s hat die Krätze", knurrte der Alte.
     "Das Leben lieben und zugleich die Menschen  verachten, das geht selten
gut  aus",  sagte Fabian und  stand auf. Er verließ den Gast, der noch
immer Kaffee trank, bat  Frau Hohlfeld, den Onkel nicht zu  stören, und ging
zum Arbeitsamt seines Bezirks.
     Nachdem  er  drei  Beamte absolviert  hatte, das heißt nach  zwei
Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Ort sei und  sich an eine westliche
Filiale zu wenden  habe,  die speziell für  Büroangestellte bestimmt war. Er
fuhr mit  dem Autobus zum Wittenbergplatz und ging  in das angegebene Lokal.
Die Auskunft war falsch gewesen. Er geriet mitten in eine Schar arbeitsloser
Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen und Stenotypistinnen und erregte, als
einziger männlicher Besucher, die größte Aufmerksamkeit.
     Er  zog  sich  zurück, trat  auf  die Straße  und  fand, ein paar
Hausnummern  weiter, einen Laden, der wie das  Geschäft eines  Konsumvereins
aussah,  jetzt aber eben jene Filiale des Arbeitsamtes darstellte, in der er
sich melden sollte. Hinter dem  ehemaligen Ladentisch saß ein Beamter,
davor  standen, in langer Kette, erwerbslose Angestellte, legten, einer nach
dem  anderen,  die   Stempelkarte  vor  und   erhielten  den  erforderlichen
Kontrollvermerk.
     Fabian war erstaunt, wie sorgfältig diese Arbeitslosen gekleidet waren,
manche  konnten geradezu  elegant genannt  werden,  und wer ihnen  auf  dem
Kurfürstendamm   begegnet  wäre,   hätte   sie   fraglos   für   freiwillige
Müßiggänger gehalten. Vermutlich verbanden die Leute den morgendlichen
Gang   zur    Stempelstelle   mit   einem   Bummel   durch   die   vornehmen
Geschäftsstraßen.  Vor den Schaufenstern stehen  zu  bleiben, kostete
noch immer nichts, und wer wollte  erkennen, ob sie nichts  kaufen  konnten,
oder ob sie es nur  nicht wollten? Sie trugen ihre Feiertagsanzüge, und sie
taten recht daran, denn wer hatte so viele Feiertage wie sie?
     Ernst  und  auf  Haltung  erpicht, standen  sie in Reih und  Glied  und
warteten, bis  sie ihre Stempelkarte wieder  einstecken durften. Dann gingen
sie hinaus, als verließen sie eine zahnärztliche Klinik.
     Manchmal  schimpfte  der  Beamte  und  legte eine  Karte beiseite.  Ein
Gehilfe  trug  sie  in  den Nebenraum. Dort thronte  ein  Inspektor  und zog
unregelmäßige Besucher der Kontrollstelle  zur Rechenschaft. Von  Zeit
zu  Zeit trat eine Art von Portier aus der Tür und rief  einen Namen. Fabian
las die Druckschriften, die an den Wänden hingen. Es war verboten, Armbinden
zu tragen. Es  war verboten,  Umsteigebilletts der Straßenbahn von den
Erstinhabern  zu  übernehmen  und  weiter  zu  benutzen.  Es  war  verboten,
politische Debatten hervorzurufen und sich an ihnen  zu beteiligen. Es wurde
mitgeteilt, wo  man  für dreißig Pfennige ein ausgesprochen nahrhaftes
Mittagessen   erhalten    könne.   Es    wurde   mitgeteilt,   für   welche
Anfangsbuchstaben   sich  die  Kontrolltage  verschoben  hatten.  Es  wurde
mitgeteilt,   für  welche   Berufszweige   die   Nachweisadressen  und   die
Auskunftszeiten geändert worden waren. Es wurde mitgeteilt. Es war verboten.
Es war verboten. Es wurde mitgeteilt.
     Das  Lokal leerte  sich  allmählich.  Fabian legte  dem Beamten  seine
Papiere vor. Der Mann sagte, Propagandisten seien hier nicht  üblich, und er
empfehle Fabian,  sich  an  die  Stelle zu  wenden,  die für  freie  Berufe,
Wissenschaftler und Künstler zuständig sei. Er nannte die Adresse.
     Fabian fuhr mit dem Autobus bis zum Alexanderplatz. Es war fast Mittag.
Er  geriet  in der  neuen  Filiale in  eine sehr gemischte Gesellschaft. Den
Anschlägen entnahm er, daß  es sich möglicherweise um Ärzte, Juristen,
Ingenieure, Diplomlandwirte und Musiklehrer handelte. "Ich bin jetzt bei der
Krisenfürsorge", sagte  ein kleiner  Herr. "Ich kriege 24,50 Mark. Auf jeden
Kopf meiner Familie kommen in  der Woche  2,72 Mark, und auf einen Tag  für
einen Menschen 38 Pfennige. Ich habe es in meiner chronischen Freizeit genau
ausgerechnet. Wenn das so weitergeht, fange ich nächstens an, einzubrechen."
     "Wenn  das  so leicht wäre", seufzte  sein  Nachbar,  ein kurzsichtiger
Jüngling. "Sogar Stehlen will gelernt  sein. Ich habe ein Jahr im  Gefängnis
gesessen. Also, es gibt erfreulichere Milieus."
     "Es ist  mir egal, wenigstens vorher", erklärte der kleine Herr erregt.
"Meine  Frau  kann den Kindern  nicht  mal  ein  Stück  Brot in  die  Schule
mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit an."
     "Als ob Stehlen  Sinn hätte",  sagte ein großer,  breiter Mensch,
der am Fenster lehnte. "Wenn der Kleinbürger nichts zu fressen hat, will  er
gleich   zum   Lumpenproletariat  übergehen.   Warum   denken   Sie   nicht
klassenbewußt, Sie kleine  häßliche Figur? Merken Sie noch immer
nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie die politische Revolution vorbereiten."
     "Bis dahin sind meine Kinder verhungert."
     "Wenn man Sie einsperrt, weil Sie geklaut haben, verhungern Ihre werten
Herren Kinder  noch rascher",  sagte der Mann  am Fenster.  Der kurzsichtige
Jüngling  lachte  und  schaukelte  entschuldigend mit  der Schulter.  "Meine
Sohlen  sind völlig  zerrissen", sagte der kleine Herr. "Wenn ich  jedesmal
hierherlaufe, sind die Schuhe in  einer Woche  hin, und zum Fahren  habe ich
kein Geld."
     "Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?" fragte der Kurzsichtige.
     "Ich habe so empfindliche Füße", erklärte der kleine Herr.
     "Hängen Sie sich auf!" meinte der Mann am Fenster.
     "Er hat einen so empfindlichen Hals", sagte Fabian.
     Der Jüngling hatte ein paar Münzen auf den Tisch gelegt und zählte sein
Vermögen.    "Die    Hälfte   des   Geldes    geht   regelmäßig    für
Bewerbungsschreiben drauf.  Porto braucht  man.  Rückporto  braucht man. Die
Zeugnisse  muß  ich   mir  jede   Woche   zwanzigmal  abschreiben  und
beglaubigen lassen. Kein  Mensch  schickt  die Papiere  zurück. Nicht einmal
Antwort  erhält man.  Die Bürofritzen  legen  sich  vermutlich  mit  meinem
Rückporto Briefmarkensammlungen an."
     "Aber die Behörden tun, was sie tun können", sagte der Mann am Fenster.
"Unter anderem haben  sie  Gratiszeichenkurse für  Arbeitslose eingerichtet.
Das  ist  eine wahre  Wohltat, meine Herren.  Erstens  lernt  man  Äpfel und
Beefsteaks malen, und zweitens wird  man davon satt. Die Kunsterziehung  als
Nahrungsmittel."
     Der  kleine Herr,  dem  jeder  Humor abhanden gekommen zu  sein schien,
sagte bedrückt: "Das nützt mir gar nichts. Ich bin nämlich Zeichner."
     Dann ging ein Beamter durch den Warteraum, und Fabian  erkundigte sich,
vorsichtig  geworden, ob er  Aussicht habe, hier  abgefertigt zu werden. Der
Beamte fragte nach dem Ausweis des regionalen Arbeitsamts.
     "Sie haben sich noch nicht gemeldet? Das müssen Sie vorher erledigen."
     "Jetzt  geh ich wieder dorthin,  wo  ich vor fünf  Stunden  die Tournee
begonnen habe", sagte Fabian. Aber der Beamte war nicht mehr da.
     "Die Bedienung ist zwar höflich", meinte der Jüngling,  "aber daß
die Auskünfte immer stimmen, kann kein Mensch behaupten."
     Fabian fuhr mit dem Autobus zum Arbeitsamt seines Wohnbezirks. Er hatte
bereits  eine  Mark Fahrgeld verbraucht und  blickte  vor Wut nicht aus dem
Fenster.
     Als  er ankam,  war  das Amt geschlossen. "Zeigen Sie  mal Ihre Papiere
her", sagte der Portier. "Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein." Fabian
gab  dem  Biedermann  das  Zettelpaket:  "Aha", erklärte  der Türsteher nach
eingehender Lektüre. "Sie sind ja gar nichts arbeitslos." Fabian setzte sich
auf einen der bronzenen Meilensteine, welche die Einfahrt zierten.
     "Sie haben bis zum Monatsende gewissermaßen bezahlten Urlaub. Das
Geld haben Sie doch von Ihrer Firma erhalten?"
     Fabian nickte.
     "Dann kommen Sie  mal in vierzehn Tagen wieder", schlug der andere vor.
"Bis dahin können Sie es ja mit Bewerbungsschreiben probieren. Lesen Sie die
Stellenangebote  in  den Zeitungen. Viel Sinn hat es nicht, aber man soll's
nicht beschreien."
     "Glückliche Reise",  sprach Fabian,  nahm die  Papiere in  Empfang  und
begab  sich in den  Tiergarten, wo er ein paar Brötchen verzehren wollte. Zu
guter Letzt verfütterte er  sie aber an die Schwäne, die mit ihren Jungen im
Neuen See spazieren fuhren.
     Als  er gegen Abend das  Zimmer betrat, fand er  seine Mutter  vor. Sie
saß auf dem Sofa, legte ein Buch  beiseite und sagte: "Da  staunst du,
mein Junge."
     Man umarmte sich. Sie fuhr  fort: "Ich  mußte  nachsehen, was  du
machst.  Vater  paßt  inzwischen  auf, daß niemand ins  Geschäft
kommt. Ich hatte Sorgen  um  dich. Du beantwortest meine Briefe nicht  mehr.
Zehn Tage hast du nicht geschrieben. Es ließ mir keine Ruhe, Jakob."
     Er  setzte sich neben die Mutter,  streichelte ihre Hände und erklärte,
es gehe ihm gut.
     Sie betrachtete ihn prüfend. "Komme ich dir ungelegen?"
     Er schüttelte den Kopf. Sie  stand auf.  "Die Wäsche habe ich dir schon
in den Schrank geräumt.  Deine Wirtin  könnte mal reinemachen.  Ist sie noch
immer  zu fein  dazu? Was  denkst du, was ich mitgebracht habe." Sie öffnete
den Spankorb  und legte Pakete auf den Tisch. "Blutwurst",  sagte  sie, "ein
Pfund, aus der Breiten Straße, du weißt schon. Kaltes Schnitzel.
Leider  kann  man  hier  nicht in die  Küche, sonst würde  ich's  aufbraten.
Schinkenspeck. Eine halbe Salamiwurst. Tante Martha läßt grüßen.
Ich war gestern bei ihr im Garten. Ein paar Stück  Seife aus dem Laden. Wenn
das  Geschäft bloß nicht  so  schlecht  ginge. Ich  glaube,  die Leute
waschen sich nicht mehr. Und hier eine Krawatte, gefällt sie dir?"
     "Du bist so gut", sagte Fabian. "Aber du  sollst nicht so viel Geld für
mich ausgeben."
     "Quatsch mit Sauce", sagte die Mutter  und  legte die Eßwaren auf
einen Teller. "Sie mag uns ein bißchen Tee kochen, deine  Gnädige. Ich
hab's  ihr schon erzählt. Morgen abend  fahre  ich  zurück. Ich  bin mit dem
Personenzug gekommen. Die Zeit verging schnell. Ein Kind war im Abteil. Wir
haben viel gelacht. Was macht dein Herz? Du rauchst zu  viel? Überall stehen
leere Zigarettenschachteln herum."
     Fabian  sah der  Mutter  zu.  Sie hantierte vor lauter Rührung wie  ein
Gendarm.
     "Ich mußte gestern daran denken", sagte  er, "wie das damals war,
als ich im  Internat  steckte,  und  du  warst krank, und ich rannte  abends
davon,  über den Exerzierplatz, nur  um zu sehen, wie es dir ginge. Einmal,
das weiß  ich  noch, schobst du einen Stuhl vor dir  her und stütztest
dich darauf, sonst hättest du mir gar nicht öffnen können."
     "Du  hast  viel  durchgemacht  mit  deiner  Mutter",  sagte  sie.  "Man
müßte sich öfter sehen. Wie geht's in der Fabrik?"
     "Ich habe ihnen ein  Preisausschreiben vorgeschlagen. Daran  können sie
eine Viertelmillion verdienen."
     "Für zweihundertsiebzig Mark  im  Monat,  diese Bande." Die  Mutter war
empört. Dann klopfte es. Frau Hohlfeld brachte den Tee,  stellte das Tablett
auf den Tisch und sagte: "Ihr Onkel ist schon wieder da."
     "Dein Onkel?" fragte die Mutter erstaunt.
     "Ich habe mich schon gewundert", erklärte die Wirtin.
     "Hoffentlich haben Sie sich dabei keinen  Schaden getan, gnädige Frau",
erwiderte Fabian,  und Frau Hohlfeld  entfernte sich  gekränkt. Fabian holte
den Erfinder ins Zimmer und sagte: "Mama, das ist ein alter  Freund von mir.
Er  hat gestern auf dem Sofa  geschlafen,  und ich habe  ihn zu meinem Onkel
ernannt, um das Verfahren abzukürzen." Er wandte sich an den Erfinder. "Das
ist meine Mutter, lieber Onkel. Die beste Frau des Jahrhunderts.  Nehmen Sie
Platz.  Aus  dem  Sofa wird  heute  freilich nichts. Aber ich möchte Sie für
morgen einladen, wenn es Ihnen recht ist."
     Der alte Herr setzte sich, hustete, stülpte den Hut auf den Schirmknauf
und drückte Fabian ein  Kuvert in die Hand. "Stecken Sie das rasch ein", bat
er. "Es ist meine  Maschine. Man ist hinter mir her. Meine Familie will mich
wieder einmal ins Irrenhaus bringen. Sie hofft wahrscheinlich, mir dabei die
Notizen abzujagen und zu Geld zu machen."
     Fabian  steckte  den Briefumschlag  ein.  "Man  will  Sie ins Irrenhaus
sperren?"
     "Ich habe nichts dagegen", bemerkte der Alte. "Man hat seine Ruhe dort.
Der Park ist wundervoll. Der leitende Arzt ist ein erträglicher Kerl, selber
ein  bißchen  verrückt und spielt ausgezeichnet Schach. Ich war  schon
einmal dort.  Wenn mir's  zu dumm wird, rück  ich  wieder aus. Entschuldigen
Sie, meine Dame", sagte  er zu der Mutter. "Ich mache Ihnen Ungelegenheiten.
Erschrecken  Sie nicht, wenn man mich abholt.  Es wird gleich  klingeln. Ich
bin soweit.  Die  Papiere  sind gut  aufgehoben.  Verrückt bin  ich übrigens
nicht,  ich bin  meinen  werten Angehörigen zu  vernünftig.  Lieber  Freund,
schreiben Sie mir ein paar Zeilen nach Bergendorf in die Heilanstalt."
     Es klingelte.
     "Da  sind sie  schon",  rief  der Alte. Frau Hohlfeld  ließ  zwei
Herren eintreten.
     "Ich bitte, die Störung zu entschuldigen", sagte der eine und verbeugte
sich. "Vollmachten, die  Sie gern  einsehen können,  veranlassen mich, Herrn
Professor Kollrepp aus Ihrem Kreise  zu  entfernen. Unten wartet mein Auto."
"Wozu die Umstände, lieber Sanitätsrat? Sie sind dünner geworden. Ich merkte
es schon  gestern,  daß  ihr mir auf der Spur wart.  Tag, Winkler.  Da
wollen wir mal in Ihren Wagen klettern. Wie geht's meiner lieben Familie?"
     Der Arzt hob die Schultern.
     Der  Alte  ging  zum  Schrank  hinüber, öffnete  ihn,  sah  hinein  und
schloß die  Tür wieder. Dann trat er  zu  Fabian und nahm dessen Hand.
"Ich danke Ihnen  sehr."  Er schritt zur Tür. "Sie haben einen guten  Sohn",
sagte er zu der alten Frau. "Das kann nicht jeder von sich behaupten." Dann
verließ er das Zimmer. Der Arzt und der Wärter folgten ihm. Fabian und
seine Mutter blickten durchs  Fenster. Ein Auto stand vor dem Haus. Die drei
Männer traten aus  der Tür. Der Chauffeur half dem alten  Erfinder  in einen
Staubmantel. Die Pelerine wurde verstaut.
     "Ein komischer Mann", sagte die  Mutter, "aber verrückt ist  er nicht."
Das Auto fuhr davon. "Warum sah er eigentlich in den Schrank?"
     "Ich  habe  ihn heute früh in den  Schrank gesperrt,  damit  die Wirtin
nichts  merkte",  sagte  der  Sohn.  Die Mutter  goß  Tee  ein.  "Aber
leichtsinnig  ist es  trotzdem von dir, wildfremde Menschen hier schlafen zu
lassen. Wie schnell kann etwas passieren. Hoffentlich hat er deine Sachen im
Schrank nicht schmutzig gemacht."
     Fabian  schrieb sich die Adresse  der Irrenanstalt auf  das  Kuvert und
schloß es weg. Dann setzte er sich zum Essen. Nach dem Abendbrot sagte
er: "Komm,  mach dich fertig. Wir gehen  ins Kino." Während sich  die Mutter
anzog, besuchte er Cornelia und erzählte ihr, daß seine Mutter da sei.
Die Freundin war  müde und lag schon  im  Bett. "Ich schlafe, bis du aus dem
Kino  zurück bist", meinte sie. "Siehst du dann noch einmal zu mir  herein?"
Er versprach es.
     Der  Tonfilm,  den  Fabian  und seine Mutter  sahen, war  ein  albernes
Theaterstück,  das  in zwei  Dimensionen  verlief. Abgesehen davon war nicht
gespart worden, der vorgeführte Luxus überschritt  jede  Grenze. Man hatte,
obwohl dergleichen anstandshalber nicht gezeigt wurde,  den Eindruck, unter
den Betten stünden goldene Nachttöpfe. Die Mutter lachte wiederholt, und das
freute Fabian so sehr, daß er mitlachte.
     Nach Hause gingen sie zu Fuß. Die  Mutter war vergnügt. "Wenn ich
früher  so gesund gewesen  wäre wie heute,  mein  Junge, dann  hättest du es
besser gehabt", meinte sie nach einiger Zeit.
     "Es  war auch so nicht übel",  sagte  er. "Und  außerdem  ist  es
vorbei."
     Zu Hause  stritten sie sich  ein bißchen, wer im Bett und wer auf
dem  Sofa  schlafen solle. Endlich siegte Fabian. Die  Mutter bereitete  das
Sofa  zur Nacht. Er müsse  erst  einmal nebenan, sagte  er dann. "Dort wohnt
eine junge Dame, und ich bin mit ihr befreundet." Er verabschiedete sich für
alle Fälle, gab der Mutter einen Kuß und öffnete leise die Tür.
     Eine Minute später kam er wieder. "Sie schläft schon", flüsterte er und
bestieg sein Sofa.
     "Früher wäre das nicht möglich gewesen", bemerkte Frau Fabian.
     "Das hat ihre Mutter auch gesagt", meinte der Sohn und drehte sich nach
der Wand. Plötzlich, kurz vor  dem Einschlafen,  stand  er  noch einmal auf,
tappte durchs dunkle Zimmer, beugte sich  über das Bett und sagte wie einst:
"Schlaf gut, Muttchen."
     "Du auch",  murmelte  sie und öffnete die  Augen.  Er konnte  das nicht
sehen. Er tastete sich im Finstern zum Sofa zurück.
     DREIZEHNTES KAPITEL
     Das Kaufhaus und Arthur Schopenhauer
     Das reziproke Bordell
     Die zwei Zwanzigmarkscheine
     Am anderen  Morgen  wurde  er von  seiner  Mutter geweckt.  "Aufstehen,
Jakob! Du  kommst zu spät  ins Büro!" Er machte sich rasch fertig, trank den
Kaffee im Stehen und verabschiedete sich.
     "Ich  werde inzwischen Ordnung schaffen", sagte sie. "Sowas  von  Staub
überall. Und an deinem Mantel ist der Henkel abgerissen. Geh ohne Mantel. Es
ist  ja warm draußen." Fabian lehnte an  der Tür und  sah zu,  wie die
Mutter hantierte. Ihr aus Nervosität und Ordnungsliebe addierter Fleiß
wirkte anheimelnd. Das Zimmer war erfüllt  davon, es erinnerte  plötzlich an
zu Hause. "Daß du dich ja nicht fünf Minuten hinsetzt und die Hände in
den Schoß legst", warnte er.
     "Wäre  es nicht schöner, wenn ich jetzt Zeit hätte? Wir  könnten in den
Tiergarten  gehen. Oder ins Aquarium. Oder wir blieben hier, und du  würdest
mir wieder einmal davon erzählen, wie  komisch ich als Kind war. Als ich die
Bettstelle mit der Stecknadel zerkratzte und dich dann bei der Hand nahm, um
dir  das herrliche  Gemälde  zu  zeigen.  Oder  als ich dir  zum  Geburtstag
weißen  und schwarzen Zwirn und ein  Dutzend Nähnadeln und Druckknöpfe
schenkte."
     "Und ein Heft Stecknadeln und weiße und schwarze Nähseide. Es ist
mir  noch wie heute", sagte die Mutter  und  strich sein Jackett glatt. "Der
Anzug müßte gebügelt werden."
     "Und eine Frau müßte ich haben und sieben  kleine ulkige Kinder",
ergänzte er in  weiser  Voraussicht. "Scher  dich an die Arbeit!" Die Mutter
stemmte  die Arme  in  die Hüften. "Arbeiten ist gesund. Übrigens, ich  hole
dich am Nachmittag vom Büro ab.  Ich warte vor der Tür. Dann bringst du mich
zum Bahnhof."
     "Es ist sehr schade, daß du nur einen Tag bleiben kannst." Er kam
noch einmal zurück.
     Die Mutter sah ihn nicht an.  Sie machte sich am Sofa zu schaffen. "Ich
hielt  es drüben  nicht  mehr aus", murmelte  sie.  "Aber  nun  geht's schon
wieder, du mußt nur länger schlafen, und du darfst das  Leben nicht zu
schwer nehmen, mein Junge. Es wird dadurch nicht leichter."
     "Nun gehe ich aber, sonst komme ich wirklich noch zu spät", sagte er.
     Sie blickte  ihm vom  Fenster aus nach und nickte. Er winkte und lachte
und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen war. Dann verlangsamte er
den  Schritt  und blieb schließlich stehen. Ein hübsches Versteckspiel
trieb er da  mit der alten Frau! Rannte auf und  davon,  obwohl er nichts zu
tun  hatte. Ließ sie  da oben  allein in  dem fremden, häßlichen
Zimmer, obwohl  er  wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit  ihm
Zusammensein  durfte,  bereit  war,  gegen  ein  ganzes  Jahr  ihres  Lebens
einzutauschen. Am Nachmittag würde  sie ihn vom Büro abholen. Er mußte
ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht wissen, daß er entlassen
war.  Der   Anzug,  den  er  trug,  war   der  einzige,   den  er  sich   in
zweiunddreißig Jahren selber gekauft  hatte. Ihr Leben lang hatte  sie
deswegen geschuftet und gespart. Sollte das denn nie ein Ende nehmen?
     Weil  es zu regnen anfing, ging er  im Kaufhaus des Westens  spazieren.
Kaufhäuser   sind,   obwohl   das  gar   nicht  in   ihrer   Absicht  liegt,
außerordentlich  geeignet,  Leuten,  die kein  Geld und  keinen Schirm
haben,  Unterhaltung  zu  bieten.  Er höre einer  Verkäuferin  zu, die  sehr
gewandt  Klavier  spielte. Aus  der Lebensmittelabteilung  vertrieb  ihn der
Fischgeruch, den  er  seit  seiner  Kindheit,  vielleicht  auf  Grund  einer
embryonalen Erinnerung, nicht ausstehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm
ein junger Mann unbedingt einen  großen Kleiderschrank verkaufen.  Das
Stück  sei  preiswert, die Gelegenheit unwiederbringlich. Fabian entzog sich
der  unerhörten Zumutung  und wanderte in  die Buchabteilung. Er  geriet an
einem  der  Antiquariatstische  über  einen Auswahlband von  Schopenhauer,
blätterte und las sich fest. Der Vorschlag  dieses verbiesterten  Onkels der
Menschheit, Europa  mit  Hilfe einer indischen Heilpraxis  zu veredeln,  war
freilich  eine Kateridee, wie bisher  alle positiven Vorschläge, ob  sie nun
von Philosophen des neunzehnten oder  von Nationalökonomen  des zwanzigsten
Jahrhunderts stammten.  Aber  davon  abgesehen war der Alte unübertrefflich.
Fabian fand eine typologische Erörterung und las:
     "Eben  dieser  Unterschied  ist  es,  den  Plato  durch  die  Ausdrücke
̉έυχολος                         und
δύσχολος    bezeichnete.   Derselbe
läßt  sich  zurückführen  auf  die  bei  verschiedenen  Menschen  sehr
verschiedene  Empfänglichkeit  für  angenehme  und  unangenehme  Eindrücke,
infolge  welcher der  eine noch lacht bei  dem,  was  den  anderen fast  zur
Verzweiflung  bringt,  und  zwar  pflegt die Empfänglichkeit  für  angenehme
Eindrücke  desto schwächer zu sein, je stärker sie  für unangenehme ist, und
umgekehrt. Nach  gleicher  Möglichkeit  des  glücklichen  und unglücklichen
Ausgangs          einer           Angelegenheit           wird           der
δύσχολος bei dem unglücklichen  sich
ärgern  oder  grämen,  bei  dem  glücklichen  sich  aber nicht  freuen;  der
̉έυχολος   hingegen  wird  über  den
glücklichen            sich            freuen.           Wenn            dem
δύσχολος  von   zehn  Vorhaben  neun
gelingen,  so freut  er  sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das
eine  mißlungene: der ̉έυχολος
weiß,  im  umgekehrten  Fall, sich  doch  mit dem  einen gelungenen zu
trösten und aufzuheitern.
     Wie  nun aber  nicht leicht  ein Übel ohne alle Kompensationen ist, so
ergibt         sich         auch         hier,         daß         die
δύσχολοι,  also  die  finsteren  und
ängstlichen  Charaktere, im ganzen zwar imaginäre, dafür aber weniger  reale
Unfälle  und  Leiden  zu  überstehen  haben  werden  als  die  heiteren  und
sorglosen; denn wer alles schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und
demnach seine Vorkehrungen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben,
als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht."
     "Was darf ich Ihnen verkaufen?" fragte ein ältliches Fräulein.
     "Haben Sie baumwollene Socken?" fragte Fabian.
     Das  ältliche  Fräulein  betrachtete  ihn   entrüstet  und  sagte:  "Im
Erdgeschoß." Fabian legte das Buch auf den Tisch und stieg eine Treppe
abwärts. Hatte Schopenhauer  damit recht, daß er, gerade er, jene zwei
menschlichen  Gattungen  als  einander ebenbürtig  gegenüberstellte?  Hatte
nicht  gerade  er  in seiner Psychologie behauptet:  die  Lustempfindung sei
nichts anderes als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in diesem Satz
die Anschauung  der  δύσχολοι  wider
besseres   Wissen  verabsolutiert?   In  der  Abteilung  für  Porzellan  und
keramisches  Kunstgewerbe  war  ein  Auflauf.  Fabian  trat  hinzu.  Käufer,
Verkäuferinnen und  Bummler umstanden  ein kleines verheultes Mädchen, das
zehn  Jahre sein mochte, einen Schulranzen trug  und ärmlich  angezogen war.
Das  Kind  zitterte  am ganzen Körper  und  blickte  entsetzt in die  bösen,
aufgeregten Gesichter der Erwachsenen ringsum. Der Abteilungschef  kam. "Was
ist los?"
     "Ich habe das freche Ding erwischt,  wie es einen Aschenbecher stahl",
erklärte eine alte  Jungfer.  "Hier!" Sie hob eine  kleine bunte Schale hoch
und zeigte sie dem Vorgesetzten.
     "Marsch zum Direktor!" kommandierte der Cutaway.
     "Jugend von heute", sagte eine aufgetakelte Gans.
     "Marsch zum  Direktor!"  rief eine  der  Verkäuferinnen und packte  die
Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr.
     Fabian schob sich durch die Versammlung. "Lassen Sie auf der Stelle das
Kind los!"
     "Erlauben Sie mal", meinte der Abteilungsleiter.
     "Was fällt Ihnen ein, sich einzumischen?" fragte jemand. Fabian gab der
Verkäuferin   einen  Klaps  auf   die   Finger,  daß  sie   das   Kind
losließ, dann zog er das kleine Mädchen an seine Seite. "Warum hast du
denn  ausgerechnet einen Aschenbecher  weggenommen?" fragte er. "Rauchst  du
schon Zigarren?"
     "Ich hatte kein Geld", sagte  das  Mädchen. Dann hob  es  sich  auf die
Zehenspitzen. "Mein Papa hat heute Geburtstag."
     "Einfach  stehlen,  weil  man kein Geld  hat.  Es  wird immer schöner",
bemerkte die aufgetakelte Gans. "Schreiben Sie uns einen Kassenzettel  aus",
sagte Fabian zu der Verkäuferin. "Wir behalten den Aschenbecher."
     "Das  Kind  verdient  aber Strafe",  behauptete der  Abteilungsleiter.
Fabian trat auf  den Mann zu. "Wenn  Sie sich  meinem Vorschlag  widersetzen
wollen, schmeiße ich Ihnen den ganzen Porzellanladen kaputt."
     Der Cutaway zuckte  mit  den Schultern,  die  Verkäuferin schrieb einen
Zettel aus  und  brachte den Aschenbecher zur Auslieferung. Fabian ging  zur
Kasse, zahlte und nahm das Päckchen in Empfang.  Dann begleitete er das Kind
bis  zum  Ausgang.  "Hier  hast  du deinen  Aschenbecher",  sagte  er. "Aber
paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein kleiner
Junge, der kaufte  einen  großen  Kochtopf,  um ihn seiner  Mutter am
Heiligen Abend zu schenken. Als es soweit war, nahm er den Topf in die Hand
und  segelte  durch  die   halb  offene  Tür.  Der   Christbaum  schimmerte
großartig. "Da, Mutter, da hast du..." sagte er und  wollte sagen: "Da
hast du den Topf." Es gab aber einen Krach,  der Topf zerbrach  an  der Tür.
"Da, Mutter, da hast du den  Henkel", sagte der Junge nun, denn er hatte nur
noch den Henkel in der Hand."
     Das kleine  Mädchen sah zu ihm auf,  hielt das Paket  mit beiden Händen
fest und meinte: "Mein Aschenbecher  hat ja gar keinen Henkel." Sie knickste
und lief fort. Dann drehte sie sich noch einmal um, rief: "Danke schön!" und
verschwand.
     Fabian trat  auf  die  Straße. Es regnete  nicht mehr. Er stellte
sich an  die Bordschwelle  und sah den Autos zu.  Ein Wagen hielt. Eine alte
Dame,  mit  Paketen behangen,  schob sich schwerfällig vom Sitz  und  wollte
aussteigen.  Fabian öffnete  den Wagenschlag, half der Dame vom  Trittbrett,
zog höflich den Hut und trat zur Seite. "Da!" sagte jemand neben ihm. Es war
die  alte Dame.  Sie drückte ihm  etwas  in die  Hand,  nickte und  ging ins
Kaufhaus. Fabian machte  die  Hand auf.  Er hielt einen  Groschen.  Er hatte
unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er bereits wie ein Bettler aus?
     Er steckte  die Münze  ein, trat trotzig an  den Straßenrand  und
öffnete einen zweiten Wagen.  "Da!"  sagte jemand  und gab  ihm wieder einen
Groschen. "Das wächst sich zu einem Beruf aus", dachte Fabian und hatte eine
Viertelstunde später  fünfundsechzig Pfennig verdient.  "Wenn jetzt  Labude
vorbeikäme  und  den  literarhistorisch  vorgebildeten   Autoöffner  sähe",
überlegte er. Aber der Gedanke erschreckte  ihn nicht. Nur der Mutter hätte
er nicht begegnen mögen und auch Cornelia nicht. "Eine milde Gabe gefällig?"
fragte eine Frau und gab ihm ein größeres Geldstück. Es war Frau Irene
Moll.  "Ich habe  dich  lange  Zeit  beobachtet, mein Junge",  sagte sie und
lächelte schadenfroh.  "Wir begegnen einander, wo wir können. Geht's dir  so
dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines Mannes ablehntest, und
auch die  Schlüssel hättest du behalten  können. Ich wartete darauf, dich in
meinem Bett wiederzusehen. Deine Zurückhaltung  macht  sinnlich. Hier, hilf
mir die Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon."
     Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam.
     "Was  kann  ich  für  dich  tun?"  fragte  sie  nachdenklich. "Stellung
eingebüßt, was? Ich  bin nicht nachtragend. Auf Moll  ist leider nicht
mehr zu zählen.  Er ist zu Schiff nach Frankreich oder sonstwohin. Und jetzt
wohnt die Kriminalpolizei bei uns. Moll hat die seinem Notariat übergebenen
Gelder unterschlagen. Seit Jahren schon,  nie hätte ich  ihm  das zugetraut.
Wir haben ihn unterschätzt." "Wovon leben Sie denn nun?" fragte Fabian.
     "Ich  habe eine  Pension  eröffnet.  Große  Wohnungen  sind jetzt
billig. Die  Möbel hat mir ein alter  Bekannter geschenkt, das heißt,
die Bekanntschaft ist jung, der Bekannte ist alt. Ihm  gehören nur ein paar
Gucklöcher in den Türen."
     "Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?"  "Junge Männer, mein
Herr.   Wohnung  und  Verpflegung  gratis.   Außerdem   erhalten   sie
dreißig Prozent der Einnahmen."
     "Welche Einnahmen?"
     "Mein  Verein   unchristlicher  Männer  wird  von   Damen  der   besten
Gesellschaft mit wahrer  Leidenschaft  frequentiert.  Die Damen  sind  nicht
immer schön und schlank, und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein
Mensch. Aber sie haben Geld. Und wieviel  ich auch verlange, sie zahlen. Und
wenn sie  vorher ihre  Herren Ehemänner bestehlen oder ermorden sollten, sie
kommen. Meine Pensionäre  verdienen. Der Möbelhändler  sieht  zu. Die  Damen
gehen ihren  Passionen  nach.  Drei junge Leute  sind  mir  schon  abgekauft
worden.  Sie  haben  beträchtliche  Einkünfte,  eigene  Wohnung  und  kleine
Freundinnen nebenher,  heimlich, versteht sich. Der  eine, ein Ungar,  wurde
von der  Frau eines  Industriellen  erworben. Er lebt wie ein Prinz. Wenn er
klug  ist,  hat  er  in  einem  Jahr  ein Vermögen.  Dann kann  er die alte
Schießbudenfigur abschaffen."
     "Also ein Männerbordell", sagte Fabian.
     "So  ein Institut hat  heute  viel  mehr Existenzberechtigung  als ein
Frauenhaus", erklärte  Irene  Moll. "Außerdem träumte  ich  schon als
junges Mädchen  davon, Besitzerin eines  solchen  Etablissements zu werden.
Ich  bin sehr  zufrieden.  Ich  habe Geld, ich engagiere fast  täglich  neue
Kräfte für  das Unternehmen,  und  jeder, der sich um  eine  Pensionärstelle
bewirbt, muß  bei  mir eine Art  Aufnahmeprüfung bestehen.  Ich  nehme
nicht jeden!  Wirkliche Talente sind selten. Naturbegabungen gibt  es  schon
eher. Ich werde Fortbildungskurse einrichten müssen."
     Sie  blieb  stehen.  "Ich  bin  angelangt."  Die Pension lag  in  einem
großen eleganten  Mietshaus.  "Ich  möchte dir einen Vorschlag machen.
Als Pensionär kommst  du nicht in Frage, mein Lieber. Du bist zu wählerisch,
du  bist  auch schon zu  alt für  die  Branche,  meine  Kundschaft bevorzugt
Zwanzigjährige. Außerdem leidest du an falschem Stolz. Ich könnte dich
als   Sekretär  verwenden.   Allmählich  wird  eine   geordnete  Buchführung
notwendig. Du  könntest in meinen Privaträumen arbeiten, wohnen  könntest du
auch dort. Wie denkst du darüber?"
     "Hier sind die Pakete", sagte  Fabian.  "Ich  möchte meinem  Brechreiz
nicht zuviel zumuten."
     In  diesem Augenblick kamen zwei junge Burschen aus dem Haus. Sie waren
schick angezogen, zögerten,  als  sie  Frau  Moll erblickten, und nahmen die
Hüte ab.
     "Gaston,  hast du heute Ausgang?" fragte sie.  "Mackie meinte, ich soll
mir mal das Auto  ansehen, das ihm Nummer Sieben versprochen hat. In zwanzig
Minuten bin ich wieder da."
     "Gaston,  du gehst sofort auf  dein  Zimmer.  Was ist das denn für eine
Wirtschaft? Mackie geht allein.  Marsch! Für drei Uhr hat  sich Nummer Zwölf
angemeldet. Bis dahin schläfst du, los!"
     Der junge Mann  ging  ins  Haus  zurück,  der  andere setzte,  nochmals
grüßend, seinen Weg fort.
     Frau Moll wandte sich Fabian zu. "Du willst wieder nicht?" Sie nahm ihm
die Pakete ab. "Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit. Die Adresse  weißt
du  nun.  Überlege  dir's.  Verhungern ist  Geschmackssache.  Außerdem
tätest  du  mir  einen  persönlichen  Gefallen. Wirklich.  Je  mehr  du dich
sträubst, um  so mehr reizt  mich der Gedanke.  Es eilt  nicht, Zeitvertreib
habe ich mittlerweile genug." Sie ging ins Haus.
     "Das grenzt an Zwangsläufigkeit", murmelte Fabian und kehrte um.
     Er aß in  einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu  las er
die  Zeitungen, die im Lokal aushingen,  und notierte sich  Stellenangebote.
Dann   kaufte   er   in  einem  muffigen  Papierladen  Schreibmaterial   und
verfaßte vier Bewerbungsschreiben. Als er sie in den Kasten  gesteckt
hatte,  fand  er,  es  sei  Zeit.  Und  er  pilgerte,  recht  müde,  zu  der
Zigarettenfabrik.
     "Sieht man Sie auch mal wieder?" fragte der Portier.
     "Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen", antwortete Fabian.
     Der Portier kniff ein Auge zu. "Verlassen Sie sich ganz auf mich."
     Es war Fabian peinlich,  daß der Mann die Komödie zu durchschauen
schien.  Er  ging  rasch  ins  Verwaltungsgebäude,  setzte   sich  in  eine
Fensternische und sah  alle fünf  Minuten auf  die  Uhr.  Sooft er  Schritte
hörte,  drückte er  sich dicht  an den  Fensterrahmen.  In zehn Minuten  war
Büroschluß.  Die Angestellten  hatten es  eilig.  Sie  bemerkten  ihn
nicht.
     Er wollte sein Versteck gerade verlassen,  als  er wieder  Schritte und
Stimmen vernahm, die sich näherten.
     "Ich  werde morgen in der Direktionssitzung von  dem  Preisausschreiben
berichten, das Sie  da  vorbereitet  haben, lieber  Fischer", sagte die eine
Stimme. "Der Vorschlag ist beachtlich, man wird Sie würdigen lernen."
     "Herr  Direktor  sind  sehr  gütig",   erwiderte  die   andere  Stimme.
"Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Fabian geerbt."
     "Erbmasse ist ein Besitz  wie  jeder andere, Herr Fischer!" Der Ton des
Direktors war unfreundlich. "Ist Ihnen mein Vorschlag unangenehm? Wäre Ihnen
eine Gehaltszulage so zuwider? Nun also!  Außerdem bedarf das  Projekt
einiger  Verbesserungen.  Ich  werde  gleich,  unter  Zugrundelegung  Ihres
Materials, ein  Expose in die Maschine diktieren. Glauben Sie  mir,  es wird
Effekt machen, unser Preisausschreiben. Sie  können jetzt nach Hause  gehen.
Sie haben es gut."
     "Meister muß sich  immer plagen. Von Schiller", bemerkte Fischer.
Fabian  trat aus  der  Nische.  Fischer sprang  erschrocken  einen  Schritt
zurück. Direktor Breitkopf fingerte im Kragen. "Ich  bin weniger überrascht
als Sie", sagte Fabian und ging zur Treppe.
     "Da kommt er ja schon", meinte der Portier, der sich mit Fabians Mutter
unterhielt. Sie hatte den Koffer abgestellt, die Reisetasche, die Handtasche
und  den  Schirm  auf  den  Koffer  gelegt und nickte  dem  Sohn zu. "Hübsch
fleißig  gewesen?"  fragte  sie.  Der Portier  lächelte  gutmütig  und
spazierte in seinen Verschlag.
     Fabian  gab  der Mutter  die Hand. "Wir  haben noch  eine halbe  Stunde
Zeit", sagte er und nahm  das  Gepäck auf.  Als sie  einen  Eckplatz im  Zug
belegt  hatten  (im  mittelsten  Wagen,  denn  Frau  Fabian   hielt  es  für
angebracht, die üblen Folgen eines etwaigen Eisenbahnunglücks von vornherein
zu reduzieren), bummelten sie vor dem Kupee auf und ab.
     "Nicht so  weit weg." Sie hielt den Sohn am Ärmel. "Wie leicht wird ein
Koffer gestohlen. Kaum dreht  man  sich um, fort ist  er." Schließlich
wurde Fabian mißtrauischer als die Mutter  und spähte unentwegt durchs
Fenster zum Gepäcknetz.
     "Nun kann's  wieder  abgehen", sagte sie.  "Der  Henkel vom  Mantel ist
angenäht.  Im  Zimmer  sieht's  wieder  menschlich aus.  Frau  Hohlfeld  ist
beleidigt. Darauf kann man aber keine Rücksicht nehmen."
     Fabian   lief   zu   einem  der  fahrbaren  Büfetts  und  brachte  eine
Schinkensemmel, eine Packung Keks und zwei Apfelsinen.
     "Junge,  bist du leichtsinnig", sagte  sie.  Er lachte,  kletterte  ins
Abteil,  schob ihr heimlich  einen Zwanzigmarkschein  in die Handtasche  und
kletterte wieder auf den Bahnsteig.
     "Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause  kommen?" fragte sie. "Ich
koche alle deine Lieblingsgerichte,  jeden Tag ein anderes, und wir gehen zu
Tante Martha in den Garten. Im Geschäft ist ja so wenig los."
     "Ich komme, sobald ich kann", versicherte er.
     Als sie aus dem Kupeefenster blickte, meinte sie: "Bleib recht  gesund,
Jakob. Und wenn's hier nicht vorwärts gehen will, pack dein Bündel und  komm
heim."
     Er nickte. Sie sahen einander an und lächelten, wie man auf Bahnsteigen
zu lachen pflegt, ähnlich wie beim Fotografen, nur daß weit und breit
kein Fotograf zu sehen ist. "Laß  dir's gutgehen",  flüsterte er.  "Es
war schön, daß du da warst."
     Auf  dem Tisch standen Blumen. Ein Brief  lag daneben. Er  öffnete ihn.
Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und  ein Zettel. "Wenig  mit Liebe, Deine
Mutter", war  daraufgeschrieben.  In  der  unteren  Ecke war noch  etwas zu
lesen.  "Iß  das  Schnitzel   zuerst.  Die  Wurst  hält  sich  in  dem
Pergamentpapier mehrere Tage."
     Er  steckte den  Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die  Mutter  im
Zug, und bald mußte sie den anderen  Zwanzigmarkschein finden, den er
ihr in  die Handtasche gelegt hatte.  Mathematisch gesehen  war das Ergebnis
gleich  Null. Denn nun besaßen  beide dieselbe Summe wie  vorher. Aber
gute Taten lassen sich  nicht stornieren. Die  moralische Gleichung verläuft
anders als die arithmetische.
     Am  selben  Abend bat ihn  Cornelia um  hundert Mark. Im  Korridor  des
Filmkonzerns sei ihr Makart  begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins
Gebäude  der  Konkurrenz gekommen.  Er hatte sie angesprochen.  Sie sei der
Typ, den er  schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht
sich. Sie solle ihn morgen im  Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der
Regisseur wären auch da. Vielleicht probiere man's mal mit ihr.
     "Ich  muß  mir über  Mittag  einen  neuen Jumper  und  einen  Hut
besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein  Geld mehr. Aber ich
kann mir  diese  Chance  nicht  entgehen lassen. Denke dir, wenn  ich  jetzt
Filmschau