en  ihnen lag. Er war  ein bekannter  Verteidiger. Da
seine  Klienten viel  Geld  und viele Prozesse hatten, hatte  auch er  viele
Prozesse und  viel Geld. Die Aufregungen des Berufs, den er liebte, genügten
ihm nicht.  Fast jede Nacht saß er in  Spielklubs. Die Ruhe, die  sein
Haus  verbreitete,  war  ihm  höchst zuwider. Und  die  vorwurfsvollen Augen
seiner  Frau brachten  ihn  zur Verzweiflung.  Da  beide  befürchteten,  den
anderen  anzutreffen, mieden  beide die  Villa,  sooft das möglich war.  Und
Stephan, der Sohn, mußte, wenn er seinen Eltern  begegnen wollte,  auf
die  Gesellschaften   gehen,  die   sie  im   Winter  gaben.  Da  ihn  diese
Veranstaltungen von  Jahr zu  Jahr mehr abstießen, bis er  sie endlich
nicht mehr besuchte, traf er seine Eltern nur noch aus Versehen.
     Das  meiste, was er  über den  Vater wußte,  hatte er einmal  von
einer jungen Schauspielerin erfahren. Das war auf einem  Maskenball gewesen,
und sie  hatte ihm  sehr  eingehend  den Mann  geschildert,  der  sie damals
finanzierte. Leichtfertige  Frauen  versuchen ja gelegentlich,  Liebhaber zu
erwerben, indem sie die intimen Sitten und Gebräuche der ehemaligen Besitzer
ausplauderten.  Im  Laufe  des  Gesprächs  hatte   es  sich  herausgestellt,
daß von Justizrat Labude die Rede gewesen war,  und  Stephan hatte das
Fest fluchtartig verlassen. Fabian kam  nicht gern m  die Grunewaldvilla. Er
empfand den Aufwand, den solche Häuser mit  sich treiben lassen, als albern.
Er  konnte  sich  überhaupt  nicht  vorstellen,  daß  man   mitten  in
derartigem Luxus das Gefühl, man sei nur auf Besuch, jemals loswerden könne.
Und  er  fand  es,  von  allen  anderen  Gründen  abgesehen,  schon  deshalb
vollkommen  in  Ordnung,  daß  sich Labudes  Eltern in dem  Wohnmuseum
entfremdet hatten.
     "Schrecklich", sagte er  zu  dem Freund, der am Schreibtisch saß,
"jedesmal, wenn ich  hierher  komme,  erwarte ich, daß mir euer Diener
Filzpantoffeln überzieht und mit einer Schloßführung beginnt. Falls du
mir erzählen solltest, daß der Große Kurfürst auf  diesem  Stuhl
hier in  die Schlacht von Fehrbellin  geritten ist, könnte  ich mich  bereit
erklären, es zu glauben. Im übrigen danke ich dir für das Geld."
     Labude winkte  ab. "Du weißt, daß ich mehr davon habe,  als
notwendig ist.  Lassen wir das. Ich bat dich  hierher, weil ich dir erzählen
will, was mir in Hamburg passiert ist."
     Fabian stand auf und setzte sich aufs Sofa. Jetzt befand er sich hinter
Labudes  Rücken, und  der Freund brauchte ihn  während des  Sprechens  nicht
anzusehen.  Sie blickten beide  zum Fenster hinaus, auf grüne  Bäume und auf
rote  Villendächer.  Das  Fenster war  offen, und  manchmal  kam  ein Vogel,
spazierte auf dem  Fensterbrett  hin und her,  musterte mit schiefgehaltenem
Kopf  das Zimmer und flog wieder in den Garten zurück.  Außerdem hörte
man, wie jemand mit einem Rechen die Kieswege harkte.
     Labude sah  starr in  die Zweige  des nächsten  Baumes. "Rassow schrieb
mir,  er  spräche  im  Hamburger  Auditorium  Maximum,  vor Studenten  aller
Richtungen,  über  das Thema "Tradition  und Sozialismus". Und er schlug mir
vor, als Korreferent oder im Rahmen  der Diskussion  von meinen  politischen
Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag  begann. Rassow berichtete
den Studenten von  seiner Rußlandreise  und von seinen Erfahrungen und
Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er  wurde von  den
Vertretern  der  sozialistischen  Studentenschaft  wiederholt  unterbrochen.
Anschließend  sprach  ein  Kommunist und  wurde  seinerseits  von  den
Bürgerlichen  gestört.  Dann  kam  ich an  die  Reihe.  Ich  skizzierte  die
kapitalistische Situation Europas und stellte die  Forderung auf,  daß
die   bürgerliche   Jugend   sich  radikalisieren   und  daß  sie  den
kontinentalen  Ruin,  der von allen Seiten, passiv  oder aktiv,  vorbereitet
wird,  aufhalten  müsse.  Diese  Jugend,  sagte  ich,  sei  im  Begriff,  in
absehbarer  Zeit  die  Führerschaft  in  Politik, Industrie, Grundbesitz und
Handel zu übernehmen, die Väter  hätten abgewirtschaftet, und es  sei unsere
Aufgabe,  den  Kontinent  zu  reformieren:  durch  freiwillige  Kürzung  des
privaten Profits, durch Zurückschraubung  des  Kapitalismus  und der Technik
auf ihre vernünftigen Maße, durch  Steigerung der sozialen Leistungen,
durch kulturelle  Vertiefung der Erziehung und  des  Unterrichts. Ich sagte,
diese  neue  Front,  diese  Querverbindung der Klassen  sei möglich, da  die
Jugend  wenigstens  die Elite,  den  hemmungslosen Egoismus verabscheue  und
außerdem  klug genug sei,  eine  Zurückführung in organische  Zustände
einem  unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems  vorzuziehen. Wenn es schon
ohne Klassenherrschaft nicht  abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das
Regime  unserer  Altersklasse entscheiden.  Bei  den Vertretern der extremen
Gruppen erntete mein  Vortrag die übliche  Heiterkeit. Aber  als Rassow  den
Antrag zur  Bildung einer radikal-bürgerlichen  Initiative  einbrachte, fand
das doch Beifall.  Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen  Aufruf, der
an  alle  europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und
ein paar andere wollen die  deutschen Hochschulen besuchen,  Vorträge halten
und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen,  mit  den sozialistischen  Studenten
eine  Art Kartellverbindung einzugehen.  Wenn  wir  an  allen  Universitäten
Gruppen  gebildet  haben,  werden  von  diesen  auch  andere  intellektuelle
Körperschaften bearbeitet. Die  Sache  kommt in Gang. Ich  habe  dir gestern
nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne."
     "Ich freue mich",  sagte Fabian, "ich freue mich sehr, daß du nun
an  die Verwirklichung deines Planes herangehen  kannst.  Hast du dich schon
mit  der  Gruppe  der unabhängigen  Demokraten  in  Verbindung  gesetzt?  In
Kopenhagen ist ein "Club Europa" gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere
dich nicht zu sehr über meine  Zweifel an der  Gutartigkeit  der Jugend. Und
sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht
jemals  heiraten  werden. Es handelt sich leider um  eine Antinomie. Ich bin
der Überzeugung, daß es  für die Menschheit, so wie  sie ist, nur zwei
Möglichkeiten gibt.  Entweder ist man  mit seinem Los  unzufrieden, und dann
schlägt man einander tot, um die Lage  zu verbessern, oder man  ist, und das
ist eine  rein theoretische Situation,  im  Gegenteil  mit sich und der Welt
einverstanden,  dann bringt man  sich  aus  Langeweile  um.  Der Effekt  ist
derselbe.  Was nützt  das göttliche System,  solange der  Mensch ein Schwein
ist? Aber was meinte Leda dazu?"
     "Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht dabei."
     "Warum denn nicht?"
     "Sie wußte nicht, daß ich in Hamburg war."
     Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wieder hin.
     Labude  breitete  die  Arme  aus  und  hielt  sich  an  den  Ecken  der
Schreibtischplatte  fest.  "Ich  wollte  Leda überraschen.  Ich  wollte  sie
heimlich  beobachten. Denn ich war mißtrauisch  geworden.  Wenn man in
jedem  Monat nur  zwei Tage und  eine Nacht  beisammen  ist,  dann  wird die
Beziehung unterminiert,  und wenn  so  ein  Zustand, wie bei  uns, jahrelang
dauert,  geht  die  Beziehung  in die Brüche. Das  hat  mit der Qualität der
Partner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich machte dir
vor Monaten einmal Andeutungen, daß Leda sich verändert habe. Sie fing
an, sich zu verstellen.  Sie markierte. Die Begrüßung auf dem Bahnhof,
die Zärtlichkeit des Gesprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch
Theater."
     Labude  hob den  Kopf  kerzengerade. Er  sprach sehr leise.  "Natürlich
entfremdet man  sich.  Man  weiß nicht mehr,  welche Sorgen der andere
hat.  Man  kennt  die  Bekannten  nicht,  die  er findet. Man  sieht  nicht,
daß er  sich verwandelt, und weswegen er's tut.  Briefe sind zwecklos.
Und dann reist man hin, gibt sich  einen Kuß, geht ins Theater,  fragt
nach Neuigkeiten,  verbringt  eine Nacht miteinander und trennt sich wieder.
Vier   Wochen   später   vollzieht  sich  derselbe  Unfug.  Seelische  Nähe,
anschließend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der  Uhr in der
Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die Liebe krepiert an
der Geographie."
     Fabian nahm  eine Zigarette und  strich das  Zündholz  behutsam an, als
fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. "Ich habe in den letzten Monaten  vor
jeder  dieser Zusammenkünfte Angst gehabt.  Ich  hätte  Leda,  wenn  sie mit
geschlossenen  Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den
Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen mögen. Sie log.
Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder sich selber auch? Da sie, obwohl
ich  sie  brieflich   wiederholt  dazu  aufforderte,  Erklärungen   vermied,
mußte ich tun,  was ich  tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in
der wir  die Initiativgruppe  gegründet hatten, von  Rassow und  den anderen
sehr bald  und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt.  Die Fenster waren
dunkel. Vielleicht schlief  sie schon. Aber mir war nicht nach Logik zumute.
Ich wartete." Labudes Stimme schwankte. Er  griff auf den Schreibtisch, nahm
mehrere Bleistifte  und rollte sie nervös zwischen den Händen. Das hölzerne,
klappernde Geräusch begleitete den  Fortgang des Berichts. "Die Straße
ist  breit  und  nur  an einer  Stelle  bebaut.  Die andere Seite grenzt  an
Blumenbeete,   Wiesen,   Wege   und   Gebüsch,   und   dahinter   liegt  die
Außenalster.  Dem Haus  gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte  ich
mich,   rauchte   zahllose  Zigaretten   und  wartete.  So  oft  jemand  die
Straße entlang kam, dachte  ich, das müsse Leda sein. So saß ich
von zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Gespräche und böse
Bilder.  Und  die  Zeit  verging.  Kurz  nach  drei  bog  ein  Taxi  in  die
Straße und  hielt vor dem Haus. Ein großer schlanker Mann  stieg
aus und bezahlte den Chauffeur. Dann sprang eine  Frau  aus dem Wagen, eilte
zur  Tür,  schloß  auf,  trat ins  Haus, hielt die  Tür, bis der  Mann
gefolgt war,  und schloß  von innen wieder zu.  Das Auto fuhr  in  die
Stadt zurück."
     Labude war aufgestanden. Er warf  die Bleistifte auf  den Schreibtisch,
ging rasch  im Zimmer  auf und ab und machte  in der  äußersten  Ecke,
dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf  das Tapetenmuster und zeichnete es
mit dem Finger nach. "Es  war  Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah,
wie sich zwei Schatten  hinter den  Gardinen bewegten.  Das Wohnzimmer wurde
wieder  dunkel. Jetzt erhellte sich  das Schlafzimmer. Die  Balkontür  stand
halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen. Du  entsinnst dich, sie lacht so
merkwürdig  hoch. Manchmal war  es ganz still, droben im Haus und  unten auf
meiner Straße, und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug."
     In  diesem  Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat Labude trat
ein, ohne Hut und Mantel. "Tag, Stephan!" sagte er, kam näher und gab seinem
Sohn die  Hand.  "Lange  nicht  gesehen,  was?  War ein paar Tage unterwegs.
Mußte  mal  ausspannen. Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie
geht's?  Siehst schlecht  aus.  Sorgen? Was  über  die  Habilitationsschrift
gehört? Nein? Langweilige Bande.  Hat Mutter geschrieben? Mag noch ein  paar
Wochen  bleiben.  Heißt mit Recht Paradiso, das Nest. Hat's  die  Frau
gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gespräche,  wie? Gibt  es ein  Fortleben nach
dem Tode? Im  Vertrauen gesagt, es gibt keins. Muß alles vor  dem Tode
erledigt werden. Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht."
     "Fritz, nun komm aber endlich!" rief im Treppenhaus eine Frauenstimme.
     Der Justizrat  zuckte  die Achseln. "Da  habt ihr's.  Kleine  Sängerin,
großes  Talent, keine Beschäftigung.  Kann sämtliche Opern  auswendig.
Bißchen laut  auf die  Dauer.  Na,  Wiedersehen. Amüsiert euch lieber,
statt die Menschheit  zu  erlösen. Wie gesagt, das Leben muß  noch vor
dem Tode erledigt werden.  Zu näheren Auskünften bin ich gerne bereit. Nicht
so ernst, mein Junge."  Er gab  beiden die Hand,  ging und warf  die Tür ins
Schloß.  Labude  hielt  sich  nachträglich  die Ohren zu, trat  an den
Schreibtisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzählung fort:
"Gegen  fünf  Uhr früh begann  es zu  regnen.  Nach  sechs hörte es auf. Der
Himmel wurde  hell, und der Tag  fing an. In  dem  Schlafzimmer brannte noch
immer  Licht.   Das   sah  im  Morgengrauen  seltsam   aus.  Um  sieben  Uhr
verließ der Mensch  das  Haus. Er pfiff, als er aus  der Tür trat, und
blickte nach oben. Leda stand in ihrem japanischen Schlafrock auf dem Balkon
und  winkte. Er winkte wieder. Sie  breitete den Schlafrock für einen Moment
noch einmal auseinander, damit er ihren Körper noch einmal sehe. Er warf ein
Kußhändchen,  es  war zum Speien.  Er ging pfeifend  die  Straße
hinunter. Ich senkte den Kopf. Oben wurde die Balkontür geschlossen."
     Fabian wußte  nicht,  wie  er sich  verhalten  sollte.  Er  blieb
sitzen.  Plötzlich  hob  Labude  den  Arm und  schlug mit der Faust  auf den
Schreibtisch. "Diese Kanaille!" schrie er. Fabian sprang  vom Sofa, aber der
andere winkte  ab  und  sagte ganz ruhig: "Schon gut.  Höre weiter.  Mittags
telefonierte ich. Sie war erfreut, daß ich wieder einmal bei  ihr sei.
Warum  ich nicht geschrieben  habe.  Ob ich um fünf  Uhr  kommen  wolle. Die
wissenschaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früher auf. Ich lief
durchs Hafenviertel, bis es soweit war. Dann fuhr ich hin. Sie hatte Tee und
Kuchen  zurechtgestellt und begrüßte  mich zärtlich.  Ich  trank  eine
Tasse  Tee  und sprach  über  gleichgültige  Dinge.  Dann  begann  sie  sich
automatisch zu entkleiden, nahm den  Kimono um und legte sich auf die Couch.
Da fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung lösten. Sie
fragte, was  mit mir los sei.  Es gelte doch  für ausgemacht,  daß wir
heiraten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob ich sie nicht mehr liebe. Ich
erklärte,  daß  es sich  darum  jetzt  nicht  handle.  Die  zunehmende
Entfremdung, an der sie die Schuld  trage, lasse das Auseinandergehen ratsam
erscheinen.
     Sie rekelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite zu gleiten,
und  meinte mit  kindlicher  Stimme, ich  sei so  kalt.  Und die Entfremdung
scheine,  wie die unzweideutige Situation eindeutig beweise, eher an mir als
an ihr zu  liegen. Sie gab zu, daß es schwer sei, die Strecke zwischen
Hamburg und Berlin  seelisch zu überbrücken. Und in sexueller Beziehung gebe
es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich  nicht da,  und wenn ich da
sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erledigt  werden,  ob man Hunger hat
oder nicht. Aber  wenn  wir erst verheiratet  wären,  würde das anders.  Ich
solle  übrigens  nicht  böse  sein.  Sie  habe  vor  mehreren  Wochen  einen
ärztlichen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als meine Frau
zur  Welt bringen,  nicht  vorher.  Mitgeteilt habe sie  mir  diesen kleinen
Unfall nicht,  um  mich nicht  zu  ängstigen.  Sie sei aber  wieder auf  dem
Posten, und ich solle mich endlich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht.
     "Von  wem war das wieder rückgängig  gemachte  Kind?" fragte  ich.  Sie
setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht.
     "Und  wer war der Mann, der heute nacht bei dir  schlief  ?" fragte ich
weiter.
     "Du  siehst Gespenster",  sagte  sie.  "Du  bist eifersüchtig,  es  ist
geradezu albern."
     Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging  fort.  Sie lief  hinter mir her,
die  Treppe hinunter, bis  vor die Tür. Dort stand  sie, nackt,  im wehenden
Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und  rief, ich solle bleiben.  Aber ich
rannte davon und fuhr zur Bahn."
     Fabian trat hinter Labude  und legte  die Hände  auf  die Schultern des
Freundes. "Warum hast du mir das nicht schon gestern erzählt?"
     "Na, ich komme schon darüber weg", sagte Labude.
     "Mich so zu belügen."
     "Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?"
     "Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir  ist, als  sei  ich schwer
krank gewesen!"
     "Du bist noch krank", meinte Fabian. "Du hast sie noch lieb."
     "Das ist wahr",  sagte Labude. "Aber  ich bin  schon  mit ganz  anderen
Kerlen fertig geworden als mit mir."
     "Wenn sie dir nun schreibt?"
     "Der Fall ist erledigt. Ich  habe  fünf  Jahre  damit zugebracht, unter
einer falschen Voraussetzung zu leben, das  reicht. Das Schlimmste habe  ich
dir noch nicht gesagt. Sie liebt mich nicht, und sie  hat mich noch nie lieb
gehabt! Erst jetzt, nach dem Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung
auf.  Erst als sie neben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die
vergangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Akten!" Labude
schob  den Freund zur Tür. "Jetzt gehen wir. Ruth Reiter hat uns eingeladen.
Komm, ich habe verschiedenes nachzuholen."
     "Wer ist Ruth Reiter?"
     "Ich  lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bildhauert, wenn
man ihr  glauben darf." "Modellstehen  wollte ich  schon  immer  mal", sagte
Fabian und zog den Mantel an.
     NEUNTES KAPITEL
     Sonderbare junge Mädchen
     Ein Todeskandidat wird lebendig
     Das Lokal heißt "Cousine"
     "Endlich ein paar  Männer!" rief die Reiter.  "Macht's euch bequem. Die
Kulp hat  gerade  gestöhnt, so ginge  das  nicht weiter. Sie hat  zwei  Tage
keinen Mann gehabt,  und  der letzte war auch bloß ein Verkehrsunfall.
Sie   ist  Modezeichnerin,   und  der  Kerl   hätte  ihr,  ohne  die  kleine
Gegenleistung, keinen  Auftrag  gegeben.  Ein  beinahe impotenter  Lebegreis
war's, sagte sie."
     "Das   sind   die   Schlimmsten",   meinte   Labude.   "Sie   probieren
ununterbrochen, um  nachzusehen, ob  sich  der Schaden  inzwischen  behoben
hat." Er blickte sich nach dem Mädchen um, das Kulp hieß.
     Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf einer Chaiselongue und winkte
ihm.
     l.abude  setzte sich neben die Kulp.  Fabian wartete  unschlüssig.  Das
Atelier war groß. In der  Mitte des Raumes, unter der Lampe, vor einer
Reihe von  Skulpturen,  stand ein holzgezimmerter  Tisch, und auf dem  Tisch
saß  eine nackte, dunkelhaarige  Frau.  Die  Reiter kauerte  auf einem
Schemel, nahm den Skizzenblock und zeichnete.  "Abendakt",  erläuterte  sie,
ohne  sich  umzudrehen.  "Heißt  Selow.  Neue  Position, mein  Schatz!
Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen.  So,  Hände im  Nacken
verschränken. Halt!" Die  nackte  Frau,  die  Selow hieß, hatte  sich
aufgerichtet  und stand nun breitbeinig  auf  dem Tisch.  Sie war vorzüglich
gebaut und  blickte  gleichgültig, aus  schwermütigen Augen,  vor  sich hin.
"Baron, was zu trinken, mich friert", sagte sie plötzlich.
     "Wahrhaftig, Fräulein  Selow hat überall Gänsehaut",  pflichtete Fabian
bei. Er war nähergetreten und stand vor  dem Modell wie ein Kunstkenner  vor
einer weiblichen Bronze.
     "Berühren  verboten!"  Die Stimme der  Bildhauerin klang  äußerst
unfreundlich.
     Fräulein  Kulp, die sich  in  Labudes Armen  wie in  warmem  Badewasser
dehnte, rief Fabian zu: "Hand von der Butter.  Der  Baron  ist eifersüchtig.
Sie hat mit dem Abendakt ein gutgehendes Verhältnis."
     "Halt  den  Rand!"  knurrte die Reiter. "Labude, wenn Sie  mit der Kulp
etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten,  genieren Sie sich nicht.  Ich habe
nur diesen Raum, aber der ist an Kummer gewöhnt."
     Labude äußerte, er habe moralische Bedenken.
     "Was  es so alles gibt",  meinte  die  Kulp traurig. Die Reiter blickte
vorübergehend von ihrem Block hoch und sah Fabian an. "Falls Sie sich an der
Kulp beteiligen wollen, halten Sie sich ran! Ihr braucht weiter  nichts dazu
als einen Groschen. Labude wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den
Groschen  hoch,  das  regt ihr  Sonnengeflecht an.  Wer oben liegt,  hat den
Vortritt."
     "Welche  tiefe  Wahrheit!" rief die  Kulp.  "Aber  einen  Groschen?  Du
verdirbst die Preise!"
     Fabian sagte höflich, er sei kein  Freund von Glücksspielen. Die nackte
Frau stampfte mit dem Fuß auf: "Was zu trinken!"
     "Battenberg,  neben deinem  Lehnstuhl steht ein Tischchen, und auf  dem
Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber."
     "Gern", sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es. Dann trat ein
fremdes Mädchen in  den  Lichtkreis  der Lampe und reichte dem Abendakt  ein
gefülltes  Glas.  Fabian war überrascht.  "Wie viele  weibliche  Wesen  sind
eigentlich hier?" fragte er.
     "Ich  bin das einzige", erklärte Fräulein Battenberg und lachte. Fabian
sah ihr ins Gesicht und  fand, sie passe nicht in das Milieu. Sie  spazierte
wieder  hinter  die  Plastiken.  Er  folgte  ihr.  Sie  setzte sich  in  den
Lehnstuhl. Er stellte sich neben eine  Diana aus Gips, legte  den Arm um die
Hüfte der  trainierten Göttin und schaute  durch das Atelierfenster auf  die
Bogen  und Veduten der  Jugendstilgiebel. Man  hörte den Baron kommandieren.
"Letzte  Position,  mein  Schatz,  Rumpfbeuge  vorwärts,   Knie  einknicken,
Gesäß  heraus, Hände auf die Knie, gut,  halt!" Und aus  der  vorderen
Hälfte des Ateliers klangen  kleine, zugespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt
vorübergehend an Atemnot. "Wie kommen Sie  eigentlich  in  diesen Saustall?"
fragte Fabian.
     "Ruth Reiter  und  ich  sind aus  derselben Stadt.  Wir  gingen in  die
gleiche Schule. Neulich trafen wir uns  zufällig  auf  der Straße. Und
weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken
ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt."
     "Das   freut   mich",   sagte   er.  "Ich   bin   kein  ausgesprochener
Tugendbewahrer,  und  trotzdem betrübt es  mich, wenn  ich  sehen muß,
daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt." Sie sah ihn ernst an. "Ich bin
kein Engel, mein Herr. Unsere  Zeit ist mit den Engeln böse.  Was sollen wir
anfangen?  Wenn  wir  einen Mann  liebhaben, liefern  wir  uns ihm  aus. Wir
trennen uns von  allem, was  vorher  war, und kommen zu  ihm. "Da bin  ich",
sagen wir freundlich lächelnd. "Ja", sagt er, "da bist du",  und kratzt sich
hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten
Herzens schenken wir ihm, was wir  haben. Und  er flucht. Die Geschenke sind
ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein
wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von  zwei Männern wurde
ich  stehengelassen.  Stehengelassen  wie  ein  Schirm, den man  absichtlich
irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?"
     "Es geht vielen  Frauen so.  Wir  jungen Männer  haben Sorgen. Und  die
Zeit,  die  übrigbleibt,  reicht fürs Vergnügen, nicht  für  die  Liebe. Die
Familie liegt im  Sterben. Zwei Möglichkeiten  gibt es  ja doch nur für uns.
Verantwortung zu  zeigen. Entweder  der  Mann verantwortet die Zukunft einer
Frau,  und  wenn  er  in der  nächsten Woche  die Stellung verliert, wird er
einsehen, daß  er  verantwortungslos  handelte. Oder  er wagt  es, aus
Verantwortungsgefühl,  nicht,  einem   zweiten  Menschen  die   Zukunft  zu
versauen,  und wenn die  Frau darüber  ins  Unglück gerät,  wird  er  sehen,
daß  auch  diese  Entscheidung  verantwortungslos  war.  Das ist  eine
Antinomie, die es früher nicht gab."
     Fabian  setzte  sich  aufs  Fensterbrett.  Gegenüber  war  ein  Fenster
erleuchtet. Er blickte  in ein  mäßig  möbliertes  Zimmer.  Eine  Frau
saß am Tisch und  stützte  den  Kopf  in die Hand. Und  ein Mann stand
davor,  gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund,  riß
den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die  Hände
vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann  legte sie den Kopf auf den Tisch,
ganz langsam  und ganz ruhig,  als warte sie auf  ein niederfallendes  Beil.
Fabian  wandte  sich ab  und  betrachtete  das  Mädchen,  das neben  ihm  im
Lehnstuhl saß.  Auch  sie  hatte  die  Szene  drüben im  anderen  Haus
beobachtet und sah ihn traurig an.
     "Schon wieder ein verhinderter Engel", meinte er.
     "Der  zweite  Mann, den ich  liebte  und  damit  belästigte", sagte sie
leise, "ging eines schönen Abends  aus der  Wohnung, um  einen  Brief in den
Kasten zu werfen. Er ging die Treppe  hinunter  und kam nicht  wieder."  Sie
schüttelte  den Kopf, als verstehe  sie das Erlebnis  noch immer nicht. "Ich
wartete  drei  Monate  darauf,  daß  er  vom Briefkasten  zurückkehre.
Komisch, nein? Dann  schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit vielen
herzlichen Grüßen. Meine  Mutter sagte: "Du bist eine Dirne!", und als
ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten Mann mit achtzehn Jahren und
das erste Kind mit neunzehn Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: "Das war
etwas ganz anderes!" Freilich, das war etwas ganz anderes."
     "Warum sind Sie nach Berlin gekommen?"
     "Früher verschenkte man sich  und wurde wie ein Geschenk bewahrt. Heute
wird  man  bezahlt und eines  Tages,  wie jede  bezahlte und benutzte  Ware,
weggetan. Bezahlung ist billiger, denkt der Mann."
     "Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware. Heute ist das
Geschenk eine Ware, die null  Mark kostet. Diese Billigkeit macht den Käufer
mißtrauisch. Sicher ein faules  Geschäft, denkt er.  Und meist  hat er
recht. Denn später präsentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich  soll er
den moralischen Preis des Geschenks  rückvergüten. In seelischer Valuta. Als
Lebensrente zu zahlen."
     "Genauso  ist es",  sagte sie. "Genauso denken  die Männer.  Aber warum
nennen Sie dann dieses  Atelier einen Saustall? Hier sind doch die Frauen so
ähnlich, wie ihr sie haben  wollt! Oder etwa nicht? Ich weiß, was euch
zu eurem Glück noch  fehlt. Wir sollen zwar kommen und  gehen,  wann  ihr es
wollt.  Aber  wir  sollen  weinen, wenn ihr uns  fortschickt. Und wir sollen
selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber
die  Ware  soll  verliebt  sein.  Ihr  zu allem  berechtigt  und  zu  nichts
verpflichtet, wir zu allem  verpflichtet und zu nichts  berechtigt, so sieht
euer Paradies aus. Doch das  geht  zu weit!" Fräulein Battenberg putzte sich
die Nase. Dann  fuhr sie  fort: "Wenn wir euch nicht behalten dürfen, wollen
wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns kaufen wollt, dann  sollt ihr teuer
dafür bezahlen." Sie schwieg. Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht.
     "Sie sind deswegen nach Berlin gekommen?" fragte Fabian.
     Sie weinte geräuschlos.
     Er  trat  neben sie und streichelte  ihre Schulter. "Sie verstehen auch
nichts von Geschäften", sagte er und  blickte zwischen zwei  Gipsfiguren  in
den  anderen Teil  des  Ateliers. Der Abendakt saß  auf dem Tisch  und
trank Gin. Die Bildhauerin beugte sich über die nackte  Frau und küßte
sie auf  den  wenig  gewölbten  Bauch und  auf  die  Brust. Die  Selow trank
inzwischen  das  Glas leer und strich der  Freundin  gleichgültig  über  den
Rücken. Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die
andere tat. Und  im Hintergrund, auf der  Chaiselongue,  lagen die Kulp  und
Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt.
     Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und ging
mit schweren  Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümpfe  an. Ein riesiger
Mann kam durch die  Tür. Er atmete  keuchend, hatte ein Holzbein und ging an
einem Stock.
     "Ist  die  Kulp  da?" fragte er.  Die  Reiter  nickte. Er  zog ein paar
Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhauerin  und sagte: "Ihr anderen
solltet eine  Stunde  fortgehen.  Die  Selow  kannst  du  mir eventuell noch
dalassen." Er  sank auf  einen  Stuhl und lachte  schwerfällig. "Nein, nein,
Baron, es war nur Spaß."
     Die  Kulp kroch von der  Chaiselongue, strich sich das Kleid  glatt und
gab dem Mann die Hand. "Tag, Wilhelmy, noch immer nicht tot?"
     Wilhelmy wischte sich  den Schweiß  von  der Stirn und schüttelte
den Kopf.
     "Lange kann's aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld früher zu Ende
als ich." Er gab ihr ein paar Geldscheine. "Selow!" rief  er, "sauf den  Gin
nicht aus! Und zieh dich schneller an."
     "Geht  in die "Cousine". Ich komme nach", sagte die Kulp. Dann rüttelte
sie  Labude munter. "Mein  Lieber, du wirst rausgeschmissen. Hier ist einer,
dem  die Ärzte erzählt  haben, daß er  noch in diesem Monat stirbt. Er
lauert auf  den Tod wie unsereins  auf die Periode.  Ich helf ihm bloß
ein  Viertelstündchen  warten.  Später  treff ich euch wieder." Labude stand
auf.  Die  Reiter  holte ihren  Mantel. Fabian  kam mit Fräulein  Battenberg
hinter den Plastiken vor. Die Selow war mit Anziehen fertig. Sie gingen. Der
Todeskandidat und die Kulp blieben zurück.
     "Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr  wie beim letzten Mal", sagte
die Bildhauerin auf der Treppe. "Es bringt  ihn auf, daß andere länger
leben dürfen als er."
     "Die hat nichts  dagegen, die  liebt die Keile", meinte die Selow. "Und
außerdem,  von  ihrer  Zeichnerei  kann  sie  nicht  leben  und  nicht
sterben."
     "Feine Berufe haben wir!" Die Reiter lachte wütend.
     Die "Cousine" war ein Klublokal, in dem vorwiegend  Frauen  verkehrten.
Sie  tanzten  miteinander. Sie  saßen  Arm  in Arm auf  kleinen grünen
Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen. Sie tranken Schnaps, und manche
trugen Smokingjacken  und  hochgeschlossene  Blusen,  um den  Männern  recht
ähnlich zu  sein. Die Inhaberin hieß wie ihr  Lokal, rauchte  schwarze
Zigarren  und vermittelte Bekanntschaften.  Sie  ging  von  Tisch zu  Tisch,
begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und soff wie ein Budiker.
Labude schien sich vor Fabian und  vor sich selber zu schämen. Er tanzte mit
dem Abendakt,  setzte sich  dann  mit  der Frau an die Theke und  drehte dem
Freund den Rücken.
     Ruth Reiter war eifersüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte ganz
selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken.  Später schob
sie  an einen anderen Tisch und unterhielt sich dort mit einer älteren Dame,
die  schrecklich geschminkt  war  und, wenn  sie lachte, derartig  gackerte,
daß man dachte: Gleich legt sie ein Ei.
     "Ich  kann  unser  Gespräch  noch  nicht  vergessen",  sagte Fabian  zu
Fräulein Battenberg. "Halten Sie wirklich alle Frauen,  die  hier versammelt
sind, für gebürtige Abnormitäten? Die  Blondine  da drüben war jahrelang die
Freundin eines Schauspielers, bis er sie ruckartig an die  Luft setzte. Dann
ging sie ins Büro und schlief mit dem Prokuristen.  Sie kriegte ein Kind und
verlor  den Prozeß. Der  Prokurist  leugnete die Vaterschaft. Das Kind
wurde  aufs  Land gegeben. Die Blondine bekam  eine neue Stellung. Aber  sie
hat, vielleicht für immer, mindestens vorübergehend,  von den Männern genug,
und  mancher, die außer  ihr  hier sitzt, erging es ähnlich. Die  eine
findet keinen Mann, die andere zu viele,  die dritte hat  panische Angst vor
den Folgen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse sind. Die
Selow, die mit meinem  Freunde zusammenhockt,  gehört  auch zu dieser Sorte.
Sie ist nur lesbisch, weil sie mit dem anderen Geschlecht schmollt."
     "Wollen Sie mich nach Hause bringen?" fragte Fräulein Battenberg.
     "Es gefällt Ihnen hier nicht?"
     Sie schüttelte den Kopf.
     Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem Tisch, an dem
die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffnete den Mund. Sie schrie
nicht,  sie sprach nichts.  Sie  brach  zusammen.  Die Frauen drängten  sich
neugierig  um die Ohnmächtige. Die Cousine brachte Whisky. "Der Wilhelmy hat
sie wieder geschlagen", sagte die Reiter.
     "Ein Hoch auf die Männer!" schrie ein Mädchen und lachte hysterisch.
     "Holt  den Doktor  aus dem Hinterzimmer!" rief die Cousine.  Man rannte
durcheinander.  Der  Klavierspieler,  der ebenso  witzig  wie betrunken war,
intonierte den Trauermarsch von Chopin.
     "Das  soll der Doktor  sein?" fragte  Fräulein  Battenberg.  Durch  die
Seitentür trat  eine  große, hagere Dame  im  Abendkleid, das  Gesicht
glich einem weißgepuderten Totenkopf.
     "Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann", sagte Fabian. "Er war
sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmisse unterm Puder? Jetzt ist er
Morphinist und hat polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Er lebt
davon, daß er Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden  sie ihn
erwischen, dann vergiftet er  sich." Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der
Doktor  im Abendkleid folgte.  Der  Klavierspieler  begann einen Tango.  Die
Bildhauerin  holte  den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin  eng an
sich und sprach heftig  auf sie  ein. Die Selow war völlig  betrunken, hörte
kaum  zu  und schloß die  Augen.  Plötzlich riß  sie  sich  los,
überquerte  schwankend das Parkett, schlug den  Klavierdeckel  zu, daß
das Instrument jammerte, und brüllte: "Nein!"
     Es wurde totenstill.  Die Bildhauerin  stand allein  auf der Tanzfläche
und hatte die Hände ineinandergekrampft.
     "Nein!" brüllte  die Selow  noch  einmal. "Ich  habe  genug davon!  Bis
dahin! Ich  will einen Mann haben! Einen Mann will ich haben! Steig mir doch
den Buckel runter, du geile Ziege!" Sie zerrte Labude von seinem Hocker, gab
ihm einen Kuß, hieb sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann,
kaum daß er den Mantel mitnehmen konnte,  zur Tür. "Es lebe der kleine
Unterschied!" schrie sie. Dann waren die beiden verschwunden.
     "Es ist wirklich besser, wenn wir gehen." Fabian erhob sich, legte Geld
auf den Tisch und half  der Battenberg beim Anziehen.  Als sie gingen, stand
Ruth Reiter, auch der Baron genannt, noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand
wagte es, sich ihr zu nähern.
     ZEHNTES KAPITEL
     Topographie der Unmoral
     Die Liebe höret nimmer auf!
     Es lebe der kleine Unterschied!
     "Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?" fragte sie auf der Straße.
     "Sie kennen  ihn doch gar nicht!" Er  ärgerte sich über ihre Frage  und
ärgerte sich über seine Antwort.  Sie gingen schweigend nebeneinander.  Nach
einer Weile sagte er: "Labude hat Pech gehabt. Er  ist nach Hamburg gefahren
und hat zugesehen,  wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt.  Er organisiert
gern.  Seine Zukunft  war, nach der familiären Seite,  bis  auf  die  fünfte
Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun  stellt sich über  Nacht heraus,
es war alles falsch. Er  will  das rasch vergessen und versucht es  zunächst
auf horizontale Art."
     Sie  blieben  vor einem  Geschäft  stehen.  Der  Laden  war  trotz  der
nächtlichen  Stunde   hell  erleuchtet,  und  die  Kleider  und  Blusen  und
Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern wie auf einer kleinen, von der
Sonne beschienenen Insel.
     "Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" fragte jemand neben ihnen.
     Fräulein Battenberg  erschrak und faßte den Arm ihres Begleiters.
"Zehn nach zwölf", sagte Fabian.
     "Danke schön. Da  muß  ich mich beeilen." Der junge Mann, der sie
angesprochen  hatte,   bückte  sich   und  nestelte  umständlich  an   einem
Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf und fragte verlegen lächelnd:
"Haben Sie zufällig fünfzig Pfennige,  die Sie entbehren könnten?" "Zufällig
ja", antwortete Fabian und gab ihm ein Zweimarkstück.
     "Oh, das ist schön.  Haben Sie vielen  Dank, mein Herr.  Da brauche ich
nicht bei der Heilsarmee zu  übernachten."  Der Fremde zuckte entschuldigend
die Achseln, lüftete den Hut und lief hastig davon.
     "Ein gebildeter Mensch", meinte Fräulein Battenberg.
     "Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte."
     Sie  setzten ihren Weg fort. Fabian  wußte  nicht, wo das Mädchen
wohnte. Er  ließ sich  führen, obwohl er die Gegend besser  kannte als
sie. "Das Schlimmste an der ganzen  Geschichte  ist das", sagte  er, "Labude
hat, allerdings fünf Jahre zu spät, bemerkt, daß  ihn Leda,  eben jene
Frau aus Hamburg, niemals lieb hatte. Sie hat ihn nicht betrogen, weil er zu
selten bei ihr war. Sie betrog ihn, weil sie  ihn nicht liebte. Er stand ihr
nur  individuell nahe, er war  nicht ihr Typus. Es gibt auch den umgekehrten
Fall.  Man kann  jemanden  mögen, weil er den rechten Typus verkörpert, aber
man kann seine Individualität nicht leiden."
     "Und daß  jemand in jeder Beziehung  der  Richtige ist, kommt das
nicht vor?"
     "Man soll  nicht  gleich das  Äußerste hoffen", erwiderte Fabian.
"Und was führt Sie, außer Ihrem  kriegerischen Vorsatz, nach Sodom und
Gomorrha?"
     "Ich  bin  Referendar", erklärte sie.  "Meine  Dissertation betraf eine
Frage  zum  internationalen   Filmrecht,  und   eine  große   Berliner
Filmgesellschaft  will mich in  ihrer Vertragsabteilung  volontieren lassen.
Hundertfünfzig Mark im Monat."
     "Werden Sie doch Filmschauspielerin!"
     "Wenn  es sein muß, auch das", sagte  sie entschlossen. Und beide
lachten. Sie gingen durch die  Geisbergstraße.  Nur selten durchquerte
ein Auto die Nachtruhe.  In  den  Vorgärten  dufteten Blumenbeete. In  einer
Haustür streichelte sich ein Liebespaar.
     "Sogar  der Mond scheint in  dieser  Stadt", bemerkte  die Kennerin des
internationalen  Filmrechts.  Fabian drückte ihren  Arm  ein wenig.  "Ist es
nicht fast wie zu Hause?" fragte er. "Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein
und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im Torbogen
sind  Illusionen. Dort drüben, an dem  Platz, ist ein Café,  in dem Chinesen
mit  Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da  vorn ist ein Lokal, wo
parfümierte  homosexuelle Burschen  mit  eleganten Schauspielern und smarten
Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den  Preis bekanntgeben, und zum
Schluß  bezahlt  das  Ganze  eine  blondgefärbte  Greisin,  die  dafür
mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen,
daneben liegt ein Restaurant, wo  russische  und ungarische  Juden  einander
anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt
es   eine  Pension,  wo   sich   nachmittags  minderjährige  Gymnasiastinnen
verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen
Skandal, der  nur schlecht vertuscht wurde;  ein  älterer  Herr fand  in dem
Zimmer, das er  zu Vergnügungszwecken  betrat, zwar,  wie er erwartet hatte,
ein  sechzehnjähriges   entkleidetes  Mädchen  vor,  aber   es  war   leider
seineTochter, und das hatte e