spielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?"
     "Doch",  sagte  er  und  gab  ihr  seinen  letzten  Hundertmarkschein.
"Hoffentlich bringt dir das Glück." "Mir?" fragte sie.
     "Uns", korrigierte er ihr zu Gefallen.
     VIERZEHNTES KAPITEL
     Der Weg ohne Tür
     Fräulein Selows Zunge
     Die Treppe mit den Taschendieben
     In dieser Nacht träumte Fabian. Wahrscheinlich träumte er häufiger, als
er glaubte. Aber in dieser Nacht weckte ihn Cornelia, und so entsann er sich
des Traumes.  Wer hätte  ihn, vor  Tagen  noch, aus  seinen  Träumen  wecken
sollen? Wer hätte ihn mitten in der Nacht ängstlich rütteln sollen, bevor er
neben  Cornelia schlief? Er hatte  mit vielen Frauen und Mädchen geschlafen,
das war richtig, aber neben ihnen?
     Er  lief im Traum durch  eine  endlose Straße. Die  Häuser  waren
unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder
Fenster noch  Türen. Und  der  Himmel  war weit entfernt und fremdartig wie
über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er
sah, die Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie  zu  Ende
gehen.
     "Es hat keinen Zweck",  sagte da eine Stimme. Er  blickte sich um.  Der
alte  Erfinder  stand hinter ihm, in der  verschossenen  Pelerine,  mit  dem
schlechtgerollten Schirm und dem ergrauten steifen Hut.
     "Guten  Tag, lieber Professor", rief Fabian. "Ich dachte,  Sie wären im
Irrenhaus."
     "Hier ist es ja",  sagte der Alte und schlug mit der Schirmkrücke gegen
eines der Gebäude. Es hallte blechern,  dann ging  ein Tor  auf, wo  keines
war.
     "Meine neueste  Erfindung",  sagte  der Alte.  "Gestatten  Sie,  lieber
Neffe, daß ich  vorausgehe,  ich bin hier zu Hause." Fabian folgte. In
der Portierloge hockte Direktor Breitkopf, hielt sich den Bauch und stöhnte:
"Ich kriege ein Kind. Die Sekretärin hat sich wieder mal nicht vorgesehen."
Dann schlug er sich dreimal auf die Glatze, und das klang laut wie ein Gong.
     Der Professor steckte dem Direktor den schlechtgerollten Schirm tief in
den  Schlund  und spannte den Schirm auf. Breitkopfs Gesicht  zerplatzte wie
ein Ballon.
     "Verbindlichen Dank", sagte Fabian.
     "Nicht  der Rede  wert",  erwiderte  der  Erfinder.  "Haben  Sie  meine
Maschine schon gesehen?" Er nahm  Fabian an  der  Hand und  führte ihn durch
einen Gang, in dem bläuliches Neonlicht brannte, ins Freie.
     Eine Maschine,  groß wie  der  Kölner Dom, türmte sich  vor ihnen
auf.  Halbnackte Arbeiter  standen  davor,  mit  Schaufeln  bewaffnet,  und
schippten Hunderttausende von kleinen Kindern  in einen riesigen Kessel, in
dem ein rotes Feuer brannte.
     "Kommen  Sie an  das andere Ende", sagte  der Erfinder. Sie fuhren  auf
laufenden Bändern durch den grauen Hof.
     "Hier", sagte der alte Mann und zeigte in die Luft.
     Fabian blickte  empor. Gewaltige, glühende Bessemerbirnen senkten sich
nieder,  kippten  automatisch  um  und schüttelten  ihren Inhalt  auf  einen
horizontalen Spiegel. Der Inhalt war lebendig.  Männer und Frauen fielen auf
das glitzernde Glas, stellten sich gerade  und starrten wie gebannt  auf ihr
handgreifliches und  doch unerreichbares Abbild. Manche winkten in die Tiefe
hinunter, als  kennten sie sich. Einer zog eine  Pistole aus der Tasche und
schoß. Er traf,  obwohl  er,  gestrichen Korn,  seinem Bild  ins  Herz
gezielt hatte, seine wirkliche  große Zehe und verzog das Gesicht. Ein
anderer  drehte sich im  Kreise. Offensichtlich wollte  er seinem Abbild die
Kehrseite zuwenden, der Versuch mißlang.
     "Hunderttausend am Tag", erläuterte  der Erfinder. "Dabei habe ich die
Arbeitszeit verkürzt und die Fünftagewoche eingeführt."
     "Lauter Verrückte?" fragte Fabian.
     "Das ist eine Frage der Terminologie", antwortete der Professor. "Einen
Moment,  die Kupplung versagt." Er trat an die Maschine  heran und stocherte
mit seinem  Schirm  in einer Öffnung. Plötzlich verschwand der  Schirm, dann
verschwand die Pelerine,  sie zog  den  alten Mann  hinter sich her.  Er war
fort. Seine Maschine hatte ihn verschluckt.
     Fabian fuhr auf dem laufenden Band  zurück, quer durch den  grauen Hof.
"Es ist ein Unglück passiert!" schrie  er einem der halbnackten Arbeiter zu.
Da purzelte ein Kind aus dem Kessel. Es trug eine Hornbrille und hielt einen
schlechtgerollten Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die
Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück. Fabian fuhr von
neuem den Hof entlang  und wartete  unter  den schwankenden Bessemerbirnen,
daß sein alter Freund, erneut verwandelt, wiederkäme.
     Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selbst, ein  zweiter Fabian,
aber mit Pelerine,  Schirm  und  Hut, aus  einem der  gewaltigen Kippkästen,
stellte  sich zu  den anderen  Figuren und  starrte,  gleich ihnen,  auf die
Spiegelbilder. An seinen Sohlen, mit dem Kopf nach unten, hing sein Abbild,
ein dritter Fabian, im Spiegel  und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins
Gesicht.  Dieser  zeigte mit dem Daumen hinter  sich  auf die  Maschine  und
sagte: "Mechanische Seelenwanderung,  Patent Kollrepp." Dann schritt  er auf
den wirklichen Fabian  zu, der im Hof stand,  ging mitten  in ihn hinein und
war nicht mehr da.
     "Wie angegossen", gestand Fabian, nahm dem Maschinenmenschen,  der ihn
unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog die Pelerine zurecht und war wieder
das einzige Exemplar seiner selbst.
     Er blickte zu  dem glänzenden  Spiegel hinüber. Die Menschen versanken
plötzlich  darin  wie in einem durchsichtigen Sumpf. Sie rissen  die Münder
auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber es war nichts zu hören. Sie sanken
völlig unter die Spiegelfläche. Ihre  Abbilder  flohen, wie  Fische, mit dem
Kopf voran,  wurden  immer  kleiner  und verschwanden ganz. Nun  standen die
wirklichen Menschen unten, und es war, als seien sie in Bernstein gefangen.
Fabian trat ganz nahe. Das  war kein  Spiegelbild mehr, was er sah. Über den
untergegangenen Wesen  lag bloß  eine Glasplatte, und die Leute lebten
weiter. Fabian kniete nieder und blickte hinab.
     Fette, nackte Frauen, mit Sorgenfalten quer überm  Leib, saßen an
Tischen  und tranken  Tee.  Sie trugen durchbrochene Strümpfe und im Genick
geflochtene  Hütchen. Armbänder  und Ohrgehänge blitzten.  Eines  der  alten
Weiber hatte sich einen  goldenen Ring durch  die Nase gezogen.  An  anderen
Tischen  saßen  dicke Männer, halbnackt, behaart  wie  Gorillas,  mit
Zylindern,  manche  in  lila  Unterhosen,  alle  mit  großen  Zigarren
zwischen den dicken Lippen. Die Männer  und Frauen schauten gierig auf einen
Vorhang.  Er  wurde zur  Seite gezogen,  und junge  geschminkte  Burschen in
enganliegenden  Trikots  stolzierten  wie  gezierte  Mannequins über  einen
erhöhten Laufsteg. Den  Jünglingen folgten, auch in Trikots, junge Mädchen,
sie  lächelten  affektiert  und brachten  alles,  was  an  ihnen  rund  war,
angestrengt zur  Geltung. Fabian erkannte einige, die Kulp, die Bildhauerin,
die Selow, auch Paula aus Haupts Festsälen war dabei.
     Die alten Frauen und Männer preßten die Operngläser an die Augen,
sprangen  auf, stolperten über Stühle und Tische,  drängten dem Laufsteg zu,
schlugen einander, um vorwärts zu  kommen, und  wieherten  wie geile Pferde.
Die dicken  mit Schmuck beladenen  Weiber rissen junge Burschen  vorn Steg,
warfen sie  heulend auf  die  Erde,  knieten  flehend nieder, spreizten  die
fetten Beine,  zerrten sich Brillanten von den Armen und Fingern und aus den
Ohrlappen   und  hielten  sie  bettelnd  den  verhurt  lächelnden  Gestalten
entgegen. Die  alten Männer  griffen mit ihren Affenarmen nach  den Mädchen,
auch  nach  Jünglingen,  und  umarmten,  blaurot  vor  Aufregung,   wen  sie
faßten.  Unterhosen,  Krampfadern, Sockenhalter,  zerrissene  farbige
Trikots, fette  und faltige  Gliedmaßen,  verzerrte Visagen, grinsende
Pomadenmünder,  braune schlanke  Arme, im Krampf zuckende Füße füllten
den Boden aus.  Es war, als  läge ein lebendiger Perserteppich auf der Erde.
"Deine Cornelia ist auch dabei", sagte Frau Irene Moll. Sie  saß neben
ihm, und sie  naschte aus einer großen Bonbontüte kleine junge Männer.
Sie riß ihnen zuerst die Kleider ab. Das sah aus, als ob sie in Papier
gewickelte Napolitains schälte.  Fabian suchte Cornelia. Sie  stand, während
sich alle anderen wild verknäuelt am Boden  wälzten, allein auf dem Laufsteg
und wehrte sich gegen einen dicken brutalen Mann, der ihr mit der einen Hand
den Mund aufsperrte und  mit  der anderen  seine brennende Zigarre, mit  der
Glut  voran,  in  den  Mund  stoßen wollte. "Sträuben  nützt  bei  dem
nichts", meinte die Moll  und  kramte in  ihrer  Tüte. "Das ist Makart,  ein
Filmfabrikant, Geld wie Heu. Seine Frau hat sich vergiftet." Cornelia wankte
und stürzte neben Makart in den Tumult.
     "Spring ihr doch  nach", sagte  die Moll. "Aber du hast Angst, das Glas
zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du hältst die  Welt für eine
Schaufensterauslage." Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber  jetzt sah
Fabian den  Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke Bein war eine
Prothese. Er  stand auf einem Himmelbett  und fuhr wie ein Wellenreiter über
das Gezappel der Menschen. Er schwang seinen Krückstock und schlug der Kulp,
die sich an dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände,  bis das
Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
     Wilhelmy  befestigte eine  Schnur  am Stock, band  einen Geldschein ans
Ende  der Schnur und  warf diese Angel aus.  Die Menschen unter ihm sprangen
wie Fische in die Luft, schnappten nach der Banknote, fielen ermattet zurück
und schnellten  wieder hoch. Da! Eine  Frau hielt den Schein im Mund. Es war
die  Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken  hatte ihre Zunge durchbohrt.
Wilhelmy zog  die Schnur ein, die  Selow näherte sich, verzerrten Gesichts,
dem  Bett.  Aber hinter ihr  tauchte  die  Bildhauerin  auf,  umschlang  die
Freundin mit beiden Armen und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt  weit
aus  dem Mund. Wilhelmy und die  Bildhauerin suchten das Mädchen  an sich zu
ziehen, jeder auf seine  Seite. Die  Zunge wurde immer länger,  lang wie ein
rotes Gummiband, und sie war  zum Reißen  gespannt. Wilhelmy rang nach
Luft und lachte.
     "Wunderbar", rief Irene Moll. "Das  grenzt an Tauziehen.  Wir leben  im
Zeitalter  des  Sports."  Sie  zerknüllte  die leere Tüte  und sagte: "Jetzt
freß  ich dich." Sie riß ihm  die Pelerine herunter. Ihre Finger
griffen wie Scheren  ineinander und  zerschnitten Fabians Anzug.  Er schlug
ihr mit der Schirmkrücke auf den Kopf. Sie taumelte und ließ ihn  los.
"Ich liebe dich doch", flüsterte  sie und weinte.  Ihre Tränen  drangen  wie
kleine  Seifenblasen aus ihren  Augenwinkeln, wurden immer größer und
stiegen schillernd in die Luft.
     Fabian erhob sich und ging weiter.
     Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzählige Treppenstufen
führten von dem einen  Ende des  Saales hinauf  zum anderen Ende. Auf  jeder
Stufe  standen  Leute.  Sie  blickten  interessiert  nach oben  und  griffen
einander in die Taschen.  Jeder bestahl jeden. Jeder wühlte  heimlich in den
Taschen  des Vordermannes, und während  er das  tat, wurde er vom Hintermann
beraubt. Es war ganz ruhig im  Saal.  Trotzdem  war alles in  Bewegung.  Man
stahl emsig, und  man ließ sich  bestehlen. Auf  der  untersten  Stufe
stand ein kleines zehnjähriges Mädchen und  zog dem Vordermann einen bunten
Aschenbecher aus  dem Mantel. Plötzlich war Labude  auf der obersten Stufe.
Er  hob  die   Hände,  blickte  die  Treppe  hinunter  und  rief:  "Freunde!
Mitbürger! Die Anständigkeit muß siegen!"
     "Aber natürlich!"  brüllten die anderen im Chor und kramten einander in
den Taschen.
     "Wer für mich ist, hebe die Hand!" schrie Labude. Die anderen hoben die
Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderen stahl er  weiter.  Nur das kleine
Mädchen auf der untersten Stufe hob beide Hände.
     "Ich  danke  euch", sagte Labude, und seine  Stimme klang gerührt. "Das
Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergeßt diese Stunde nicht!"
     "Du bist  ein Narr!"  rief Cornelia, stand neben  Labude  und zog einen
großen hübschen Mann hinter sich her.
     "Meine besten Freunde sind meine größten  Feinde",  sagte  Labude
traurig. "Mir  ist  es gleich.  Die  Vernunft  wird  siegen,  auch  wenn ich
untergehe."
     Da fielen  Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fenster und Dächer.
Und überall standen finstere Gestalten mit Revolvern und Maschinengewehren.
     Die  Menschen  auf der Treppe  warfen  sich lang  hin, aber sie stahlen
weiter. Die  Schüsse knatterten. Die Menschen starben, die Hände  in fremden
Taschen. Die Treppe lag voller Leichen.
     "Um die ist es nicht schade", sagte  Fabian zu dem Freund.  "Nun komm!"
Aber  Labude  blieb in  dem Kugelregen stehen. "Um mich auch  nicht  mehr",
flüsterte er, drehte sich nach den Fenstern und Dächern um und drohte ihnen.
Aus den  Dachluken und aus den Giebeln fielen  Schüsse in die Tiefe. Aus den
Fenstern hingen Verwundete. Auf  einer Giebelkante  rangen zwei athletische
Männer.  Sie würgten und bissen  einander, bis der eine  taumelte  und beide
abstürzten.  Man   hörte  den   Aufschlag  der  hohlen  Schädel.  Flugzeuge
schwirrten  unter der  Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die
Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus den Fenstern.
     "Warum machen  das  die  Leute?"  Das  kleine  Mädchen aus dem Kaufhaus
faßte Fabians Hand.
     "Sie wollen neue Häuser bauen", erwiderte er. Dann nahm er das Kind auf
den Arm und stieg, über die Toten kletternd, die Stufen hinunter. Auf halbem
Weg begegnete er einem kleinen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen
Block und rechnete mit den Lippen. "Was machen Sie da?" fragte Fabian.
     "Ich  verkaufe   die  Restbestände",   war  die  Antwort.  "Pro  Leiche
dreißig  Pfennig, für wenig getragene Charaktere  fünf  Pfennig extra.
Sind Sie verhandlungsberechtigt?"
     "Gehen Sie zum Teufel", schrie Fabian.
     "Später", sagte  der  kleine Mann und rechnete weiter. Am Fuß der
Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin.
     "Nun geh nach Hause", meinte  er. Das Kind  lief davon. Es  hüpfte  auf
einem Bein und sang.
     Er  stieg  wieder  die Stufen  empor.  "Ich  verdiene keinen  Pfennig",
murmelte  der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam.  Fabian beeilte sich.
Oben brachen die Häuser  zusammen. Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen.
Glühende Balken neigten sich und sanken um, als tauchten sie in Watte. Noch
immer ertönten vereinzelt Schüsse. Menschen mit  Gasmasken krochen durch die
Trümmer.  Sooft  sich  zwei  begegneten,  hoben  sie  Gewehre,  zielten  und
schössen. Fabian sah sich um. Wo war Labude?
     "Labude!" schrie er. "Labude!"
     "Fabian!" rief eine Stimme. "Fabian!"
     "Fabian!" rief Cornelia und rüttelte ihn.  Er erwachte. "Warum rufst du
Labude?" Sie strich ihm über die Stirn.
     "Ich habe geträumt", sagte er. "Labude ist in Frankfurt."
     "Soll ich Licht machen?" fragte sie.
     "Nein, schlaf rasch  wieder ein, Cornelia, du  mußt morgen hübsch
aussehen. Gute Nacht."
     "Gute Nacht", sagte sie.
     Und dann lagen beide noch lange wach. Jeder wußte es vom anderen,
aber sie schwiegen.
     FÜNFZEHNTES KAPITEL
     Ein junger Mann, wie er sein soll
     Vom Sinn der Bahnhöfe
     Cornelia schreibt einen Brief
     Am nächsten Morgen saß er, als Cornelia ins Büro ging, am offenen
Fenster. Sie  hatte eine  Mappe unterm Arm und schritt eifrig aus. Sie hatte
Arbeit.  Sie verdiente Geld. Er saß am Fenster und ließ sich von
der Sonne kitzeln. Sie  schien  warm,  als sei die Welt  in bester  Ordnung,
nichts brachte sie aus der Fassung.
     Cornelia war schon weit.  Er durfte sie nicht zurückrufen.  Wenn er  es
getan und wenn  er,  aus  dem Fenster  gebeugt,  gesagt hätte:  "Komm wieder
herauf, ich will nicht, daß du arbeitest, ich will nicht, daß du
zu Makart gehst!", hätte  sie  geantwortet: "Was fällt dir ein? Gib mir Geld
oder halte mich nicht auf."
     Er  konnte  sich nicht anders helfen, er streckte  der Sonne  die Zunge
heraus.
     "Was  machen  Sie  denn  da?" fragte Frau Hohlfeld. Sie  war  unbemerkt
eingetreten.
     Fabian  sagte abweisend: "Ich  fange Fliegen. Sie sind heuer groß
und knusprig."
     "Gehen Sie nicht ins Geschäft?"
     "Ich bin in den Ruhestand  getreten.  Vom nächsten  Ersten ab erscheine
ich im Defizit des Finanzministeriums, als unvorhergesehene Mehrausgabe." Er
schloß das Fenster und setzte sich aufs Sofa.
     "Stellungslos?" fragte sie.
     Er  nickte und holte Geld aus der  Tasche.  "Hier sind die achtzig Mark
für den nächsten Monat."
     Sie  nahm  rasch  das Geld und  meinte:  "Das war  nicht so eilig, Herr
Fabian."
     "Doch." Er legte  die letzten Scheine und Münzen übersichtlich auf den
Tisch und zählte, was ihm blieb. "Wenn ich mein Kapital auf die Bank bringe,
krieg ich drei Mark Zinsen im Jahr", sagte er. "Das lohnt sich kaum."
     Die  Wirtin  wurde  gesprächig.  "In  der  Zeitung  schlug gestern  ein
Ingenieur vor, man solle den Spiegel  des Mittelmeeres um zweihundert  Meter
senken, dann  kämen große Ländereien ans Licht, wie vor  der Eiszeit,
und man  könne  sie besiedeln  und Millionen  von  Menschen darauf ernähren.
Außerdem   sei,   mit   Hilfe   kurzer   Dämme,   eine   durchgehende
Eisenbahnverbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!"
     Frau  Hohlfeld  war  noch  jetzt  von  dem   Vorschlag  des  Ingenieurs
eingenommen und sprach voller Feuer.
     Fabian pochte auf  die Armlehne des Sofas,  daß der Staub tanzte.
"Na  also!"  rief er.  "Auf, ans Mittelmeer!  Laßt uns  seinen Spiegel
senken! Kommen Sie mit, Frau Hohlfeld?"
     "Gern.  Ich  war  seit  meiner  Hochzeitsreise  nicht  mehr dort.  Eine
herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Paris liegt übrigens nicht
am  Mittelmeer."  Sie  gab  dem Gespräch eine  Wendung: "Da war das Fräulein
Doktor wohl sehr traurig?"
     "Schade,  daß sie schon fort ist, sonst  hätten  wir  sie  fragen
können."
     "Ein  bezauberndes Mädchen, und  so vornehm, ich finde, sie  ähnelt der
Königin von Rumänien, als sie noch jung war."
     "Erraten." Fabian erhob sich und brachte  die  Wirtin zur Tür. "Es soll
eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht weitersagen."
     Nachmittags  saß  er in  einem  großen  Zeitungsverlag  und
wartete,  daß Herr  Zacharias  Zeit  fände.  Herr  Zacharias  war  ein
Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu  ihm gesagt
hatte:  "Wenn  Sie  mich mal  brauchen, melden Sie sich."  Fabian  blätterte
gedankenlos  in  einer  der  Zeitschriften,  die den  Tisch  des  Warteraums
zierten,  und  entsann  sich  des  Gesprächs.  Zacharias  hatte  damals  der
Behauptung von H. G. Wells,  daß das Wachstum der christlichen Kirche
nicht  zuletzt  auf  geschickte  Propaganda  zurückzuführen sei,  begeistert
zugestimmt;  er  hatte auch Wells' Forderung verfochten, daß es an der
Zeit sei, die Reklame  nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife
und Kaugummi  zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in  den Dienst
von Idealen zu stellen. Fabian  hatte  geäußert, die Erziehbarkeit des
Menschengeschlechts  sei   eine  fragwürdige   These;   die   Eignung   des
Propagandisten   zum   Volkserzieher  und  das  Talent  des  Erziehers   zum
Propagandisten  stünden außerdem  in  Frage; Vernunft  könne  man nur
einer  beschränkten  Zahl  von  Menschen  beibringen,  und  die  sei  schon
vernünftig. Zacharias  und  er hatten  sich  förmlich  gestritten, bis  sie
fanden, der  Meinungsstreit trage allzu akademischen  Charakter, denn beide
möglichen  Resultate  - der  Sieg oder  die Niederlage jener  idealistischen
Aufklärung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe keiner Geld.
Boten  liefen geschäftig durch  das  Labyrinth der  Gänge. Papphülsen fielen
klappernd  aus  Metallröhren.  Das  Telefon  des  Aufsichtsbeamten klingelte
fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer
ins  andere. Ein Direktor des  Betriebes eilte, mit einem  Stab untertäniger
Mitarbeiter, die Treppe hinunter.
     "Herr Zacharias läßt bitten."
     Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias  gab Fabian temperamentvoll
die  Hand. Es  war die hervorstechendste  Eigenschaft dieses jungen  Mannes,
alles, was er tat, außerordentlich lebhaft zu besorgen. Er kam aus der
Begeisterung  nicht  heraus.  Ob  er sich nun  die  Zähne putzte oder ob  er
debattierte, ob  er Geld  ausgab oder ob er seinen  Vorgesetzten  Vorschläge
machte, stets riß er sich  ein Bein  aus. Wer in seine Nähe kam, wurde
von  dieser Humorlosigkeit infiziert. Plötzlich wurde ein  Gespräch über das
Binden  von  Krawatten zum  aufregendsten  Thema  der  Gegenwart.  Und  die
Vorgesetzten merkten, wenn sie  mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie
ungeheuer wichtig  ihr Beruf, ihr Verlag  und ihr Posten  eigentlich waren.
Die  Karriere  des  Mannes  war  nicht  aufzuhalten.  Daß  er   selbst
Wesentliches  leistete,  war unwahrscheinlich.  Er diente  dem  Betrieb als
Katalysator,  den   Menschen  seiner   Umgebung   als  Stimulans.  Er  wurde
unentbehrlich  und  hatte  jetzt  schon,   mit  achtundzwanzig  Jahren,  ein
Monatsgehalt  von  zweitausendfünfhundert  Mark. Fabian erzählte,  was es zu
erzählen gab.
     "Frei  ist  nichts",  sagte  Zacharias,  "und  ich wäre Ihnen  so  gern
gefällig.  Außerdem bin ich  überzeugt,  daß wir beide  glänzend
miteinander auskämen.  Was machen wir bloß?" Er preßte die Hände
an die Schläfen wie ein Wahrsager dicht vor der Erleuchtung. "Was halten Sie
von Folgendem:  Wenn  ich Sie bei  mir anstelle, als privaten Mitarbeiter,
den  ich aus eigener Tasche  bezahle? Ich  könnte eine  Kraft  wie  Sie  gut
gebrauchen. Man erwartet hier  im Hause pro  Tag  ein Dutzend Anregungen von
mir. Bin ich ein Automat?  Was  kann ich  dafür, daß den  anderen noch
weniger einfällt? Wenn das so weitergeht, läuft sich mein Gehirn einen Wolf.
Ich  habe  seit  kurzem  ein  kleines  nettes  Auto,  Steyr,  Sechszylinder,
Spezialkarosserie. Wir könnten  jeden Tag ein paar Stunden ins Grüne fahren
und  Eier legen. Ich  chauffiere gern, es  beruhigt die Nerven. Dreihundert
Mark würde  ich für  Sie lockermachen. Und sobald hier ein Posten frei wird,
hätten sie  ihn. Na?" Ehe Fabian  antworten konnte,  fuhr der  andere  fort:
"Nein,  es   geht  nicht.  Man  würde  sagen,  Zacharias  hält   sich  einen
weißen Neger.  Ich bin vor keinem dieser Kerle sicher. Sie stehen alle
mit der Axt hinter der Tür, um mir eins über den Kürbis zu hauen. Was machen
wir bloß? Fällt Ihnen nichts ein?"
     Fabian sagte:  "Ich könnte mich auf  den  Potsdamer  Platz stellen, mit
einem  großen Schild vorm Bauch, auf  dem etwa stünde:  "Dieser  junge
Mann  macht  augenblicklich nichts, aber  probieren  Sie's,  und Sie  werden
sehen,  er macht alles."  Ich  könnte den Text auch  auf  einen großen
Luftballon malen."
     "Wenn Sie den Vorschlag  ernst  meinten, wäre er  gut!" rief Zacharias.
"Aber er ist nichts  wert, weil Sie nicht daran glauben.  Sie nehmen nur die
wirklich ernsten Dinge ernst,  und vielleicht  nicht einmal  die. Es ist ein
Jammer. Mit Ihrer Begabung wäre  ich  heute leitender Direktor."  Zacharias
wandte bei Leuten, die ihm überlegen waren, einen  höchst raffinierten Trick
an: er gab diese Überlegenheit zu, er bestand geradezu auf ihr.
     "Was nützt es mir, daß ich begabter  bin?" fragte Fabian betrübt.
Diese  rhetorische  Anfrage hatte Zacharias  nicht erwartet. Wenn  er selber
offen war, genügte  das. Statt  dessen kam einer des Wegs,  bat  um  Rat und
wurde obendrein vorlaut.
     "Es  ist  schade,  daß  Sie mir die Bemerkung  übelnehmen", sagte
Fabian.  "Ich  wollte Sie nicht  kränken.  Ich  bin auf meine  Talente nicht
eingebildet,  sie reichen glatt zum Verhungern.  Und so  schlecht, daß
ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir erst in vierzehn Tagen."
     Zacharias stand auf und begleitete den Besucher betont bis  zur Treppe.
"Rufen  Sie mich  morgen mal an,  gegen zwölf Uhr,  nein, da  habe  ich eine
Konferenz,  sagen  wir nach zwei. Vielleicht  fällt mir inzwischen  was ein.
Servus."
     Fabian hätte gern Labude angerufen, doch der war in Frankfurt. Er hätte
ihm beileibe  nichts von seinen Sorgen erzählt. Sorgen  hatte Labude selber.
Die  bekannte  Stimme  wollte er hören,  weiter  nichts.  Zwischen  Freunden
konnten Gespräche  übers Wetter  Wunder wirken. Die Mutter war wieder fort.
Der ulkige alte  Erfinder war,  samt Pelerine, auf  dem  Weg  ins Irrenhaus.
Cornelia  kaufte sich  einen neuen Hut, um  ein paar Filmleuten zu gefallen.
Fabian war allein. Warum konnte man nicht, bis auf Widerruf, vor sich selber
davonlaufen?  Obwohl er  ziellos  durch  die City wanderte,  stand  er wenig
später vor  dem Haus, in  dem Cornelia angestellt war. Er setzte,  ärgerlich
über sich,  den  Weg fort  und ertappte  sich dabei,  daß er  in jedes
Hutgeschäft  schielte.  Saß  sie  jetzt  noch im  Büro? Probierte  sie
bereits Hüte und Jumper?
     Am Anhalter  Bahnhof  kaufte er eine  Zeitung. Der  Mann, der im  Kiosk
saß, sah gemütlich aus.  "Könnten Sie  jemanden  brauchen,  der  Ihnen
hilft?" fragte Fabian.
     "Nächstens lerne  ich Strümpfe stricken", sagte  der  Mann,  "vor einem
Jahr hatte ich doppelten Umsatz,  und  auch der war nicht üppig.  Die  Leute
lesen  die Zeitungen neuerdings nur noch beim  Friseur  oder im Café. Bäcker
hätte man werden sollen. Das Brot kriegen die Leute  beim Friseur noch nicht
umsonst."
     "Neulich hat jemand  vorgeschlagen, das Brot von  Staats wegen ins Haus
zu  liefern, genau wie das  Leitungswasser",  erzählte Fabian.  "Passen Sie
auf, eines Tages schützt nicht mal das Brotbacken vorm Verhungern."
     "Wollen Sie eine Stulle haben?" fragte der Mann im Kiosk.
     "Eine Woche reicht's schon noch", sagte Fabian, bedankte sich  und ging
zum Bahnhof hinüber. Er studierte den Fahrplan. Sollte er, vom letzten Geld,
ein Billett kaufen und zur  Mutter  kutschieren? Aber vielleicht wußte
Zacharias morgen einen Ausweg? Als er aus dem Bahnhof  trat und wieder diese
Straßenfluchten und Häuserblocks  vor sich sah, dieses  hoffnungslose,
unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindlig. Er lehnte sich neben ein paar
Gepäckträgern an die Wand  und schloß die Augen.  Doch nun  quälte ihn
der Lärm. Ihm war, als führen die Straßenbahnen  und Autobusse mitten
durch  seinen Magen.  Er kehrte wieder um, stieg die  Treppe  zum  Wartesaal
hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte Bank. Eine halbe Stunde später
war ihm wohler. Er ging zur Straßenbahnhaltestelle,  fuhr nach Hause,
warf sich aufs Sofa und schlief sofort ein.
     Abends erwachte er. Die Vorsaaltür schlug  laut zu. Kam Cornelia? Nein,
jemand lief rasch die Treppe hinunter. Er ging ins andere Zimmer hinüber und
erschrak.
     Der Schrank stand offen. Er war leer. Die Koffer fehlten. Fabian machte
Licht, obwohl es erst  dämmerte.  Auf dem Tisch, von der  Vase beschwert, in
der Blumen aufs Wegwerfen warteten, lag ein Brief. Er nickte, nahm den Brief
und ging in sein Zimmer zurück.
     "Lieber Fabian", schrieb Cornelia,  "ist  es nicht besser, ich gehe  zu
früh  als zu  spät? Eben stand ich  neben Dir  am Sofa. Du schliefst, und Du
schläfst  auch jetzt, während ich Dir schreibe.  Ich bliebe gern, aber stell
Dir vor, ich bliebe! Ein  paar Wochen noch, und Du  wärst recht unglücklich.
Dich bedrückt nicht  das Gewicht der Not, sondern der Gedanke, daß Not
so  wichtig  werden  kann.  Solange  Du  allein  warst,  konnte  Dir  nichts
geschehen, was auch geschah. Es wird wieder werden, wie es war. Bist Du sehr
traurig?
     Sie  wollen mich im nächsten  Film  herausstellen. Morgen unterschreibe
ich  den  Kontrakt.  Makart hat mir zwei Zimmer gemietet.  Es  ist  nicht zu
umgehen.  Er sprach darüber, als handle es sich um  einen Zentner  Briketts.
Fünfzig  Jahre  ist  er  alt,  und er  sieht aus wie ein zu gut  angezogener
Ringkämpfer im  Ruhestand.  Mir  ist,  als hätte ich  mich  an  die Anatomie
verkauft.  Wenn ich  noch  einmal in Dein Zimmer  käme und Dich weckte?  Ich
lasse  Dich  schlafen.  Ich  werde  nicht  zugrunde  gehen.  Ich  werde  mir
einbilden, der Arzt  untersucht mich. Er  mag  sich mit mir beschäftigen, es
muß sein. Man  kommt nur  aus  dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig
macht. Und wir wollen doch heraus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich
gehe  jetzt von  Dir  fort,  um mit  Dir  zusammenzubleiben.  Wirst  Du mich
liebbehalten? Wirst Du mich noch anschauen  wollen und umarmen können  trotz
dem  anderen?  Morgen  nachmittag  werde  ich,  von  vier  Uhr  ab, im  Café
Schottenhaml auf Dich warten. Was soll aus mir werden, wenn Du nicht kommst?
Cornelia."
     Fabian  saß ganz still. Es wurde  immer  finsterer. Das  Herz tat
weh.  Er hielt die Knäufe  des  Sessels umklammert, als  wehre er sich gegen
Gestalten, die ihn fortziehen wollten. Er nahm sich  zusammen. Der Brief lag
unten auf dem Teppich und glänzte im Dunkel.
     "Ich wollte mich doch ändern, Cornelia!" sagte Fabian.
     SECHZEHNTES KAPITEL
     Fabian fährt auf Abenteuer
     Schüsse am Wedding
     Onkel Felles Nordpark
     Am selben Abend fuhr er mit der Untergrundbahn in den Norden hinauf. Er
stand am Fenster des Wagens und blickte unverwandt in den schwarzen Schacht,
in dem  manchmal kleine  Lampen vorbeizogen. Er  starrte  auf  die  belebten
Bahnsteige  der unterirdischen Bahnhöfe. Er starrte,  wenn sich der Zug  aus
dem   Schacht   emporhob,   auf   die   grauen   Häuserzeilen,   in  düstere
Querstraßen  und in erleuchtete Zimmer hinein, wo fremde Menschen rund
um den Tisch saßen und auf ihr Schicksal warteten.  Er starrte auf das
glitzernde  Gewirr der Eisenbahngeleise  hinunter, über denen  er dahinfuhr;
auf die  Fernbahnhöfe, in  denen  die roten  Schlafwagenzüge ächzend  an die
weite  Reise  dachten;  auf  die   stumme   Spree,  auf   die  von   grellen
Leuchtschriften  belebten Theatergiebel  und  auf den sternlosen  violetten
Himmel über der Stadt.
     Fabian sah  das alles,  als führen  nur  seine  Augen  und  Ohren durch
Berlin, und er selber sei weit, weit weg. Sein  Blick war gespannt, aber das
Herz war besinnungslos. Er hatte lange in seinem möblierten Zimmer gesessen.
Irgendwo  in  dieser  unabsehbaren  Stadt  lag  jetzt  Cornelia  mit  einem
fünfzigjährigen Mann im Bett und schloß ergeben die Augen. Wo war sie?
Er hätte  die Wände von allen  Häusern reißen  mögen, bis er  die zwei
fand.  Wo war Cornelia?  Warum verdammte sie ihn zur  Untätigkeit? Warum tat
sie das  in einem der wenigen Augenblicke,  wo es  ihn zu handeln trieb? Sie
kannte  ihn  nicht. Sie hatte lieber  falsch  gehandelt,  als ihm  zu sagen:
"Handle du richtig!" Sie  glaubte, er könne eher tausend  Schläge erdulden,
als selber  einmal den Arm erheben. Sie wußte nicht, daß er sich
danach sehnte, Dienst zu tun und Verantwortung zu tragen. Wo aber waren die
Menschen,  denen  er so gern  gedient  hätte? Wo  war Cornelia? Unter  einem
dicken alten  Mann lag sie und ließ sich  zur  Hure machen, damit  der
liebe  Fabian  Lust  und  Zeit   zum  Nichtstun  hatte.   Sie  schenkte  ihm
großzügig jene  Freiheit wieder, von der sie  ihn befreit  hatte.  Der
Zufall hatte ihm einen  Menschen in die Arme geführt,  für  den  er  endlich
handeln  durfte,  und dieser  Mensch  stieß  ihn  in  die  ungewollte,
verfluchte Freiheit zurück.  Beiden war geholfen gewesen, und nun war beiden
nicht zu helfen.  In dem  Augenblick, wo  die  Arbeit Sinn erhielt,  weil er
Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil  er  die Arbeit verlor, verlor
er Cornelia.  Er hatte, durstig, ein Gefäß in der Hand gehalten und es
nicht tragen  mögen, weil es  leer war. Da, als er es kaum  noch hoffte, war
das Schicksal  gnädig  gewesen und hatte das Gefäß  gefüllt.  Er hatte
sich  darübergeneigt  und  endlich  trinken  wollen.  "Nein", hatte  da das
Schicksal gesagt, "nein, du hieltest ja den  Becher  nicht  gern",  und  das
Gefäß war ihm  aus den Händen  geschlagen  worden, und  das Wasser war
über seine Hände zur Erde geflossen.
     Hurra! Nun war  er frei. Er lachte so  laut  und  böse,  daß  die
anderen Fahrgäste, leicht verstimmt, von ihm abrückten. Er stieg aus. Es war
ja gleichgültig,  wo  er  ausstieg, er war frei,  Cornelia  erschlief  sich,
weiß  der Teufel wo, eine Karriere oder eine Verzweiflung oder beides.
Auf  der Chausseestraße, am  Trakt der  Polizeikasernen, sah er in den
geöffneten Toren grüne Autos, Scheinwerfer  blitzten. Polizisten  kletterten
auf  die Wagen und standen, entschlossen,  in stummer  Kolonne. Einige Autos
ratterten   in  nördlicher  Richtung  davon.  Fabian   folgte   ihnen.   Die
Straße war voller Menschen. Zurufe flogen  den Wagen nach. Zurufe, als
wären es schon Steine. Die Mannschaften blickten geradeaus.
     Am Weddingplatz riegelten sie die Reinickendorfer Straße  ab, auf
der  Arbeitermassen  näherzogen.  Berittene  Polizei   wartete   hinter  der
Sperrkette darauf, zur Attacke befohlen zu  werden. Uniformierte Proletarier
warteten,  den Sturmriemen  unterm Kinn,  auf proletarische  Zivilisten. Wer
trieb sie  gegeneinander? Die  Arbeiter waren nahe, ihre Lieder wurden immer
lauter, da ging die Polizei schrittweise vor, ein Meter Abstand von Mann  zu
Mann. Der Gesang  wurde von wütendem Gebrüll  abgelöst. Man spürte, ohne die
Vorgänge sehen zu können, am  Lärm, und wie er wuchs, daß die Arbeiter
und die Polizei dort vorn gleich aufeinanderstoßen würden.
     Eine Minute  später  bestätigten Aufschreie  die  Vermutung.  Man  war
zusammengetroffen,  die  Polizei schlug zu. Jetzt setzten  sich  die  Pferde
schaukelnd in Bewegung und trabten in das Vakuum hinein, die Hufe klapperten
übers Pflaster. Von vorn ertönte ein Schuß. Scheiben zersprangen. Die
Pferde galoppierten.  Die Menschen auf dem Weddingplatz wollten nachdrängen.
Eine   zweite   Polizeikette  sperrte   den   Zugang   zur  Reinickendorfer
Straße, rückte langsam vor und säuberte den Platz. Steine flogen.
     Ein  Wachtmeister  erhielt  einen  Messerstich.  Die  Polizei  hob  die
Gummiknüppel  und  ging  zum  Laufschritt  über.  Auf  drei   Lastautos  kam
Verstärkung,  die  Mannschaften  sprangen  von  den  langsamfahrenden  Wagen
herunter. Die Arbeiter ergriffen die Flucht, an den äußersten  Rändern
des Platzes und in den Zugangsstraßen machten sie wieder halt.  Fabian
drängte sich  durch  die  lebendige  Mauer und  ging  seiner  Wege. Der Lärm
entfernte  sich.  Drei Straßen weiter schien  es  schon, als  herrsche
überall  Ruhe und Ordnung. Ein paar Frauen  standen  in  einem Haustor. "He,
Sie!" sagte die eine. "Stimmt das, am Wedding gibt's Keile?"
     "Sie nehmen einander Maß", antwortete er und ging vorbei.
     "Ich lasse mich fressen, Franz ist  wieder mittendrin", rief die  Frau.
"Na, komm  du nur nach Hause!" Mitten in  der Straßenfront, unvermutet
zwischen alten, soliden Mietskasernen, lag ein Rummelplatz, der Onkel Pelles
Nordpark hieß. Leierkastenmusik überspülte die  Gespräche der Mädchen,
die, Arm in Arm, in langer  Kette vor dem Eingang bummelten. Verwegen tuende
Burschen mit schiefgezogenen Mützen strichen entlang und riefen Frechheiten.
Die  Mädchen   kicherten  geschmeichelt  und  gaben  unmißverständlich
Antwort.
     Fabian trat  durch  das  Tor.  Das  Gelände  glich einem  Trockenplatz.
Azetylenflammen zuckten  und ließen die Wege und Buden  halb  finster.
Der  Boden war  klebrig und  von  Grasstoppeln bewachsen. Das Karussell war,
wegen  mangelnder  Nachfrage,  mit  Zeltbahnen verhangen. Männer in  derben
Joppen,  alte  Frauen mit Kopftüchern, Kinder,  die  längst  hätten  im Bett
liegen müssen, trotteten den Budenweg entlang.
     Ein  Glücksrad rasselte. Die Menschen  standen  dicht zusammengedrängt,
die Augen hingen an  der rotierenden Scheibe.  Sie lief  langsamer, überwand
noch ein paar Nummern, hielt still. "Fünfundzwanzig!" schrie der Ausrufer.
     "Hier, hier!" Eine alte Frau, mit der Brille auf der Nase, hob ihr Los.
Man reichte ihr den Gewinn. Was hatte sie gewonnen? Ein Pfund Würfelzucker.
     Wieder schnurrte das Rad. "Siebzehn!"
     "Hallo, das bin ich!" Ein junger Mann schwenkte  sein Los. Er bekam ein
Viertelpfund Bohnenkaffee. "Was für Muttern", sagte er zufrieden und zog ab.
     "Und  jetzt folgt die große  Prämie!  Der Gewinner darf sich  was
aussuchen!"  Das Rad schwankte, tickte, stand still,  nein, es  rückte  noch
eine Nummer weiter.
     "Neun!"
     "Mensch, hier!" Ein Fabrikmädchen  klatschte in die Hände. Sie  las die
Lotteriebestimmungen.  "Der  Hauptgewinn  besteht  aus  fünf  Pfund   prima
Weizenmehl oder einem Pfund Butter oder dreiviertel Pfund  Bohnenkaffee oder
eindreiviertel  Pfund  magerem  Speck."  Sie  verlangte  ein  Pfund  Butter.
"Allerhand für einen Groschen", rief sie. "Das kann man mitnehmen."
     "Es folgt die  nächste Ziehung!" brüllte  der  Ausrufer. "Wer  hat noch
nicht,  wer  will  noch  mal? Sie da, Großmutter! Hier ist  das Monte
Carlo  der  armen  Luder!  Keine  Mark,  keine  halbe  Mark,  sondern  einen
Groschen!"  Gegenüber  war  ein ähnliches  Unternehmen. Aber  die  Tombola
bestand aus Fleisch und Wurst, und das Los kostete doppelt soviel.
     "Der  Hauptgewinn, meine  Herrschaften, der Hauptgewinn besteht diesmal
aus einer halben Hamburger Gans!" kreischte eine Schlächtersgattin. "Zwanzig
Pfennige, nur Mut,  mein Volk!" Ihr Gehilfe schnitt mit  einem Riesenmesser
dünne Scheiben  von  einer  Schlackwurst  und  verteilte an  die  Loskäufer
Kostproben. Den anderen lief das Wasser im  Munde  zusammen. Sie gruben zwei
Groschen aus dem Portemonnaie und griffen zu.
     "Wie denkst du über Gänsebraten?"  fragte einer ohne Schlips und Kragen
eine Frau.
     "Schade ums Geld", sagte sie. "Wir haben kein Glück, Willem."
     "Laß man", meinte er, "es ist manchmal komisch." Er nahm ein Los,
steckte der Frau die Scheibe Wurst, die er zugekriegt hatte, in den Mund und
blickte erwartungsvoll auf das Rad.
     "Die    Ziehung    nimmt   hiermit   ihren   Anfang",   kreischte   die
Schl