Links  von der  Bühne  saß  ein zahnloser Greis an  einem  verstimmten
Klavier und spielte die Ungarische Rhapsodie.
     Ob der  Tanz und das Klavierspiel miteinander in Beziehung standen, war
nicht  ersichtlich. Das Publikum, ausnahmslos elegant gekleidet, trank Wein,
unterhielt sich laut und lachte.
     "Fräulein,  Sie  werden  dringend  am  Telefon  verlangt!"  schrie  ein
glatzköpfiger Herr, der  mindestens Generaldirektor war. Die anderen lachten
noch  mehr  als vorher. Die Tänzerin  ließ  sich  nicht  aus der  Ruhe
bringen  und fuhr fort zu lächeln und zu springen. Da hörte das Klavierspiel
auf.  Die Rhapsodie  war  zu  Ende.  Das Mädchen  auf  der  Bühne  warf  dem
Klavierspieler einen  bösen Blick  zu und hüpfte weiter, der  Tanz war  noch
nicht aus.  "Mutter, dein Kind ruft!"  kreischte eine Dame,  die ein Monokel
trug.
     "Ihr Kind auch", bemerkte jemand von einem entfernten Tisch.
     Die Dame drehte sich um. "Ich  habe keine  Kinder." "Da können Sie aber
lachen!" rief man aus dem Hintergrund.
     "Ruhe!" brüllte jemand anders. Der Wortwechsel hörte auf.
     Das Mädchen  tanzte noch  immer,  obwohl ihr  längst  die  Beine wehtun
mußten. Schließlich  fand sie selber, es sei  genug,  landete in
einem  mißlungenen  Knicks,  lächelte  noch  alberner  als  vorher und
breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smoking stand auf. "Gut, sehr gut!
Sie können morgen zum Teppichklopfen kommen!"
     Das  Publikum lärmte  und klatschte. Das  Mädchen  knickste wieder  und
wieder.
     Da kam  ein  Mann aus  der Kulisse,  zog die Tänzerin,  die sich heftig
sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe.
     "Bravo, Caligula!" rief eine Dame aus der ersten Tischreihe.
     Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wandte sich an den
Herrn, der neben der Ruferin saß. "Ist das Ihre Frau?" fragte er.
     Der Herr nickte.
     "Dann  sagen  Sie Ihrer Frau, sie  soll  die  Schnauze  halten!"  sagte
Caligula.  Man  applaudierte. Der Mann  m der  ersten Tischreihe  wurde rot.
Seine Frau fühlte sich geschmeichelt. "Ruhe, ihr Armleuchter!" rief Caligula
und  hob  die Hände. Es wurde ruhig. "War die Tanzdarbietung nicht  geradezu
ein Erlebnis?"
     "Jawohl", brüllten alle.
     "Aber es kommt noch  besser.  Jetzt schicke ich einen  heraus, der Paul
Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt  in Sachsen. Paul Müller
spricht sächsisch  und  gibt  vor,  Rezitator  zu  sein. Er wird Ihnen  eine
Ballade vortragen. Machen Sie sich auf das Äußerste gefaßt. Paul
Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht alles täuscht, verrückt. Ich habe keine
Kosten  gescheut, diese  wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn
ich kann es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind."
     "Das geht entschieden zu  weit!" rief ein Besucher, dessen  Gesicht mit
Schmißnarben verziert  war. Er  war aufgesprungen und zog sich  empört
das  Jackett  straff.  "Hinsetzen!" sagte  Caligula  und verzog  den  Mund.
"Wissen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!"
     Der Akademiker rang nach Luft.
     "Im  übrigen", fuhr der Kabarettinhaber  fort,  "im  übrigen meine  ich
Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Charakteristikum."
     Die  Leute lachten und klatschten.  Der  Herr mit den Schmissen und der
Empörung wurde von seinen Bekannten auf den Stuhl gezogen und beschwichtigt.
Caligula nahm eine Klingel in die Hand,  schellte wie  ein Nachtwächter  und
rief: "Paul Müller, erscheine!" Dann verschwand er.
     Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, ungewöhnlich blasser
Mensch in abgerissener Kleidung. "Tag, Müller!" brüllte man.
     "Er ist zu schnell gewachsen", meinte jemand.
     Paul Müller verbeugte sich,  zeigte  herausfordernden Ernst im Gesicht,
fuhr sich durch die  Haare und preßte dann die Hände vor die Augen. Er
sammelte sich.  Plötzlich zog  er  die Hände vom  Gesicht fort, streckte sie
weit von sich, spreizte die Finger, riß die Augen auf und sagte:  "Die
Todesfahrt von Paul Müller." Dann trat er noch einen Schritt vor.
     "Fall  nicht  runter!"  rief  die  Dame,  der  von Caligula  eigentlich
befohlen worden  war, die Schnauze zu halten. Paul  Müller machte aus  Trotz
noch ein  Schrittchen, blickte verächtlich  auf  das Publikum  da unten  und
begann wieder: "Die Todesfahrt von Paul Müller."
     "Das war der Graf von Hohenstein.
     Der sperrte seine Tochter ein.
     Sie liebte einen Offizier.
     Der Vater sprach: "Du bleibst bei mir"!"
     In  diesem   Augenblick  warf   jemand   aus  dem  Publikum  ein  Stück
Würfelzucker auf die Bühne. Paul Müller bückte sich, steckte  den Zucker ein
und fuhr mit unheilschwangerer Stimme fort:
     "Da half nur Flucht, und die Komteß
     entfloh in ihrem zehn PS.
     Sie steuerte durch Nacht und Not.
     Doch auf dem Kühler saß der Tod!"
     Wieder warf man Zucker auf die Bühne. Vermutlich saßen Stammgäste
in dem Raum, die den Gewohnheiten der Künstler Rechnung trugen. Andere Gäste
folgten  dem  Beispiel,  und  allmählich  kam  ein  Würfelzuckerbombardement
zustande,  dem Müller dadurch zu begegnen  wußte,  daß  er  sich
dauernd bückte.
     Es entwickelte  sich  ein  Balladenvortrag  mit  Kniebeugen.  Auch  mit
aufgerissenem  Mund   versuchte  Müller,   den   ihm   zufliegenden   Zucker
aufzufangen.  Sein Gesicht wurde immer drohender. Seine  Stimme klang  immer
schwärzer. Man  entnahm  der  Rezitation,  daß  in jener schrecklichen
Nacht nicht  nur die Komteß Hohenstein Auto fuhr, um zu ihrem Offizier
zu  gelangen, sondern daß auch der  Geliebte in seinem Wagen unterwegs
war und sich dem Schloß näherte, wo er das Fräulein vermutete, während
sie   ihm   doch  entgegeneilte.  Da   die   zwei   Liebenden   die  gleiche
Landstraße  benutzten,   da  es  sich  ferner  um  eine  ausgesprochen
regnerische,  neblige  Nacht  handelte,  und  da  das  Gedicht  "Todesfahrt"
hieß, war mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß
die beiden Autos  zusammenstoßen würden. Paul  Müller beseitigte auch
den letzten Zweifel darüber.
     "Mach  den Mund zu,  sonst fallen dir die Sägespäne  aus dem  Schädel!"
brüllte eine Stimme. Aber das Autounglück war nicht mehr aufzuhalten.
     "Das Auto jenes Offiziers
     kam links gefahren, rechts kam ihrs.
     Der Nebel war entsetzlich dick.
     Und so vollzog sich das Geschick.
     Von links ein Schrei,
     von rechts ein Schrei - "
     "Das macht nach Adam Riese zwei!" schrie jemand. Die  Leute johlten und
klatschten. Sie  hatten von  Paul Müller genug und waren auf den Ausgang der
Tragödie nicht länger neugierig.
     Er deklamierte weiter. Aber man sah nur, daß er den Mund bewegte.
Zu hören war nichts, die Todesfahrt ging im Lärm der Überlebenden  unter. Da
packte den dürren Balladendichter die blasse  Wut.  Er sprang vom Podium und
rüttelte die Dame derartig an den Schultern, daß ihr die Zigarette aus
dem Mund und in den blauseidenen Schoß fiel. Sie sprang schreiend auf.
Ihr  Begleiter erhob  sich  ebenfalls und schimpfte. Es klang, als belle ein
Hund. Paul Müller gab dem  Kavalier  einen Stoß, daß  er  in den
Stuhl zurücktaumelte.
     Da tauchte  Caligula  auf. Er  war wütend  und glich einem knirschenden
Tierbändiger,  zog den Mann aus Tolkewitz an der Krawatte und führte ihn ins
Künstlerzimmer.
     "Pfui Teufel", sagte Labude, "unten Sadisten und oben Verrückte."
     "Dieser  Sport  ist  international",  meinte Fabian, "in  Paris gibt es
dieselbe Sache. Dort schreien die Zuschauer: "Tue-le!" und dann schiebt sich
eine  riesengroße  hölzerne  Hand  aus der Kulisse  und  schaufelt den
Ärmsten aus dem Gesichtskreis. Er wird weggefegt!"
     "Caligula nennt sich der  Bursche.  Er  kennt  sich  aus. Sogar  in der
römischen  Geschichte."  Labude  stand  auf und ging.  Er hatte genug.  Auch
Fabian  erhob  sich. Da schlug ihn  jemand derb auf die Schulter. Er  drehte
sich um. Der Mann strahlte über  das ganze Gesicht und rief vergnügt: "Alter
Junge, wie geht's dir denn?"
     "Danke, gut."
     "Nein, wie  ich mich  freue, dich  altes  Haus mal wiederzusehen!"  Der
Akademiker  gab Fabian einen Freudenstoß  vor  den Brustkasten, genau
auf  einen der  Hemdknöpfe.  "Kommen Sie",  meinte Fabian,  "prügeln wir uns
draußen  weiter!" Dann drängte er sich, zwischen Stühlen hindurch,  in
den Vorraum. "Mein Lieber", sagte  er zu Labude, der sich den  Mantel anzog,
"wir wollen schnell machen. Eben hat mich einer ununterbrochen geduzt." Sie
nahmen die Hüte. Aber es war schon zu spät.
     Der Mann  mit den Schmissen  schob  eine  sommersprossige Frau vor sich
her, als könne sie nicht allein laufen, und sagte zu ihr: "Siehst  du, Meta,
der Herr war auf dem Pennal unser Primus." Und  zu Fabian sagte er: "Das ist
meine Frau, alter Knabe. Meine bessere Hälfte gewissermaßen. Wir leben
in Remscheid. Ich habe den Assessor an den Nagel gehängt und bin im Geschäft
meines Schwiegervaters.  Wir machen Badewannen.  Wenn  du mal eine  brauchen
solltest, kannst  du sie zum Engrospreis  haben! Haha! Ja, es geht mir  gut.
Danke,  glückliche  Ehe,  Wohnung  in  einem Zweifamilienhaus,  großer
Garten  dahinter,  nicht ganz  ohne Bargeld,  Kind haben wir auch, aber noch
nicht lange."
     "Es ist erst so groß", entschuldigte sich Meta und zeigte mit den
Händen,  wie klein  das Kind war.  "Es  wird  schon noch  wachsen", tröstete
Labude.  Die Frau blickte ihn dankbar an und hängte sich bei ihrem Mann ein.
"Also, alter Schwede",  fing der Akademiker wieder an, "nun erzähle mal, was
du die ganze Zeit über gemacht hast."
     "Nichts  Besonderes", bemerkte Fabian. "Augenblicklich  bastle  ich  an
einer Weltraumrakete. Ich will mir mal den Mond ansehen."
     "Ausgezeichnet",  rief der  Mann, der in  die Badewannen  eingeheiratet
hatte. "Deutschland allen voran! Und wie geht's deinem Bruder?"
     "Sie überschütten  mich  mit  frohen  Neuigkeiten,  mein  Herr",  sagte
Fabian.  "Ein  Brüderchen  habe ich  mir  schon  lange  gewünscht.  Nur eine
bescheidene Zwischenfrage: Wo sind Sie eigentlich aufs Gymnasium gegangen?"
     "In Marburg natürlich."
     Fabian  hob bedauernd  die Schultern.  "Es soll eine  bezaubernde Stadt
sein, aber ich kenne Marburg leider gar nicht."
     "Dann  entschuldigen  Sie   vielmals",  knarrte  der   andere.  "Kleine
Verwechslung,  täuschende Ähnlichkeit, nichts  für ungut."  Er  knallte  die
Absätze  zusammen, befahl:  "Komm,  Meta!" und entfernte sich.  Meta blickte
Fabian  verlegen  an,  nickte  Labude  zu  und folgte  dem  Gemahl. "So  ein
dämlicher Affe!"  Fabian war entrüstet. "Spricht wildfremde Leute an und tut
familiär. Ich  habe diesen Caligula im Verdacht,  daß die Anpöbelei zu
seiner Kabarettregie gehört."
     "Das  glaube ich  nicht", meinte  Labude.  "Die Badewannen waren sicher
echt, und das entsetzlich kleine Kind auch." Sie  gingen  heimwärts.  Labude
schaute trübselig aufs Pflaster. "Es ist eine Schande", sagte er  nach einer
Weile.  "Dieser  gewesene Assessor hat  eine  Wohnung,  einen Garten,  einen
Beruf,  eine  Frau mit Sommersprossen  und  was noch  alles.  Und  unsereins
vegetiert herum wie ein Landstreicher  ohne Land, man hat noch keinen festen
Beruf, man hat kein festes Einkommen, man hat kein festes Ziel und nicht mal
eine feste Freundin."
     "Du hast doch Leda."
     "Und was mich besonders aufbringt", fuhr  Labude fort, "so ein Kerl hat
ein eigenes, selbstgemachtes Kind."
     "Sei nicht  neidisch",  sagte Fabian,  "dieser  juristisch vorgebildete
Badewannenfabrikant ist  ein  Ausnahmefall.  Wer  von den Leuten, die  heute
dreißig Jahre  alt sind,  kann  heiraten? Der eine ist arbeitslos, der
andere verliert morgen seine Stellung.  Der dritte hat noch nie eine gehabt.
Unser Staat ist  darauf,  daß Generationen nachwachsen, momentan nicht
eingerichtet. Wem  es dreckig geht,  der bleibt am besten allein, statt Frau
und Kind an seinem Leben proportional zu beteiligen. Und wer trotzdem andere
mit hineinzieht, der handelt  mindestens  fahrlässig. Ich weiß  nicht,
von wem der Satz stammt, daß geteiltes Leid halbes Leid sei, aber wenn
der Quatschkopf noch leben sollte,  dann wünsche ich  ihm  zweihundert  Mark
monatlich und eine achtköpfige Familie.  Da soll er sein Leid so lange durch
acht dividieren, bis er schwarz wird."  Fabian  sah den Freund von der Seite
an.  "Übrigens,  wozu bedrückt dich das? Dein Vater gibt dir doch Geld.  Und
wenn  du  die  Venia  legendi   hast,   wirst  du  noch  ein  paar  Groschen
dazuverdienen. Dann heiratest du Leda, und deinen Vaterfreuden  steht nichts
mehr im Wege."
     "Es gibt ja auch andere Schwierigkeiten außer den  ökonomischen",
sagte Labude, blieb  stehen und winkte einem Taxi. "Sei mir nicht böse, wenn
ich jetzt allein sein will. Kannst du mich morgen bei meinen Eltern abholen?
Ich muß dir  verschiedenes erzählen." Er  drückte dem  Freund etwas in
die Hand und stieg in den wartenden Wagen.
     "Handelt es sich um Leda?"  fragte Fabian durchs offene Fenster. Labude
nickte  und senkte den  Kopf. Das Auto fuhr an. Der andere blickte dem Wagen
nach. "Ich komme!" rief er. Doch  das Auto  war schon weit weg, und das rote
Schlußlicht konnte  ein  Glühwürmchen sein.  Dann  besann er  sich und
stellte fest, was er in der Hand hielt. Es war ein Fünfzigmarkschein.
     ACHTES KAPITEL
     Studenten treiben Politik
     Labude sen. liebt das Leben
     Die Ohrfeige an der Außenalster
     Labudes Eltern bewohnten im Grunewald  einen  großen griechischen
Tempel.  Eigentlich war es kein  Tempel, sondern eine  Villa. Und eigentlich
bewohnten sie die Villa gar nicht. Die Mutter war viel auf  Reisen, meist im
Süden, in einem Landhaus bei Lugano. Erstens gefiel es ihr am Lago di Lugano
besser  als  am Grunewaldsee. Und  zweitens fand  Labudes  Vater,  die zarte
Gesundheit seiner Frau erfordere südlichen Aufenthalt. Er liebte  seine Frau
sehr, besonders in ihrer Abwesenheit. Seine  Zuneigung wuchs im  Quadrat der
Entfernung, die  zwisch