r nicht erwartet... Soweit  diese riesige Stadt
aus Stein besteht,  ist sie  fast noch wie  einst. Hinsichtlich der Bewohner
gleicht sie  längst einem  Irrenhaus.  Im Osten residiert das Verbrechen, im
Zentrum die Gaunerei,  im  Norden  das  Elend, im Westen die Unzucht, und in
allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang."
     "Und was kommt nach dem Untergang?"
     Fabian pflückte  einen kleinen Zweig, der über ein Gitter hing, und gab
zur Antwort: "Ich fürchte, die Dummheit."
     "In  der Stadt, aus der  ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen",
sagte das Mädchen. "Aber was soll man tun?"
     "Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir
kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre
nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so  lange mit dem Kopf gegen
die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe  zu und warte. Ich warte
auf den  Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen.
Aber ich warte  darauf  wie ein Ungläubiger auf Wunder. Liebes Fräulein, ich
kenne Sie noch nicht. Trotzdem,  oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich
Ihnen für den Umgang  mit  Menschen  eine Arbeitshypothese  anvertrauen, die
sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht richtig zu sein
braucht. Aber sie führt in der Praxis zu verwendbaren Ergebnissen."
     "Und wie lautet Ihre Hypothese?"
     "Man halte hier  jeden  Menschen, mit Ausnahme der  Kinder  und Greise,
bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich bewiesen ist, für verrückt. Richten
Sie sich danach, Sie werden bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann."
     "Soll ich bei Ihnen damit beginnen?" fragte sie.
     "Ich bitte darum", meinte er.
     Sie  schwiegen und überquerten  den Nürnberger Platz. Ein Auto  bremste
dicht   vor   ihnen.    Das   Mädchen   zitterte.   Sie    gingen   in   die
Schaperstraße. In  einem verwahrlosten Garten schrien  Katzen.  An den
Rändern  der  Fußsteige standen  Alleebäume,  bedeckten  den  Weg  mit
Dunkelheit und  verbargen den Himmel.  "Ich bin  angelangt",  sagte  sie und
machte vor  dem Hause  Nummer 17  halt. In  dem  Hause, in dem  auch  Fabian
wohnte!  Er  verbarg seine Verwunderung  und  fragte, ob er  sie wiedersehen
dürfe.
     "Wollen Sie es wirklich?"
     "Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen." Sie nickte und
legte einen  Augenblick lang den  Kopf an  seine Schulter. "Diese Stadt  ist
groß", flüsterte sie und schwieg unschlüssig. "Werden Sie  mich falsch
verstehen, wenn ich  Sie bitte, für eine halbe Stunde zu mir hinaufzukommen?
Das  Zimmer  ist  mir noch  so  fremd.  Kein  Wort  klingt  nach  und  keine
Erinnerung, denn  ich habe darin noch mit niemandem  gesprochen,  und nichts
ist da, woran es mich erinnern könnte.  Und  vor den  Fenstern schwanken des
Nachts schwarze Bäume."
     Fabian   sagte   lauter,  als   er  wollte:   "Ich   komme   gern  mit.
Schließen Sie nur auf." Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und
drehte um.  Doch ehe sie die Tür aufschob,  wandte sie  sich  noch einmal zu
ihm.  "Ich bin sehr  in  Sorge, daß  Sie mich mißverstehen."  Er
drückte  die Tür auf  und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Dann ärgerte
er sich, daß er  sich dadurch verraten  haben  könnte. Aber sie  wurde
nicht  stutzig, schloß hinter ihm ab und  ging  voraus. Er folgte  und
amüsierte sich über die Heimlichkeit, mit der er heute  dieses Haus  betrat.
In welcher Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür seiner
Wirtin, vor  der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öffnete. Im Flur brannte
Licht.  Zwei junge  Mädchen  in  rosa Hemdhöschen spielten  mit einem grünen
Luftballon  Fußball.  Sie  erschraken  und  begannen  vor  Schreck  zu
kichern.  Fräulein Battenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und
Herr Dröger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama.
     "Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß", brummte Fabian.
     Herr Dröger  grinste, trieb die Mädchen in sein Serail und riegelte ab.
Fabian legte die Hand versehentlich auf die Klinke zu seinem eigenen Zimmer.
     "Um Gottes willen",  flüsterte  Fräulein Battenberg. "Da  wohnt  jemand
anderes."
     "Pardon", sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor in den letzten
Raum.  Er  legte Hut  und  Mantel aufs Sofa, sie  hängte ihren Mantel in den
Schrank. "Eine fürchterliche Bude", sagte sie lächelnd. "Und achtzig Mark im
Monat."
     "Ich zahle genausoviel", tröstete er. Nebenan wurde gelärmt.
     Die  Sprungfedern  knirschten  unwillig.  "Die  Nachbarschaft habe  ich
gratis", meinte sie.
     "Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Eintritt."
     "Ach, ich bin  so froh", sie rieb sich die Hände wie  vor  einem Kamin.
"Wenn ich  allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häßlicher. Ich bin
Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die schaurigen Bäume anschauen?"
     Sie  traten  ans  Fenster.  "Heute sind sogar die  Bäume freundlicher",
stellte sie  fest.  Dann sah sie ihn an und murmelte: "Das  macht,  weil ich
sonst allein bin." Er zog sie behutsam an sich und gab ihr einen  Kuß.
Sie küßte ihn wieder. "Nun wirst du denken, daß ich dich deshalb
bat, mitzukommen."
     "Freilich denke ich das", gab er zur Antwort. "Aber du wußtest es
selber noch nicht."
     Sie rieb  ihre Wange  an der seinen  und blickte durchs  Fenster.  "Wie
heißt du eigentlich?" fragte er.
     "Cornelia."
     Als  sie  nebeneinander  im  Bett lagen,  sagte er  ehrlich  bekümmert,
während  er  ihr  mit  den Händen übers Gesicht strich  und dabei  die Augen
schloß, um  das Gepräge des Gesichts zu spüren: "Weißt du  noch,
daß  wir  heute  abend einmal  in einem  Atelier  saßen,  hinter
Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest, wie du die Männer für ihren
Egoismus bestrafen willst?"
     Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine  Hände.  Dann  holte sie tief
Atem und  antwortete:  "An  dem Vorsatz hat sich  nichts geändert,  wirklich
nicht. Aber mit dir mach ich eine Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich
liebhabe."
     Er setzte  sich hoch. Aber  sie zog ihn wieder  zu sich herab. "Vorhin,
als wir uns  umarmten,  hab ich  geweint", flüsterte sie. Und  als  sie sich
dessen  erinnerte,  traten  ihr  von neuem  Tränen in  die  Augen, aber  sie
lächelte  unter diesen Tränen, und er war  seit langem wieder einmal beinahe
glücklich. "Ich  habe geweint, weil ich  dich liebhabe. Aber  daß  ich
dich liebhabe, das ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du
sollst  kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst,  will ich mich
freuen, und wenn  du gehst, will ich nicht traurig sein.  Das verspreche ich
dir." Sie drängte sich an  ihn und preßte ihren Körper an den  seinen,
daß beiden der Atem verging.
     "So", rief sie, "und jetzt hab ich Hunger!"
     Er zog ein so verdutztes Gesicht, daß sie lachte.
     Sie erklärte ihm  die Sache.  "Das ist so: wenn ich  wen  liebhabe, ich
meine, wenn mich jemand liebgehabt hat -  aber du verstehst mich  schon, ja?
-, dann  habe ich hinterher immer fürchterlichen Hunger.  Der Hunger hat nur
einen  Haken. Ich habe nichts  zu  essen  da. Ich  konnte  ja nicht  wissen,
daß ich in dieser fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme."
Sie lag auf dem Rücken  und lächelte die Zimmerdecke an, die Engelsköpfe aus
Stuck inbegriffen.
     Fabian stand auf und  meinte: "Da müssen wir eben einbrechen." Dann hob
er sie aus dem Bett, öffnete die Tür  und zog die widerstrebende Cornelia in
den Korridor.  Sie sträubte  sich, aber er  faßte  sie unter, und  sie
spazierten, Adam und Eva zum Verwechseln ähnlich, den  Flur entlang, bis vor
Fabians Tür.
     "Das ist ja entsetzlich", jammerte sie und  wollte entfliehen.  Aber er
drückte die Klinke nieder und transportierte das Mädchen in sein Zimmer. Sie
klapperte  kläglich mit den Zähnen.  Er  machte Licht,  verbeugte  sich  und
äußerte feierlich: "Herr  Doktor  Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor
Battenberg in  seinen  Gemächern willkommen zu  heißen." Dann  warf er
sich auf sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen.
     "Nein!"  sagte sie  hinter  ihm.  "Das  ist  nicht möglich." Aber  dann
glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen.
     Er stand auf  und sah ihr zu.  "Du darfst dir nicht so laut hintendrauf
klatschen", erklärte er würdevoll.
     "Das  ist beim  Schuhplattler  nicht  anders", meinte  sie  und  tanzte
weiter, so echt und  so laut  es ging. Dann  schritt sie gemessen zum Tisch,
setzte  sich  auf einen Stuhl, tat dabei, als ob sie ihr Kleid glattstriche,
obwohl sie, augenfällig genug, nichts Derartiges anhatte, und sagte: "Bitte,
die Speisekarte."
     Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und  Wurst und Keks herbei und
markierte,  während  sie  aß,  den  aufmerksamen  Oberkellner.  Später
stöberte  sie auf seinem Bücherbrett  herum, klemmte sich Lektüre  unter den
Arm,  bot  ihm  den  linken  und  befahl  majestätisch:  "Bringen  Sie  mich
unverzüglich in mein Appartement zurück."
     Bevor sie  das Licht auslöschten, verabredeten  sie noch, daß sie
ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich dafür, daß sie
ihn,  bis  er munter sei, am Ohr zupfen werde. Abends  wollten sie sich dann
wieder  in  der  Wohnung treffen. Wer  zuerst  da wäre,  würde  neben  seine
Türklinke ein Bleistiftkreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld
nach Möglichkeit nichts merken zu lassen.
     Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie  bettete  sich  neben  ihn und
sagte:  "Komm!" Er streichelte ihren Körper. Sie  nahm seinen  Kopf  in ihre
Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und flüsterte: "Komm! Was rief die
Selow? Es lebe der kleine Unterschied!"
     ELFTES KAPITEL
     Die Überraschung in der Fabrik
     Der Kreuzberg und ein Sonderling
     Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit
     Am anderen Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor Bürobeginn an
der  Arbeit.  Er  pfiff  vor  sich  hin  und  überflog  die Notizen  zu  dem
Preisausschreiben, das die Direktion von ihm erwartete.
     Die   Fabrik   sollte  dem  Einzelhandel  hunderttausend  sehr  billige
Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln sollten numeriert sein und
Zigaretten sechs verschiedener Sorten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten.
Die Käuferschaft  sollte  erraten,  wieviel  Zigaretten der  sechs bekannten
Marken der Firma in der Packung enthalten wären. Wer  eine billige Schachtel
erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen der Preise gewinnen
wollte, notgedrungen  je  eine  der sechs Spezialpackungen kaufen, die  seit
langem  im  Handel  waren,  also sechs  Packungen außer  der  billigen
Sonderschachtel.  Wenn sich  hunderttausend  Interessenten  fanden,  konnten
automatisch      sechshunderttausend     andere     Packungen,     insgesamt
siebenhunderttausend Schachteln,  umgesetzt werden. Dazu kam  die allgemeine
Absatzsteigerung, die  einem  geschickt propagierten  Kundenfang  zu  folgen
pflegt. Fabian begann eine Kalkulation aufzustellen.
     Da erschien  Fischer, rief: "Nanu?" und  blickte dem Kollegen neugierig
über die Schulter.
     "Der  Entwurf  fürs  Preisausschreiben",  sagte Fabian. Fischer zog das
graue Lüsterjackett an, das  er im  Büro trug, und fragte: "Darf  ich  Ihnen
nachher mal meine Zweizeiler zeigen?"
     "Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik."
     Da  klopfte  es.  Der Hausbote Schneidereit,  ein ältliches,  wackliges
Faktotum, auch  "der  Erfinder  des  Plattfußes" geheißen, schob
sich ins Zimmer. Er legte  mürrisch  einen  großen  gelben  Brief  auf
Fabians Schreibtisch und entfernte sich wieder.  Der  Brief enthielt Fabians
Papiere,  eine  Anweisung  an die  Hauptkasse  und ein kurzes Schreiben  mit
diesem Inhalt:
     "Sehr geehrter Herr,  die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen unter
dem  heutigen Tage die Kündigung  auszusprechen. Das am  Monatsende zahlbare
Gehalt wird Ihnen schon heute an der Kasse ausgefolgt  werden. Wir haben uns
erlaubt, aus freien Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen
auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagandistische
Tätigkeit  besonders  qualifiziert   erscheinen.   Die  Kündigung  ist  eine
bedauerliche   Folge   der  vom  Aufsichtsrat   beschlossenen   Senkung  des
Reklamebudgets. Wir danken Ihnen für  die dem Unternehmen geleistete  Arbeit
und wünschen  Ihnen  für  Ihr weiteres Fortkommen das Beste."  Unterschrift.
Aus.
     Fabian saß minutenlang, ohne sich  zu  rühren. Dann stand er auf,
zog  sich  an,  steckte den Brief in den  Mantel und sagte zu Fischer:  "Auf
Wiedersehen. Lassen Sie sich's gutgehen."
     "Wo wollen Sie denn hin?"
     "Man hat mir eben gekündigt."
     Fischer sprang  auf.  Er war  grün  im Gesicht. "Was  Sie nicht  sagen!
Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!"
     "Ihr Gehalt ist kleiner", meinte Fabian. "Sie dürfen bleiben."
     Fischer trat auf  den  gekündigten  Kollegen  zu  und  drückte  ihm mit
feuchter Hand  sein Bedauern  aus. "Na, zum Glück läßt  Sie  die Sache
kalt.  Sie  sind ein patenter  Kerl, und  zweitens haben  Sie keine Frau  am
Hals."
     Plötzlich stand  Direktor  Breitkopf im  Zimmer, zögerte,  als er  sah,
daß Fischer  nicht allein  war,  und  wünschte schließlich einen
guten Morgen.
     "Guten Morgen, Herr Direktor",  grüßte Fischer und verbeugte sich
zweimal.  Fabian tat, als sehe  er Breitkopf nicht, wandte sich dem Kollegen
zu und sagte: "Auf dem Schreibtisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich
vermache  es  Ihnen."  Damit verließ Fabian  seine Wirkungsstätte und
holte  sich   an  der  Kasse  zweihundertsiebzig  Mark.  Bevor  er  auf  die
Straße trat, blieb er minutenlang im Tor  stehen.  Lastautos ratterten
vorbei. Ein  Depeschenbote  sprang vom  Rad und eilte ins  gegenüberliegende
Gebäude. Das Nebenhaus war von einem Gerüst vergittert. Maurer standen  auf
den Laufbrettern und verputzten den grauen, bröckeligen  Bewurf.  Eine Reihe
bunter  Möbelwagen  bog   schwerfällig  in   die   Seitenstraße.   Der
Depeschenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr weiter. Fabian
stand  im  Torbogen, griff in  die Tasche,  ob  das Geld noch  drin sei, und
dachte:  "Was  wird  mit  mir?"  Dann ging er, da er nicht arbeiten  durfte,
spazieren.
     Er lief  kreuz  und quer durch  die Stadt,  trank  gegen Mittag, Hunger
hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und setzte sich von neuem in
Bewegung, obwohl er sich lieber traurig in den tiefen Wald verkrochen hätte.
Aber wo war  hier ein tiefer Wald?  Er lief und  lief  und rannte  sich  den
Kummer in den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte
er  das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student gelebt  hatte.
Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der
verlegen abwartet, ob man ihn grüßen wird oder nicht. Fabian stieg die
Treppe hinauf und sah  nach, ob  die alte Geheimratswitwe  noch  immer  hier
wohnte.  Aber da war ein fremdes Schild an der  Tür. Er  kehrte um. Die alte
Dame war  ganz weißhaarig und sehr  schön gewesen. Er entsann sich des
regelmäßigen  dummen Greisinnengesichts. Im Inflationswinter hatte er
kein  Geld  zum  Heizen  gehabt. Er hatte, im  Mantel  vergraben,  dort oben
gehockt  und  an  einem  Vortrag  über  Schillers  moralästhetisches  System
gearbeitet. Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum  Mittagessen
eingeladen  und  über  die  familiären  Vorgänge   in  ihrem   umfangreichen
Bekanntenkreis  aufgeklärt worden. Vorher, damals  und heute,  er war stets
ein armes  Luder  gewesen, und  er  hatte  große  Aussichten, eines zu
bleiben. Seine Armut war schon eine schlechte  Angewohnheit, wie bei anderen
das Krummsitzen oder das Nägelkauen.
     Gestern nacht, bevor er einschlief,  hatte  er noch gedacht: Vielleicht
sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so
rasch Früchte trug; vielleicht sollte man sich doch ein wenig ernster nehmen
und  in dem  wackligen Weltgebäude,  als  ob  alles  in  Ordnung  sei,  eine
lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war  es Sünde,  das Leben
zu  lieben  und kein  seriöses Verhältnis  mit ihm zu haben.  Cornelia,  der
weibliche Referendar,  hatte danebengelegen und ihm noch im Schlaf  die Hand
gedrückt. Mitten in der Nacht,  hatte sie  ihm am Morgen  berichtet, sei sie
zusammengefahren und erwacht. Denn  er  habe  sich im  Bett  aufgesetzt  und
energisch  erklärt: "Ich werde  die  Annoncen leuchten lassen!" Dann sei  er
wieder zurückgesunken.
     Er stieg langsam auf  das  Plateau des Kreuzberges und  setzte sich auf
eine Bank,  die der  Pflege  des  Publikums empfohlen  war. Auf einem Schild
stand:   "Bürger,   schont   eure   Anlagen!"   Der   Magistrat   hatte  den
außerordentlich   zweideutigen   Satz  unterschrieben,  der  Magistrat
mußte es  wissen. Fabian betrachtete den riesigen  Stamm eines Baumes.
Die  Rinde war von tausend  senkrechten Falten  zerpflückt. Sogar die  Bäume
hatten Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank  vorbei. Der eine, der
die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt,  fragte gerade empört: "Soll man
sich das gefallen lassen?" Der andere ließ sich  mit der Antwort Zeit:
"Gegen die  Bande kannst du gar nichts machen", meinte er schließlich.
Was sie weiter sprachen, war nicht mehr zu hören.
     Von der  anderen  Seite  des  Platzes  näherte  sich  eine  merkwürdige
Gestalt: ein  alter  Herr, mit  einem weißen Knebelbart und  mit einem
schlechtgerollten  Schirm.  Statt  eines  Mantels  trug er  eine  grünliche,
verschossene  Pelerine, und der Kopf gipfelte in einem steifen  grauen  Hut,
der  vor Jahren schwarz gewesen  sein mochte. Der  Pelerinenträger steuerte
auf die Bank zu, ließ  sich,  eine  Begrüßungsformel  murmelnd,
neben Fabian nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm Kreise
in  den  Sand. Er  machte einen der  Kreise zu einem Zahnrad, brachte dessen
Mittelpunkt mit  dem  Zentrum  eines  anderen  Kreises durch eine Gerade in
Verbindung, komplizierte  die Skizze durch  Kurven und  Linien immer  mehr,
schrieb  Formeln daneben und darüber,  rechnete, strich durch,  rechnete von
neuem, unterstrich  eine Zahl  zweimal  und  fragte: "Verstehen Sie  was von
Maschinen?"
     "Bedaure",   sagte   Fabian.   "Wer   mich  sein  Grammophon  aufziehen
läßt,  kann  sicher   sein,  daß  es  nie  mehr   funktioniert.
Mechanische Feuerzeuge, mit denen ich  mich befasse, brennen nicht. Bis zum
heutigen  Tage  halte  ich  den  elektrischen  Strom,  wie mir  der  Name zu
bestätigen  scheint, für eine Flüssigkeit.  Und  wie es möglich ist, auf der
einen Seite geschlachtete  Ochsen in elektrisch betriebene Metallgehäuse zu
sperren  und auf  der Rückseite Cornedbeef  herauszudestillieren, werde  ich
niemals  begreifen.  -  Übrigens  erinnert  mich  Ihre  Pelerine  an  meine
Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten  wir in solchen Pelerinen und  mit
grünen Mützen nach der Martin-Luther-Kirche  zum  Gottesdienst.  Während der
Predigt schliefen wir alle bis auf den, der  die anderen wecken mußte,
wenn der Organist den  Choral intonierte oder  wenn  der Hauslehrer  auf die
Empore  kam." Fabian  blickte auf die Pelerine des Nachbarn und spürte,  wie
dieses  Kleidungsstück die  Vergangenheit  alarmierte.  Er  sah den blassen,
dicken Direktor vor sich, wie der jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor
er sich setzte und das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der
Hand  an  die Hose  faßte,  um  sich  zu vergewissern, ob der  sündige
Erdenrest noch anwesend sei. Und er  sah  sich selber abends  durchs Tor der
Anstalt  schleichen,  durch  die dämmerigen  Straßen,  an den Kasernen
vorbei,  über  den   Exerzierplatz  rennen,  die  Treppe  eines  Mietshauses
hinaufjagen  und auf  eine Klingel drücken. Er hörte  die  zitternde Stimme
seiner  Mutter hinter der  Tür: "Wer  ist denn draußen?"  Und er hörte
sich, außer Atem,  rufen: "Ich bin's, Mama! Ich wollte bloß  mal
nachsehen, ob's dir heute besser geht."
     Der  alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten Schirmes so
lange über den Sand, bis die Rechnung weggewischt war. "Vielleicht verstehen
Sie  mich, da Sie von Maschinen nichts  verstehen",  sagte  er. "Ich bin ein
sogenannter Erfinder, Ehrenmitglied von fünf wissenschaftlichen  Akademien.
Die   Technik   verdankt  mir   erhebliche   Fortschritte.  Ich  habe   der
Textilindustrie dazu verholfen, pro Tag fünfmal soviel Tuch herzustellen als
früher. An meinen Maschinen haben viele Leute Geld verdient, sogar ich." Der
alte  Herr  hustete  und  zupfte  sich  nervös  am  Spitzbart.  "Ich  erfand
friedliche Maschinen  und  merkte  nicht, daß  es Kanonen waren.  Das
konstante  Kapital  wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Betriebe  nahm
zu,  aber, mein Herr, die Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter  nahm ab. Meine
Maschinen waren Kanonen, sie setzten  ganze Armeen von Arbeitern außer
Gefecht. Sie zertrümmerten den  Existenzanspruch  von Hunderttausenden.  Als
ich in  Manchester  war, sah ich, wie die Polizei auf  Ausgesperrte losritt.
Man schlug mit  Säbeln auf ihre  Köpfe. Ein kleines Mädchen wurde  von einem
Pferd niedergetrampelt.  Und ich war daran schuld."  Der alte Herr schob den
steifen  Hut  aus  der Stirn  und hustete. "Als ich  zurückkam, stellte mich
meine Familie unter Kuratel. Es paßte ihnen  nicht, daß ich Geld
wegzuschenken  begann  und daß  ich erklärte, ich wolle  mit Maschinen
nichts mehr zu schaffen haben. Und dann  ging ich  fort. Sie haben zu leben,
sie wohnen in meinem Haus am Starnberger See, ich bin seit einem halben Jahr
verschollen. Vorige Woche las  ich in der Zeitung,  daß meine Tochter
ein Kind geboren hat. So bin ich  nun Großvater geworden und laufe wie
ein Strolch durch Berlin."
     "Alter schützt vor Klugheit  nicht", sagte  Fabian. "Leider sind  nicht
alle Erfinder so sentimental."
     "Ich dachte daran,  nach Rußland zu fahren und mich zur Verfügung
zu stellen. Aber ohne Paß darf  man nicht hinüber. Und wenn man meinen
Namen erfährt, hält man  mich erst recht zurück.  In meiner Brusttasche sind
Skizzen  und  Berechnungen  für  eine  Webstuhlanlage,  die alle  bisherigen
Textilmaschinen in den  Schatten  stellt.  Millionenwerte stecken in  meiner
geflickten Tasche.  Aber lieber  will ich  verhungern." Der alte Herr schlug
sich  stolz  an die Brust und hustete  wieder.  "Heute abend übernachte  ich
Yorckstraße 93.  Kurz  bevor das Tor geschlossen wird, betrete ich das
Haus.  Wenn  der  Portier fragt,  wohin  ich  will,  sage  ich,  ich besuche
Grünbergs.  Die   Leute   wohnen  in  der   vierten  Etage.   Der  Mann  ist
Oberpostschaffner. Ich steige hinauf.  Ich  gehe an der  Wohnung der Familie
Grünberg  vorbei und klettere  zum  Dachboden. Dort setze ich  mich  auf die
Treppe. Vielleicht  ist die Bodentür  offen.  Manchmal liegt gar  eine alte
Matratze in irgendeiner Ecke. Morgen früh verschwinde ich dann wieder."
     "Woher kennen Sie Grünbergs?"
     "Aus dem Adreßbuch", antwortete der Erfinder. "Ich muß doch
einen  Hausbewohner  nennen  können,  falls  sich  der  Portier nach  meinen
Absichten  erkundigt. Am nächsten Morgen kommt der Schwindel häufig heraus.
Aber die jahrtausendealte  Aufforderung, vor einem  grauen Haupt aufzustehen
und die Alten zu ehren,  hat  Früchte  getragen, bis zu  den Portiers hinab.
Außerdem wechsle ich täglich meine  Adresse. Im Winter erteilte ich an
einer Privatschule Physikunterricht.  Es  wurde leider ein  Aufklärungskurs
gegen  die Wunder der Technik daraus. Das gefiel weder den Schülern noch dem
Direktor. Ich zog es vor, mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen.
Jetzt brauche  ich  die Postämter nicht mehr. Es ist warm.  Jetzt sitze  ich
stundenlang  auf den Bahnhöfen  und schaue  den Menschen zu, die fortreisen,
ankommen und zurückbleiben.  Das ist alles sehr unterhaltend. Ich  sitze da
und bin froh, daß ich lebe."
     Fabian  notierte seine Adresse und gab sie dem  alten Mann. "Heben  Sie
sich  den Zettel gut auf. Und wenn  Sie  mal ein Portier vorzeitig  von  der
Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie  können auf  meinem Sofa schlafen."  Der
alte  Herr las den Zettel  und fragte: "Was wird Ihre  Wirtin  dazu  sagen?"
Fabian zuckte die Achseln.
     "Wegen  meines Hustens brauchen  Sie sich nicht zu ängstigen",  meinte
der Alte. "Wenn  ich  nachts in den dunklen Treppenhäusern  sitze, huste ich
überhaupt nicht. Ich nehme mich dann zusammen, um die Hausbewohner  nicht zu
erschrecken.  Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen, ich
war später  ein reicher Mann,  ich bin  jetzt wieder  ein armer  Teufel,  es
spielt keine Rolle. Wie's kommt,  wird's  gefressen.  Ob mich die Sonne  auf
meiner Terrasse in Leoni bescheint oder hier auf dem Kreuzberg, das ist  mir
so egal wie der Sonne."  Der  alte Herr hustete und  streckte die Beine weit
von sich. Fabian stand auf und sagte, er müsse weiter.
     "Was sind Sie eigentlich von Beruf?" fragte der Erfinder. "Arbeitslos",
erwiderte  Fabian und  schritt  einer  Allee  zu, die  in  die Straßen
Berlins zurückführte.
     Als  er am Abend,  taumelig von dem vielstündigen  Marsch,  die Wohnung
betrat, wollte er sofort zu Cornelia  und ihr sein Malheur berichten.  Schon
die bloße Vorstellung  von  der  kommenden  Szene  rührte  ihn  tief.
Vielleicht hatte er auch Hunger.
     Frau Hohlfeld,  die Wirtin,  vereitelte  sein  Vorhaben.  Sie stand  im
Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war ihre Art, Labude
sei  da.  Labude  saß  in  Fabians  Zimmer  und  hatte  offensichtlich
Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu entschuldigen, weil er gestern nacht
ohne Gruß den  Tisch und das Lokal verlassen  habe. Faktisch wollte er
etwas ganz  anderes.  Er  wollte  wissen, wie  Fabian über die Sache mit der
Selow dachte.
     Labude war ein moralischer Mensch, und es  war immer schon sein Ehrgeiz
gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne  Fehler gleich ins reine zu
schreiben. Er hatte  als Kind niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für
Moral  war eine  Konsequenz  der Ordnungsliebe.  Die  Hamburger Enttäuschung
hatte sein privates Ordnungssystem  und  in der Folge  seine Moral lädiert.
Der seelische Stundenplan war  gefährdet. Dem Charakter fehlte das Geländer.
Nun kam er, der die  Ziele liebte und brauchte, zu Fabian,  dem Fachmann der
Planlosigkeit. Er hoffte, von  ihm  zu  lernen, wie man Unruhe  erfahren und
trotzdem ruhig bleiben kann.
     "Du siehst schlecht aus", sagte Fabian.
     "Ich habe die Nacht kein Auge  zugemacht", gestand der  Freund.  "Diese
Selow  ist  schwermütig  und  ordinär,  beides  in  einem  Atem.  Sie   kann
stundenlang auf dem Diwan  sitzen und Schweinereien vor sich hinmurmeln, als
bete sie  eine Litanei.  Es  ist nicht zum  Anhören.  Alkohol trinkt sie  in
solchen Mengen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann
fällt ihr wieder ein,  daß sie mit einem Mann allein  in  der  Wohnung
ist, und  man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei empfindet  sie
bestimmt nicht  wie eine normale Frau. Für lesbisch halte ich  sie aber auch
nicht. Ich glaube, obwohl das  komisch klingt,  sie ist homosexuell." Fabian
ließ den Freund reden.
     Und weil er sich über  nichts wunderte, wurde der andere ruhig. "Morgen
fahre ich auf zwei Tage nach Frankfurt", erzählte Labude noch, bevor er sich
verabschiedete. "Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine Initiativgruppe
einrichten. Inzwischen mag das Mädchen in  der Wohnung Nummer  Zwei bleiben.
Ihr ist's in den letzten  Monaten verdammt dreckig gegangen.  Sie soll  sich
mal ausschlafen. Auf Wiedersehen, Jakob." Dann ging er.
     Fabian betrat  Cornelias Zimmer. Was  würde sie zu der Kündigung sagen?
Aber Ruth Reiter, die  Bildhauerin, saß  da,  sah elend  aus,  war gar
nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und resümierte, was sie der Battenberg
ausführlich  schon berichtet  hatte.  Die kleine  Kulp war in  die  Charité
gebracht worden. Sie hatte innere Verletzungen davongetragen,  und Wilhelmy,
der  Todeskandidat mit  dem Holzbein,  lag seit  gestern  nacht  im Atelier,
kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit dem Sterben.
     Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und  Bestecke aus  ihrem  Koffer
geholt, etwas zum Essen  besorgt und den Tisch  hübsch  garniert. Sogar eine
weiße  Decke  und ein Blumenstrauß  waren  vorrätig. Die  Reiter
sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe sie  es vergesse: ob  denn niemand wisse, wo
der junge Labude wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war.
Sie hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und  durch Fabian
Labudes Wohnung  zu erfahren, da ihr  das  Personal der Grunewaldvilla keine
Auskunft hatte geben können.  "Ich weiß, wo er wohnt", meinte  Fabian.
"Außerdem hat er bis  vor  wenigen Minuten nebenan  in meinem  Zimmer
gesessen. Die Adresse darf ich nicht sagen."
     "Er  war hier?" rief  die  Bildhauerin.  "Auf  Wiedersehen!" Sie rannte
davon.
     "Ihr fehlt die Selow", sagte Cornelia.
     "Ihr fehlt die schlechte Behandlung", sagte Fabian.
     "Mir nicht." Sie küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er
ihre Vorbereitungen zum Abendessen bewundere.
     "Gefällt dir das?" fragte sie.
     "Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir  immer,
wenn es etwas zum Bewundern gibt. Hast du etwa ein neues Kleid an? Kenne ich
diese Ohrringe schon? Trugst du auch gestern  den Scheitel in der Mitte? Was
mir gefällt,  merke ich  nicht.  Du mußt  mich  mit  der  Nase  darauf
stoßen."
     "Du hast  nichts  als Fehler", rief sie. "Jeden einzelnen deiner Fehler
könnte  ich  hassen,  alle miteinander  habe ich  lieb." Während  des Essens
erzählte sie, daß  sie  morgen  ihren Posten  antreten  solle. Sie war
heute   einer  Reihe  von  Kollegen,  Dramaturgen,  Produktionsleitern   und
Direktoren vorgestellt  worden  und beschrieb das  merkwürdige, weitläufige
Haus, in dem bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz
in  die  andere stürzten und der  Entwicklung  des Tonfilms  das Leben sauer
machten. Fabian  verschob die Mitteilung  auf später. Als sie  mit dem Essen
fertig waren, stellte sie einen Teller mit zwei belegten Broten beiseite und
sagte lächelnd: "Die eiserne Ration."
     "Du bist rot geworden", rief er.
     Sie nickte. "Manchmal merkst du also  doch, wenn es etwas zum Bewundern
gibt."
     Er schlug einen  kleinen Spaziergang vor. Sie zog sich an. Er überlegte
inzwischen,   wie  er  ihr  die  Kündigung  beibringen   wollte.  Aber  der
Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem Haus standen, hustete jemand
hinter ihnen, und ein fremder Mann wünschte guten Abend. Es war der Erfinder
mit der Pelerine.  "Die Beschreibung, die Sie  mir  von Ihrem  Sofa  gegeben
haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen  und Dachböden
verdorben",  erzählte er.  "Ich habe  um die Yorckstraße einen  Bogen
gemacht  und  bin  hierhergekommen.   Eigentlich  mache  ich  mir  Vorwürfe,
daß  ich  Sie  behellige,  denn   schließlich  sind  Sie  selber
arbeitslos."
     "Arbeitslos bist du?" fragte Cornelia.  "Ist das wahr?"  Der alte  Herr
entschuldigte  sich  umständlich,  er  habe  gedacht,  die junge  Dame wisse
Bescheid.
     "Heute morgen hat  man mir gekündigt."  Fabian ließ Cornelias Arm
los. "Zum Abschied bekam  ich zweihundertsiebzig  Mark in die Hand gedrückt.
Wenn  ich meine Miete  vorausbezahlt habe, bleiben uns  noch  hundertneunzig
Mark. Gestern hätte ich darüber gelacht." Als sie den alten Herrn  aufs Sofa
gepackt  und  ihm die Stehlampe danebengestellt  hatten, denn  er  wollte an
seiner geheimen Maschine  herumrechnen,  wünschten  sie  ihm gute  Nacht und
gingen in  Cornelias Zimmer. Fabian kam  noch einmal zurück  und brachte dem
Gast ein paar belegte Brote.
     "Ich verspreche, nicht zu husten", flüsterte der Alte.
     "Hier darf gehustet  werden. Ihr  Zimmernachbar geht  noch ganz anderen
Vergnügungen  nach, ohne daß  die Wirtin,  eine gewisse Frau Hohlfeld,
die es früher nicht  nötig gehabt hat,  deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie
wir's morgen früh machen, weiß  ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre
Möbel  reizend, und daß  ein  Fremder die ganze Nacht  auf  ihrem Sofa
biwakiert, würde  sie  ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich  wecke  Sie
morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passendes einfallen."
     "Gute  Nacht,  junger  Freund",  bemerkte  der  Alte  und  holte  seine
kostbaren Papiere aus der Tasche. "Empfehlen Sie mich dem Fräulein Braut."
     Cornelia schien  so  glücklich, daß  Fabian  sich wunderte.  Eine
Stunde  später fraß sie bereits die eiserne Ration  auf. "Ach, ist das
Leben schön!" sagte sie. "Wie denkst du über die Treue?"
     "Kau  erst fertig,  bevor  du so  große  Worte  aussprichst!"  Er
saß  neben  ihr,  hielt  seine Knie  umschlungen und blickte  auf  das
ausgestreckte Mädchen nieder. "Ich glaube, ich warte nur auf die Gelegenheit
zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich wäre dafür verdorben."
     "Das  ist  ja eine Liebeserklärung", sagte  sie leise. "Wenn  du  jetzt
heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!" sagte er.
     Sie kugelte aus dem Bett,  zog ihren kleinen  rosafarbenen Schlüpfer an
und stellte  sich vor  Fabian hin. Sie lächelte  unter Tränen.  "Ich heule",
murmelte sie. "Nun halte auch du dein Versprechen." Dann bückte sie sich. Er
zog sie aufs Bett. Sie  sagte:  "Mein  Lieber, mein  Lieber! Mach dir  keine
Sorgen."
     ZWÖLFTES KAPITEL
     Der Erfinder im Schrank
     Nicht arbeiten ist eine Schande
     Die Mutter gibt ein Gastspiel
     Als er am  nächsten Morgen  den  Erfinder  wecken wollte, war der schon
aufgestanden, gewaschen und angezogen, saß am Tisch und rechnete.
     "Haben Sie gut geschlafen?"
     Der alte Mann war vorzüglicher Laune und  schüttelte ihm die Hand. "Das
geborene Schlafsofa", sagte er und  streichelte  die  braune  Sofalehne, als
handle sich's um einen Pferderücken. "Muß ich jetzt verschwinden?"
     "Ich  will Ihnen einen Vorschlag machen", meinte Fabian. "Während  ich
bade, bringt die Wirtin  das Frühstück  ins  Zimmer, und  da darf sie Ihnen
nicht begegnen, sonst gibt's Krach. Wenn sie wieder draußen ist,  sind
Sie mir  wieder  willkommen.  Dann  können Sie ruhig  noch ein  paar Stunden
hierbleiben. Ich werde Sie allerdings allein lassen, weil ich mich um Arbeit
kümmern muß." "Das macht nichts", erklärte der Alte. "Ich werde in den
Büchern  blättern,  wenn  Sie  erlauben.  Wohin  gehe  ich aber, während Sie
baden?"
     "Ich  dachte,  in   den  Schrank",  sagte  Fabian.  "Der  Schrank   als
Wohnstätte,  das war bis heute ein Privileg der Ehebruchslustspiele. Brechen
wir  mit der  Tradition,  verehrter  Gastfreund!  Ist Ihnen  mein  Vorschlag
angenehm?"
     Der Erfinder öffnete den Schrank, blickte skeptisch hinein und fragte:
"Pflegen Sie sehr  lange zu baden?" Fabian beruhigte ihn,  schob den zweiten
Anzug, den er besaß, beiseite und hieß  den Gast einsteigen. Der
alte  Herr nahm seine Pelerine um, setzte den Hut auf,  klemmte  den  Schirm
unter den  Arm  und kroch in  den Schrank, der in allen  Fugen krachte. "Und
wenn sie mich hier findet?"
     "Dann ziehe ich am Ersten aus."
     Der  Erfinder  stützte  sich  auf den  Schirm,  nickte und sagte:  "Nun
scheren  Sie sich in die Wanne!"  Fabian schloß  den Schrank  zu, nahm
vorsichtshalber den Schlüssel an sich und rief im Korridor: "Frau  Hohlfeld,
das Frühstück!" Als er das Badezimmer betrat, saß schon Cornelia, über
und über eingeseift, in der Wanne und lachte. "Du mußt mir  den Rücken
abreiben", flüsterte sie. "Ich habe so entsetzlich kurze Ärmchen."
     "Die  Reinlichkeit wird mir zum  Vergnügen", bemerkte Fabian und seifte
ihr  den  Rücken.   Später  vergalt  sie  ihm  Gleiches  mit  Gleichem.  Zum
Schluß saßen  sich beide im  Wasser gegenüber und spielten hohen
Seegang.
     "Schrecklich", sagte er, "in meinem Schrank steht inzwischen der König
der Erfinder und wartet  auf seine Befreiung.  Ich muß mich beeilen."
Sie kletterten  aus  der  Wanne  und  frottierten  einander,  bis die  Haut
brannte. Dann trennten sie sich.
     "Auf Wiedersehen am Abend", flüsterte sie.
     Er  küßte sie. Er verabschiedete sich  von ihren Augen, von ihrem
Mund und Hals, von jedem  Körperteil einzeln. Dann lief  er in sein Zimmer.
Das  Frühstück  war  eingetroffen. Er sperrte den Schrank auf. Der alte Herr
stieg  mit  steifen  Beinen  heraus  und  hustete  lange, um  das  Versäumte
nachzuholen.
     "Nun der zweite Teil der Komödie", sagte Fabian, ging  in den Korridor,
öffnete die Flurtür, schlug sie wieder zu und rief: "Großartig, Onkel,
daß du mich  mal besuchst. Tritt bitte näher!" Er komplimentierte  die
imaginäre Person ins Zimmer und  nickte dem verwunderten Erfinder  zu. "So,
nun  sind Sie offiziell eingetroffen. Nehmen Sie Platz. Hier ist eine zweite
Tasse."
     "Und Ihr Onkel bin ich außerdem."
     "Verwandtschaftliche   Beziehungen    wirken   auf    Wirtinnen   immer
schmerzstillend", erläuterte Fabian. "Aber der Kaffee  ist gut. Darf ich mir
ein Brötchen nehmen?"  Der alte Herr begann den Schrank zu vergessen. "Wenn
ich nicht unter Kuratel  stünde,  machte ich  Sie  zu meinem Universalerben,
geehrter Herr Neffe", sagte er und aß mit großer Andacht.
     "Ihr   hypothetischer  Antrag  ehrt   mich",  entgegnete  Fabian.  Sie
stießen  auf  Drängen des  neuen  Onkels mit den  Kaffeetassen  an und
riefen: "Prost!"
     "Ich liebe  das  Leben", gestand der Alte und wurde fast verlegen. "Ich
liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manchmal könnte ich vor Freude
in  den Sonnenschein hineinbeißen, oder in die Luft,  die in den Parks
weht. Wissen Sie, woran das liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das
heute?  Niemand denkt an  den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen
wie    von   einem   Eisenbahnzusammenstoß    oder    einer   anderen
unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen geworden. Ich denke
täglich an  ihn,  denn täglich  kann er  winken. Und  weil ich an ihn denke,
liebe ich das Leben. Es ist eine herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich
sachverständig."
     "Und die Menschen?"
     "Der Globu