ächtersgattin. Das Glücksrad surrte. Fabian ging weiter. "Hippodrom und
Tanz" stand über einem großen Zelt. 20 Pfennig Entree. Er ging hinein.
Das Lokal bestand aus zwei Kreisen. Der eine war  überhöht, wie ein Pfahlbau
stand er  im Zelt, dort  oben  wurde  getanzt.  In  der Mitte saß eine
Blechkapelle und spielte, als hätten die Musiker miteinander Streit  gehabt.
Die Mädchen lehnten am Geländer. Die jungen  Männer griffen zu.  Man  machte
keine Umstände. Der andere Kreis war eine Sandmanege, in der, zu den Klängen
der  Kapelle, drei ausrangierte Gäule vor sich hintrabten.  Sie  wurden  von
einem  zylindergeschmückten  Stallmeister,  der  die  Peitsche schwang  und
wiederholt "Terrab!" schrie, vom Einschlafen  abgehalten. Auf einem kleinen
einäugigen Schimmel saß eine  Frau im  Herrensitz.  Der  Rock war hoch
über  die Knie  gerutscht. Sie trabte deutsch und lachte, sooft sie auf  den
Sattel fiel.
     Fabian  setzte sich neben die Manege und  trank ein Bier.  Die Reiterin
zog  jedesmal,  wenn  sie   an  ihm   vorbeikam,  den  Rock  herunter.   Die
Beschäftigung war sinnlos. Der Rock rutschte immer wieder  hoch. Als sie zum
vierten  Male  Fabians Tisch  passierte, lächelte sie  ein bißchen und
ließ  den Rock oben. In der  fünften Runde blieb der Schimmel  vor dem
Tisch stehen  und  glotzte mit  dem blinden Auge ins  Bierglas.  "Da  gibt's
keinen Zucker", sagte die Frau und sah Fabian ins Gesicht. Der Stallmeister
knallte mit der Peitsche, und der kleine Schimmel schob weiter. Kaum war die
Frau vom  Pferd  gestiegen,  setzte sie sich  betont  unabsichtlich  an  den
Nebentisch,  schräg vor  Fabian,  so daß  er ihre körperlichen Vorzüge
nicht übersehen  konnte.  Sein  Blick  blieb auf  der Figur  haften,  und da
erwachte  sein Schmerz  aus  der  Narkose. Wo  war  Cornelia?  War  ihr  die
Umarmung, in  der  sie jetzt  lag,  zuwider? Empfand  sie,  während er  hier
saß, in einem  fremden  Bett Vergnügen? Er sprang auf. Der Stuhl  fiel
um. Die Frau am Nebentisch blickte ihm wieder ins Gesicht, ihre Augen wurden
groß, der Mund krümmte und öffnete sich leicht, die  Zungenspitze fuhr
feucht an der Oberlippe entlang.
     "Kommen Sie mit?" fragte er unwillig. Sie kam mit, und sie gingen, ohne
viel zu reden, ins "Theater". Das war eine elende Bretterbaracke. "Auftreten
der    renommierten    Rheingoldsänger.    Rauchen    erlaubt.    Zu     den
Abendvorstellungen haben Kinder  keinen  Anspruch auf Sitzplätze." Die Bude
war  halbvoll.  Die  Zuschauer  hatten die Hüte auf, rauchten Zigaretten und
ließen  sich im Dunkel von der unüberbietbar albernen  und  verlogenen
Romantik, die  ihnen  für  dreißig Pfennige  vorgesetzt  wurde, bis zu
Tränen rühren. Sie hatten mehr Mitleid mit dem  verkitschten Kulissenzauber
als mit ihrer eigenen Not.
     Fabian legte den Arm um  die fremde  Frau. Sie schmiegte sich  dicht an
ihn und atmete schwer,  damit  er es höre. Das  Stück war  tieftraurig.  Ein
flotter Student - Direktor Blasemann, grauhaarig und über fünfzig Jahre alt,
spielte  die  Rolle persönlich - kam jeden Morgen betrunken nach Hause.  Das
lag an dem verdammten Sekt. Er sang Studentenlieder, bestellte einen sauren
Hering,  wurde  von der  Portiersfrau abgekanzelt und schenkte  einer  alten
gichtkranken Hofsängerin,  daß  sie das Singen  lasse,  seinen letzten
Taler.
     Doch  das Schicksal schritt, so schnell es konnte. Die alte Hofsängerin
war  - wer hätte sie  sonst sein sollen? - niemand anders als die Mutter des
fünfzigjährigen Studenten! Zwölf Jahre hatte er sie nicht gesehen,  erhielt
allmonatlich  Geld  von  ihr  und  glaubte,  sie sei noch immer, wie  einst,
Hofopernsängerin. Natürlich erkannte  er sie nicht. Aber  Mutteraugen sehen
schärfer, sie wußte  sofort:  der oder keiner. Jedoch,  die Zuspitzung
des Dramas verzögerte  sich.  Eine Liebesaffäre  brach  herein.  Der Student
liebte und  wurde geliebt, letzteres  geschah  durch Fräulein  Martin,  jene
bildhübsche  Näherin,  die gegenüber  wohnte,  die Nähmaschine trat und wie
eine Lerche sang. Ellen Martin, die singende  Lerche, wog gut zwei Zentner.
Sie  hüpfte,  daß  sich die  Bühne bog, aus der  Kulisse und  sang mit
Direktor   Blasemann,   dem    Studenten,   Couplets.   Der    Anfang   des
erfolgreichsten Duetts lautete:
     "Schatzi du, ach Schatzi mein,
     sollst mein ein und alles sein!"
     Das junge Paar, das zusammen an die hundert  Lenze zählen mochte, schob
sich wuchtig auf dem Hof, den die Szene darstellen sollte, hin und her; dann
versprach er ihr die Ehe, sie  aber wurde traurig, weil er alte  Sängerinnen
vom Hofe zu treiben pflege. Dann sangen sie das nächste Couplet.
     Die Leute klatschten Beifall. Die Frau, um die Fabian seine Hand liegen
hatte, machte eine  leichte  Drehung, sie gab ihm  die Brust. "Ach,  ist das
schön", sagte sie. Vermutlich meinte sie das Stück.
     Im  Zuschauerraum  herrschte  wieder  feierliche   Stille.   Die  alte,
gebeugte, gichtkranke Hofsängerin, die den Sohn  Medizin studieren und einem
feudalen Korps angehören ließ, wackelte aus der Kulisse, erreichte den
Hof  mit Müh und  Not, hob  den Zeigefinger, der Pianist gehorchte, und ein
rührseliges Mutterlied war im Entstehen begriffen.
     "Gehen  wir", sagte Fabian und ließ den Büstenhalter der  fremden
Frau los.
     "Schon?" fragte sie erstaunt, aber sie folgte ihm.
     "Hier  wohne  ich", erklärte  sie  vor  einem großen  Haus in der
Müllerstraße. Sie schloß auf. Er sagte: "Ich komme mit hinauf."
     Sie sträubte sich,  es klang nicht überzeugend.  Er drückte  sie in den
Hausflur. "Was werden  bloß  meine  Wirtsleute sagen?  Nein, sind  Sie
stürmisch. Aber recht leise, ja?"
     An der Tür stand: Hetzer.
     "Wieso sind zwei Betten in deinem Zimmer?" fragte er.
     "Pst, man kann uns hören",  flüsterte sie. "Die Wirtsleute haben keinen
Platz zum Abstellen."
     Er  zog sich  aus. "Mach nicht so  viel Umstände", sagte er. Sie schien
Koketterie für unerläßlich zu  halten  und zierte sich  wie eine späte
Jungfrau. Schließlich lagen sie nebeneinander. Sie löschte das Licht,
und erst jetzt entkleidete  sie sich völlig. "Einen Moment",  flüsterte sie,
"nicht böse  sein." Sie knipste eine Taschenlampe an, breitete ein Tuch über
sein Gesicht  und untersuchte ihn  im Schein  der Taschenlampe wie ein alter
Kassenarzt. "Entschuldigen Sie, man kann heutzutage  nicht  vorsichtig genug
sein", erklärte sie anschließend. Und nun stand nichts mehr im Wege.
     "Ich bin Verkäuferin in einem Handschuhgeschäft", berichtete sie etwas
später. "Willst du bis morgen früh bleiben?" fragte sie nach  einer weiteren
halben Stunde.  Er nickte.  Sie verschwand  in der Küche, er hörte,  wie sie
spülte.  Sie  brachte  warmes   Seifenwasser,  wusch  ihn  sorgfältig,  mit
hausfraulichem Eifer, und stieg wieder  ins Bett. "Stört es deine Wirtsleute
nicht, wenn du in der  Küche Wasser wärmst?" fragte er. "Laß das Licht
brennen!"
     Sie  erzählte  belanglose Dinge,  fragte,  wo er  wohne, und nannte ihn
"Schatz". Er musterte die Zimmereinrichtung. Außer den Betten war noch
ein  leidenschaftlich  geschwungenes   Plüschsofa  anwesend,   ferner   ein
Waschtisch  mit Marmorplatte, ein scheußlicher Farbendruck,  woselbst
eine  junge mollige Frau, im Nachthemd auf einem  Eisbärenfell hockend,  mit
einem  rosigen Baby  spielte,  und  ein Schrank  mit  einem  Türspiegel, der
schlecht funktionierte. "Wo ist  Cornelia?" dachte er und  fiel wieder über
die nackte, erschrockene Verkäuferin her.
     "Man sollte Angst vor dir haben", flüsterte sie danach. "Willst du mich
umbringen? Aber  es ist wunderbar."  Sie  kniete sich neben ihn, betrachtete
aus geweiteten Augen sein gleichgültiges Gesicht und küßte ihn.
     Als sie  todmüde eingeschlafen  war, lag er noch  immer wach, allein in
einem fremden  Zimmer, blickte angespannt ins Dunkel und dachte: "Cornelia,
was haben wir getan?"
     SIEBZEHNTES KAPITEL
     Kalbsleber, aber ohne Flechsen
     Er sagt ihr die Meinung
     Ein Reisender verliert die Geduld
     "Ich habe  gelogen", sagte die Frau am  anderen  Morgen. "Ich gehe  gar
nicht  ins Geschäft. Und die Wohnung gehört  mir. Und wir sind  ganz allein.
Komm in die Küche."
     Sie goß Kaffee ein, strich Brötchen, klopfte ihm zärtlich auf die
Wange, band  die  Schürze  ab und setzte  sich  zu  ihm an den  Küchentisch.
"Schmeckt's?"  fragte  sie  munter, obwohl  er nicht  aß.  "Blaß
siehst du aus, Schatz. Es ist aber auch kein Wunder. Greif tüchtig zu, damit
du wieder groß  und  stark  wirst."  Sie  legte  ihren  Kopf  an seine
Schulter und spitzte wie ein Backfisch die Lippen.
     "Du  hattest Angst, ich könnte dir das Sofa stehlen oder dir den  Bauch
aufschlitzen?"  fragte Fabian.  "Und  wie kommen die zwei  Betten  in  dein
Schlafzimmer?"
     "Ich   bin   verheiratet",   sagte  sie.  "Mein  Mann  reist  für  eine
Trikotagenfirma. Augenblicklich ist er  im Rheinland.  Dann  fährt  er  nach
Württemberg. Er ist mindestens noch zehn Tage unterwegs. Willst du  so lange
bleiben?"
     Er trank Kaffee  und gab keine Antwort. "Ich brauche wen", erklärte sie
heftig, als hätte ihr jemand widersprochen.
     "Nie ist er da, und wenn er da ist,  lohnt sich's auch nicht. Bleib die
zehn Tage bei mir. Mach dir's bequem. Ich koche gut. Geld habe ich auch. Was
willst  du  heute  mittag  essen?" Sie  begann  zu wirtschaften  und blickte
ängstlich  zu ihm hin.  "Ißt du gern  Kalbsleber  mit  Bratkartoffeln?
Warum antwortest du denn gar nicht?"
     "Habt ihr Telefon?" fragte er.
     "Nein", sagte sie. "Willst du fort? Bleib doch. Es war so schön. Es war
so  schön wie noch nie." Sie  trocknete sich  die Hände und fuhr streichelnd
über sein Haar.
     "Ich bleibe  ja",  meinte  er.  "Aber ich muß  telefonieren." Sie
sagte, telefonieren könne man beim Fleischer Rarisch,  und ob er ein  halbes
Pfund frische Kalbsleber  mitbringen wolle, ohne Flechsen. Dann gab sie  ihm
Geld,  öffnete  vorsichtig die  Vorsaaltür,  und weil die Treppe  leer  war,
durfte er aus der Wohnung.
     "Ein halbes Pfund frische Kalbsleber, aber ohne Flechsen", sagte er im
Fleischerladen. Dann rief er,  während  man ihn  bediente, Zacharias an. Das
Telefon war fettig. "Nein", erklärte Zacharias, "mir ist nichts eingefallen.
Aber  ich  gebe die Hoffnung nicht auf, das wäre doch  gelacht, mein Lieber.
Wissen  Sie was,  kommen Sie  morgen wieder mal  vorbei.  Es geht  manchmal
schnell.  Schlimmstenfalls  plaudern  wir ein  bißchen.  Ist  es Ihnen
recht? Wiedersehen."
     Fabian  nahm die Kalbsleber  in Empfang. Das Papier blutete. Er  zahlte
und  trug  das Fleischpaket  vorsichtig  ins Haus. Weil  die  Nachbarin  die
Türklinke  putzte,  stieg  er  bis zur  vierten  Etage hinauf.  Nach einigen
Minuten  kam  er   wieder  herunter.   Die  Frau,  mit   der  er  die  Nacht
zusammengewesen war, öffnete, ohne  daß  er zu klingeln brauchte, und
zog ihn in die Wohnung.
     "Gott sei  Dank", flüsterte  sie. "Ich  dachte schon, die  Klatschtante
würde  uns  erwischen. Setz dich ins Wohnzimmer, Schatz. Willst du  Zeitung
lesen? Ich räume inzwischen auf."
     Er legte das Geld, das er zurückbekommen  hatte, auf den Tisch,  setzte
sich  ins Wohnzimmer  und las  die  Zeitung.  Er hörte die Frau singen. Nach
einer Weile brachte sie ihm Zigaretten und Kirschwasser und blickte ihm über
die Schulter.  "Um eins  wird gegessen", sagte  sie. "Hoffentlich  fühlst du
dich recht behaglich."
     Dann verschwand sie wieder und sang draußen weiter. Er
     las  den  Polizeibericht  über  den  Krawall  in  der   Reinickendorfer
Straße. Der Wachtmeister, der den Messerstich erhalten  hatte,  war im
Krankenhaus  gestorben.  Von  den Demonstranten  waren drei  schwer verletzt
worden.  Einige  andere  hatte man  verhaftet.  Die Redaktion  schrieb  von
unverantwortlichen   Elementen,   welche   die  Arbeitslosen   immer  wieder
aufzuwiegeln  versuchten, und von der  bedeutenden Aufgabe,  die der Polizei
zufalle.  Es gehe  nicht an, obwohl  es von gewissen Kreisen ununterbrochen
versucht  werde, den Etat  für die Schutzpolizei zu senken. Vorkommnisse wie
das gestrige  führten, hieß es, so recht  vor  Augen, wie notwendig es
sei, prophylaktisch zu denken und zu handeln.
     Fabian sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Möbel waren, wo sich dazu
die  Gelegenheit  bot,   verschnörkelt.   Auf   dem   Vertiko  standen  drei
Leitzordner. Auf dem Tisch prangte ein bunter Glasteller,  der schlug Wellen
und enthielt Ansichtskarten. Fabian nahm  die oberste Karte. Sie zeigte  den
Kölner Dom, und er dachte an das  Zigarettenplakat. "Liebe Mucki",  las er,
"geht's  dir gut,  und reicht  das  Geld?  Ich  habe ganz  hübsche  Aufträge
gemacht, morgen geht's  nach Düsseldorf. Gruß und Kuß, Kurt." Er
legte die Karte auf den Teller zurück und trank ein Glas Kirschwasser.
     Mittags aß er, um Mucki nicht zu verstimmen, den Teller leer. Sie
war froh darüber, als habe ein  Hund den Napf saubergefressen. Hinterher gab
es Kaffee.
     "Willst du mir gar nichts von dir erzählen, Schatz?" fragte sie.
     "Nein", sagte er und ging ins Wohnzimmer. Sie  lief  hinter ihm her. Er
stand am Fenster.
     "Komm aufs Sofa", bat sie. "Man könnte dich sehen. Und sei nicht böse."
     Er  setzte sich  aufs Sofa.  Sie brachte  den Kaffee herein, nahm neben
Fabian Platz und knöpfte die Bluse auf.
     "Jetzt  kommt   der   Nachtisch",   sagte   sie.  "Aber  nicht   wieder
beißen."
     Gegen drei Uhr ging er.
     "Wirst du auch bestimmt wiederkommen?" Sie stand vor ihm, brachte ihren
Rock und die Strümpfe in Ordnung und sah ihn bittend an. "Schwöre, daß
du wiederkommst."
     "Wahrscheinlich komme ich", sagte er. "Versprechen kann ich es nicht."
     "Ich warte mit dem Abendbrot", erklärte sie, dann öffnete sie die Tür.
     "Rasch!" flüsterte sie. "Die Luft ist rein."
     Er sprang die Treppe  hinunter.  "Die Luft ist  rein",  dachte  er  und
empfand Abscheu vor dem Haus, das er verließ. Er fuhr zum Großen
Stern,  durchquerte den Tiergarten bis zum  Brandenburger  Tor, verlor  sich
wieder  in   den  Anlagen,  die  Rhododendren  blühten.  Er  geriet  in  die
Siegesallee. Die Dynastie  der Hohenzollern und der Bildhauer Begas schienen
unverwüstlich.
     Vor dem Café Schottenhaml machte Fabian kehrt. Was ließ sich hier
noch  besprechen  ? Es  war zu spät zum Reden. Er  ging weiter, kam  auf die
Potsdamer Straße, stand unentschlossen  auf  dem Potsdamer Platz, lief
die Bellevuestraße hinauf und befand  sich  wieder  vor dem  Café. Und
jetzt trat er ein.
     Cornelia saß da, als warte sie seit Jahren, und winkte ein wenig.
     Er setzte sich. Sie nahm  seine Hand. "Ich glaubte  nicht, daß du
kämst", sagte  sie schüchtern.  Er schwieg  und sah  an  ihr vorbei. "Es war
nicht recht von mir, nicht wahr?" flüsterte  sie und senkte den Kopf. Tränen
fielen in ihren  Kaffee. Sie schob die Tasse beiseite und trocknete sich die
Augen.
     Er  blickte  vom Tisch fort. Die Wände zwischen  den zwei Treppen, die,
barock  gedrechselt,  in das  Obergeschoß  führten, waren  mit  vielen
bunten  Papageien und  Kolibris  bevölkert. Die Vögel  waren  aus Glas.  Sie
hockten  auf  gläsernen Lianen  und  Zweigen und warteten auf den Abend  und
seine Lampen, damit der zerbrechliche Urwald zu leuchten beginne.
     Cornelia flüsterte: "Warum siehst du mich  nicht an?" Dann preßte
sie das Taschentuch  vor den Mund. Und ihr  Weinen  klang, als  wimmere weit
entfernt ein verzweifeltes Kind. Das Lokal  war leer. Die Gäste  saßen
draußen  vor  dem Haus,  unter großen  roten Schirmen.  Nur  ein
Kellner  stand  in der Nähe, Fabian  blickte  ihr  ins  Gesicht. Ihre  Augen
zitterten vor  Aufregung. "Sprich  endlich ein Wort", sagte sie  mit  rauher
Stimme. Sein Mund war ausgetrocknet. Die Kehle war zusammengepreßt. Er
schluckte mühsam.
     "Sprich  ein  Wort",  wiederholte  sie ganz leise und  faltete  auf dem
Tischtuch, zwischen dem Nickelgeschirr, die Hände.
     Er aß und schwieg.
     "Was soll bloß aus mir werden?" flüsterte sie, als spreche sie zu
sich  selber und er  sei  gar nicht mehr da. "Was  soll bloß  aus  mir
werden?"
     "Eine  unglückliche  Frau,  der  es  gutgeht", sagte  er viel  zu laut.
"Überrascht  dich  das?  Kamst  du  nicht deswegen  nach  Berlin?  Hier wird
getauscht. Wer haben will, muß hingeben, was er hat."
     Er wartete eine Weile, doch sie schwieg. Sie nahm die Puderdose aus der
Tasche, ließ sie dann aber ungeöffnet liegen. Er  hatte sich wieder in
der  Gewalt.  Sein  leicht ermüdbares  Gefühl gab Ruhe und  wich dem  Drang,
Ordnung zu  schaffen. Er blickte auf  das,  was  geschehen war, wie  auf ein
verwüstetes Zimmer,  und begann, kalt  und kleinlich, aufzuräumen. "Du kamst
mit Absichten  hierher, die sich rascher erfüllt haben, als zu hoffen stand.
Du hast  einen einflußreichen  Menschen gefunden, der dich finanziert.
Er  finanziert  dich  nicht nur,  er  gibt dir  eine berufliche Chance.  Ich
bezweifle nicht, daß  du Erfolg haben wirst.  Dadurch verdient er  das
Geld zurück, das er gewissermaßen  in dich hineingesteckt hat; dadurch
wirst du auch selber Geld verdienen und eines Tages sagen können: Mein Herr,
wir sind quitt."  Fabian  wunderte sich.  Er erschrak vor  sich  selber  und
dachte:  Es fehlt  nur, daß ich die Interpunktion mitspreche. Cornelia
betrachtete  ihn, als  sehe sie  ihn  zum  ersten Mal. Dann klappte  sie die
Puderdose auf, musterte sich in dem kleinen runden Spiegel und fuhr  mit der
weißen  stäubenden  Quaste  über ihr verweintes,  kindlich  erstauntes
Gesicht. Sie nickte, er möge fortfahren.
     "Was dann werden wird", sagte er, "was dann werden wird, wenn du Makart
nicht mehr brauchst, läßt sich nicht vorher sagen, es steht auch nicht
zur Debatte. Du wirst arbeiten,  und dann  bleibt von einer Frau  nicht viel
übrig.  Der  Erfolg  wird  sich  steigern, der  Ehrgeiz  wird  wachsen,  die
Absturzgefahr nimmt  zu, je höher man  steigt. Wahrscheinlich wird er nicht
der einzige  bleiben,  dem  du dich ausliefern wirst. Es findet  sich  immer
wieder ein Mann,  der einer Frau den  Weg versperrt  und mit  dem  sie  sich
langlegen muß,  wenn sie  über  ihn  hinweg will.  Du wirst dich daran
gewöhnen, den Präzedenzfall hast du ja seit gestern hinter dir."
     "Ich weine schon, und er schlägt mich noch", dachte sie verwundert.
     "Aber die  Zukunft  ist nicht  mein Thema", sagte  er und  machte  eine
abschließende  Handbewegung, als  erdroßle  er den Gedanken. "Zu
besprechen  bleibt die  Vergangenheit.  Du  fragtest gestern nicht,  als du
gingst.  Warum  interessiert  dich  nun  meine  Antwort?  Du  wußtest,
daß ich  dich  los sein wollte. Du wußtest, daß ich darauf
brannte,  eine Geliebte zu haben,  die in anderen  Betten das Geld verdient,
das ich nicht besitze. Wenn  du recht hattest, war ich ein Halunke. Wenn ich
kein Halunke war, war alles, was du tatest, falsch."
     "Es war alles falsch", sagte sie und stand auf. "Leb wohl, Fabian."
     Er folgte ihr und war mit sich sehr zufrieden. Er kränkte sie, weil er
ein Recht dazu hatte, aber war das ein Grund? Auf der Tiergartenstraße
holte er sie ein. Sie gingen schweigend und taten sich und einander leid. Er
dachte noch: "Wenn sie jetzt fragt, soll ich zu dir zurückkommen, was werde
ich antworten? Ich habe noch sechsundfünfzig Mark in der Tasche."
     "Es war so  schrecklich  gestern", sagte  sie  plötzlich.  "Er  war  so
widerwärtig! Was soll erst daraus werden, wenn du mich nicht mehr magst? Nun
brauchten  wir keine Sorgen zu haben, und  sie sind  größer als zuvor.
Was fange ich an, wenn ich weiß, du willst mich nicht mehr sehen?"
     Er faßte ihren  Arm. "Vor allem, nimm  dich zusammen. Das  Rezept
ist alt, aber brauchbar. Du hast dir den Kopf abgehackt, gib acht, daß
es  wenigstens  nicht  umsonst war.  Und  entschuldige, daß  ich dich
vorhin so gekränkt habe."
     "Ja, ja."  Sie war  noch traurig und schon wieder froh.  "Und darf  ich
morgen nachmittag zu dir kommen?"
     "Es ist gut", sagte er.
     Da  umarmte  sie  ihn  mitten auf  der Straße,  küßte  ihn,
flüsterte: "Ich danke dir", und rannte aufschluchzend davon.
     Er  blieb  stehen. Ein Spaziergänger rief: "Sie  können lachen!" Fabian
wischte  mit  der Hand  über den Mund und ekelte sich. Was hatten  Cornelias
Lippen  inzwischen  berührt?  Half  es  ihm, daß sie  sich die  Zähne
geputzt hatte? War seinem Abscheu mit Hygiene beizukommen?
     Er überschritt die Straße  und trat in den  Park.  Moral  war die
beste Körperpflege. Wasserstoffsuperoxyd zum Gurgeln genügte nicht.
     Und erst jetzt fiel  ihm ein, wo er in  der vergangenen  Nacht  gewesen
war.
     Er wollte nicht  in die Müllerstraße zurück. Aber der bloße
Gedanke  an sein eigenes  Zimmer,  an  die  Neugier  der Witwe  Hohlfeld, an
Cornelias  leere  Stube,  an  die  ganze  einsame Nacht, die ihn  erwartete,
während  ihn  Cornelia  zum  zweiten  Mal  betrog,  trieb   ihn   durch  die
Straßen,  dem Norden zu,  in  die Müllerstraße  hinein, in jenes
Haus und zu der Frau, die er nicht wiedersehen wollte. Sie strahlte. Sie war
stolz, daß er wiederkam, und froh, daß sie ihn wieder hatte. "So
ist's recht", sagte sie zur Begrüßung. "Komm, du wirst Hunger haben."
     Sie hatte  im Wohnzimmer gedeckt. "Wir essen sonst in der Küche", sagte
sie. "Aber wozu hat man seine Dreizimmerwohnung?" Es gab Wurst und Schinken
und  Camembert. Plötzlich legte sie  Messer  und  Gabel  beiseite,  murmelte
"Hokuspokus!" und  brachte eine  Flasche Mosel zum Vorschein.  Sie schenkte
ein und stieß mit ihm an.  "Auf unser Kind!" rief sie. "Wie du soll es
sein, und wenn's kein Junge wird, mußt du strafexerzieren!"
     Sie  trank  das  Glas leer,  goß  wieder ein  und hatte glänzende
Augen. "So ein  Glück, daß ich dich traf", sagte sie und trank weiter.
"Wein regt mich schrecklich auf." Sie fiel ihm um den Hals.
     Da klapperten draußen die Schlüssel. Schritte kamen  den Korridor
entlang.  Die Tür ging  auf. Ein mittelgroßer,  untersetzter Mann trat
ins  Zimmer. Die Frau sprang auf. Sein Gesicht wurde  düster. "Wünsche guten
Appetit allerseits", sagte er und näherte sich der Frau.
     Sie schob sich rückwärts, und ehe er sie  erreicht hatte, riß sie
die Tür zum Schlafzimmer auf, sprang hinüber, schlug die Tür zu und riegelte
ab.
     Der Mann rief: "Du kriegst schon noch den Hintern voll!" Er drehte sich
zu Fabian herum, der sich verlegen erhoben hatte: "Behalten Sie bitte Platz.
Ich bin der Gatte."  Sie saßen einander eine Weile gegenüber, ohne  zu
sprechen.  Dann nahm der  Mann die Moselflasche  in  die  Hand,  betrachtete
umständlich das Etikett und schenkte sich ein Glas voll. Er trank und meinte
hinterher: "Die Züge sind
     um diese Zeit schrecklich überfüllt."
     Fabian nickte zustimmend.
     "Aber der Wein ist gut. Hat er Ihnen geschmeckt?" fragte der Mann.
     "Ich mache  mir  nicht viel  aus  Weißwein",  erklärte Fabian und
stand auf.
     Der andere folgte ihm. "Sie wollen schon gehen?" fragte er.
     "Ich möchte nicht länger stören", erwiderte Fabian.
     Plötzlich  sprang ihm  der Reisende an  den Hals und würgte ihn. Fabian
gab ihm einen Faustschlag in die Zähne. Der Mann ließ los, setzte sich
und hielt die Backe.
     "Entschuldigen Sie vielmals", sagte Fabian betrübt. Der Mann winkte ab,
spuckte rot ins Taschentuch und war vollauf mit sich beschäftigt.
     Fabian verließ die Wohnung. Wo sollte er jetzt noch hingehen?  Er
fuhr nach Hause.
     ACHTZEHNTES KAPITEL
     Er geht aus Verzweiflung nach Hause
     Was mag die Polizei wollen ?
     Ein trauriger Anblick
     Obwohl  Fabian sehr leise aufschloß, empfing ihn Frau Hohlfeld im
Korridor.  Sie   trug,  weil  es   Abend  war,   einen  Morgenrock  und  war
außerordentlich aufgeregt. "Ich  habe  meine Tür offengelassen, um Sie
zu hören", sagte sie. "Die Kriminalpolizei war da. Man wollte Sie holen."
     "Die Kriminalpolizei?" fragte er überrascht. "Wann war sie da?"
     "Vor  drei  Stunden  und vor  einer  Stunde  wieder.  Sie  sollen  sich
unverzüglich  melden.  Ich  habe  natürlich erzählt,  daß  Sie  in der
vorigen  Nacht  nicht  zu  Hause  waren  und  daß Fräulein  Battenberg
gestern,  ohne  ein Wort zu sagen, das Zimmer  geräumt  hat und verschwunden
ist."  Die Witwe wollte einen Schritt  näherkommen,  statt  dessen  trat sie
einen  Schritt zurück.  "Es ist  furchtbar", flüsterte  sie ergriffen,  "was
haben Sie da angestellt?"
     "Liebe  Frau Hohlfeld", antwortete  er. "Ihre Phantasie hat die Motten.
Das möchte  Ihnen passen, ein kleines Liebesdrama mit letalem Ausgang, wie?
Frau Hohlfeld als Zeugin in Trauerkleidung, Ihre beiden Untermieter in allen
Zeitungen abgebildet, der Mörder Fabian auf der Anklagebank, bilden Sie sich
keine Schwachheiten ein!"
     "Nun", sagte sie, "mich  geht  es  ja  nichts  an." Seine Verstocktheit
kränkte sie  tief. Zwei Jahre wohnte dieser Mensch bei  ihr, hatte  sie  ihn
nicht wie ihren Sohn gehegt und gepflegt? Und jetzt hielt er es nicht einmal
für nötig, sein Herz auszuschütten.
     "Wo soll ich mich melden?" fragte er.
     Sie gab ihm einen Zettel. Er las die Adresse.
     "Da  haben  wir's",  sagte  sie triumphierend.  "Warum sind Sie denn so
blaß geworden?"
     Er riß die Tür auf und  jagte die Treppe hinunter.  Am Nürnberger
Platz hielt er ein Auto  an, nannte die Adresse und sagte:  "Fahren  Sie, so
schnell Sie können!"
     Der Wagen  war alt und gebrechlich und holperte  sogar auf dem Asphalt.
Fabian zerrte das Schiebefenster auf:
     "Fahren  Sie doch  schneller!" rief  er. Dann  versuchte er zu rauchen,
aber   seine  Hand  zitterte,  und  der  Wind   blies  ihm  die   brennenden
Streichhölzer aus. Er lehnte sich zurück  und  schloß  die Augen.  Von
Zeit  zu  Zeit  öffnete  er  sie und  sah  nach,  wo sie waren.  Tiergarten,
Tiergarten,  Tiergarten,  Brandenburger Tor.  Unter den  Linden.  An  jeder
Straßenecke  mußten sie halten. An  jeder Verkehrsampel  glühte,
kurz bevor sie anlangten, das rote Licht auf. Ihm war, als  führen sie durch
zähen, dickflüssigen Leim. Hinter der Friedrichstraße wurde es besser.
Universität, Staatsoper, Dom und  Schloß lagen endlich im  Rücken. Das
Auto bog rechts ein. Es hielt. Fabian zahlte und  lief gehetzt ins Haus. Ein
fremder  Mann öffnete. Fabian  nannte  seinen  Namen. "Endlich",  sagte  der
fremde Mann.  "Ich bin Kriminalkommissar Donath. Wir kommen ohne  Sie  nicht
weiter."
     Im  ersten  Zimmer saßen  fünf junge  Damen,  ein Polizist  stand
dabei. Fabian erkannte die Selow und die  Bildhauerin. "Endlich",  sagte die
Selow. Das Zimmer war demoliert, Gläser und Flaschen lagen am Boden.
     Im nächsten Zimmer stand  ein junger Mann vom Schreibtisch auf.  "Mein
Assistent", erklärte der Kommissar. Fabian blickte sich um und erschrak. Auf
dem  Sofa lag Labude, kalkweiß, mit  geschlossenen Augen, Labude hatte
ein Loch in der Schläfe. Geronnenes Blut verklebte die Haare.
     "Stephan", sagte Fabian leise  und  setzte sich  neben  die  Leiche. Er
legte seine Hand auf die eisigen Hände des Freundes und schüttelte den Kopf.
     "Aber Stephan", sagte er, "das macht  man doch nicht." Die zwei Beamten
traten ans Fenster. "Doktor Labude  hat für  Sie  einen Brief hinterlassen",
berichtete  der Kommissar. "Wir  bitten Sie, den Brief zu lesen und uns über
den  Inhalt, soweit  es uns  interessiert, zu  unterrichten. Wir teilen Ihre
Vermutung,  daß  es sich um  einen  Selbstmord handelt,  und die  fünf
jungen  Damen,  die wir  vorläufig  in  der  Wohnung zurückbehalten  haben,
behaupten, im Nebenzimmer gewesen zu sein,  als der  Schuß  fiel. Aber
ganz  aufgeklärt scheint  der Vorfall  nicht. Sie werden vielleicht  bemerkt
haben, daß das Nebenzimmer demoliert worden ist. Was hat  es damit für
eine Bewandtnis?"
     Der  Kriminalassistent  reichte  Fabian  ein  Kuvert.  "Wollen  Sie  so
freundlich sein und den Brief lesen? Die Damen  behaupten, das Zimmer sei im
Laufe einer  privaten  Meinungsverschiedenheit in Unordnung geraten. Doktor
Labude  habe damit  nichts zu tun gehabt. Er sei nicht einmal dabeigewesen,
sondern habe gesagt, er wolle einen Brief schreiben,  und dann sei er in das
Zimmer hier gegangen."
     "Die  Damen stehen, wie  sich  aus Andeutungen entnehmen ließ, in
einigermaßen  ungewöhnlichen Beziehungen zueinander.  Ich vermute,  es
gab  eine  Art  von  Eifersuchtsszene   zwischen   ihnen",  erläuterte  der
Kommissar.   "Sie   haben,  und  auch  das  spricht   gegen   ihre  konkrete
Mittäterschaft,  sofort  die Polizei  verständigt  und  uns  hier  erwartet,
anstatt davonzulaufen.  Wollen Sie, bitte, den Brief lesen?"  Fabian öffnete
das  Kuvert  und  nahm den  gefalteten  Briefbogen  heraus.  Dabei  fiel ein
Banknotenbündel zur Erde. Der Assistent hob es auf und legte es aufs Sofa.
     "Wir  warten nebenan",  sagte  der  Kommissar rücksichtsvoll, und  sie
ließen Fabian allein. Er  erhob sich  und  brannte das  Licht an. Dann
setzte er sich  wieder  und sah  auf  den  toten Freund, dessen  gelbes,  in
Müdigkeit erfrorenes  Gesicht  genau unter der Lampe  lag. Der  Mund war ein
wenig  geöffnet,  der  Unterkiefer gab  nach. Fabian faltete den  Briefbogen
auseinander und las: "Lieber Jakob!
     Als  ich  heute  mittag  im  Institut  war, um  mich  wieder einmal  zu
erkundigen, war der Geheimrat  wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein
Assistent,  war  da,  und  er  sagte  mir,  meine  Habilitationsschrift  sei
abgelehnt   worden.  Der   Geheimrat  habe   sie  als   völlig   ungenügend
charakterisiert  und erklärt, sie  der Fakultät weiterzugeben, halte er für
Belästigung. Außerdem habe es keinen Zweck, meine  Blamage populär  zu
machen.  Fünf Jahre hat mich diese  Schrift gekostet, es war die fünfjährige
Arbeit  an einer Blamage, die man nur aus Barmherzigkeit  im engsten Kreise
begraben will.
     Ich dachte daran, Dich anzurufen, aber ich schämte  mich. Ich habe kein
Talent zum  Trostempfänger, auch hierin bin ich talentlos. Das Gespräch über
Leda,  das wir  vor Tagen  miteinander  hatten,  überzeugte mich  davon.  Du
hättest mich über  die mikroskopische  Bedeutung  meines wissenschaftlichen
Unfalls  aufgeklärt, ich hätte  Dir  zum  Schein  recht gegeben, wir  hätten
einander  belogen.   Die   Ablehnung  meiner  Arbeit   ist,   faktisch   und
psychologisch,  mein  Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zurück,
die Universität weist mich zurück,  von allen Seiten  erhalte ich die Zensur
Ungenügend. Das hält mein Ehrgeiz nicht aus, das bricht meinem Kopf das Herz
und meinem Herzen das Genick, Jakob. Mir hilft keine historische Statistik,
wie viele  bedeutende  Männer  schlechte  Schüler und unglückliche Liebhaber
waren.
     Mein  politischer  Ausflug nach  Frankfurt war auch  zum  Bespeien.  Am
Schluß prügelten wir uns. Als ich gestern wiederkam, lag die Selow mit
der  Bildhauerin   in  meinem  Bett,  ein  paar  andere  Frauenzimmer  gaben
Hilfestellung.  Und  jetzt,  während ich  schreibe, schmeißen  sie  im
Nebenzimmer  mit  Gläsern  und  Blumenvasen.  Ich  kann,  wenn  ich  meinen
augenblicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung paßt mir
nicht! Aus den Bezirken, in die ich gehöre, wies man mich aus. Dort,  wo man
mich aufnehmen will, will ich nicht hin. Sei mir nicht böse, mein Guter, ich
haue ab. Europa wird  auch ohne mich weiterleben oder zugrunde gehen, es hat
mich nicht nötig. Wir  stecken in einer Zeit,  wo der ökonomische  Kuhhandel
nichts  ändert,   er   wird  den   Zusammenbrach   nur  beschleunigen   oder
vergrößern.  Wir  stehen   an   einem  der  seltenen   geschichtlichen
Wendepunkte,  wo  eine  neue  Weltanschauung konstituiert werden  muß,
alles  andere  ist  nutzlos.  Ich  habe  nicht  mehr den Mut, mich  von  den
politischen Fachleuten auslachen  zu  lassen, die mit ihren Mittelchen einen
Kontinent zu Tode kurieren. Ich weiß, daß ich recht  habe,  doch
heute genügt  mir das nicht  mehr.  Ich bin eine lächerliche Figur geworden,
ein  in  den Fächern  Liebe und Beruf  durchgefallener  Menschheitskandidat.
Laß  mich  den  Kerl  umbringen.  Der  Revolver,  den ich  neulich  am
Märkischen Museum dem Kommunisten  abnahm, kommt  zu  neuen Ehren. Ich nahm
ihn an  mich, damit kein  Unglück angerichtet würde. Lehrer hätte ich werden
müssen, nur die Kinder sind für Ideale reif.
     Also,  Jakob, leb wohl.  Fast hätte ich  ganz ernsthaft hingeschrieben:
ich werde oft  an Dich denken.  Aber damit  ist  es ja  nun aus. Trag es mir
nicht nach, daß ich uns so enttäusche. Du bist der einzige Mensch, den
ich  liebhatte,  obwohl  ich ihn kannte. Grüße  meine  Eltern, und vor
allem Deine Mutter. Wenn du Leda zufällig einmal begegnen solltest, sage ihr
nicht,  wie  schwer  mich  ihr Betrug traf. Sie mag  glauben,  ich wäre  nur
gekränkt gewesen. Es braucht nicht jeder alles zu wissen.
     Ich würde Dich bitten,  meine  Angelegenheiten zu  regeln, aber es gibt
nichts,  was  der Regelung bedürfte. Die  Wohnung  Nummer zwei sollen  meine
Eltern auflösen, mit den Möbeln können sie tun, was sie wollen. Meine Bücher
gehören Dir. Ich fand vorhin in meinem Schreibtisch zweitausend  Mark, nimm
das Geld, viel ist es nicht, zu einer kleinen Reise wird es reichen.
     Leb wohl, mein Freund. Lebe besser als ich. Mach's gut.
     Dein Stephan."
     Fabian  strich  dem Toten behutsam über die Stirn. Der Unterkiefer  war
noch tiefer  herabgesunken. Der Mund  klaffte auf. "Daß  man lebt, ist
Zufall;  daß  man  stirbt,  ist  gewiß",  flüsterte  Fabian  und
lächelte dem Freunde zu, als wolle er ihn jetzt noch trösten.
     Der Kommissar öffnete leise die  Tür. "Entschuldigen Sie, daß ich
schon wieder störe." Fabian reichte ihm den Brief. Der Beamte las und sagte:
"Da kann ich ja die  Mädchen nach Hause schicken." Er gab den  Brief  zurück
und ging ins Nebenzimmer. "Die Sache ist erledigt, ich will Sie nicht länger
aufhalten", rief er.
     "Nur  noch  einen Augenblick",  sagte eine weibliche Stimme. "Ich habe
ein  Faible  für Tote." Die fünf  Frauen  drängten  sich  durch die Tür  und
standen  schweigend  vor  dem  Sofa.   "Man  müßte  ihm  die  Kinnlade
hochbinden",  sagte schließlich ein  Mädchen, das Fabian nicht kannte.
Die  Bildhauerin  lief ins  andere Zimmer  und kehrte  mit  einer  Serviette
wieder.  Sie band Labude  den Unterkiefer  hoch, so  daß der Mund sich
schloß, und knüpfte die Enden der  Serviette auf  seinem  Kopfhaar  zu
einem Knoten.
     "Ein Toter mit Zahnschmerzen", bemerkte die Selow und lachte bösartig.
     Ruth Reiter  sagte:  "Es ist  eine  Schande. Bei  mir im  Atelier sitzt
Wilhelmy  und wird von Tag  zu Tag gesünder, das  Schwein, obwohl  die Ärzte
jede Hoffnung aufgegeben haben.  Und dieser  kräftige junge Kerl hier bringt
sich um die Ecke."
     Dann  schob der  Assistent die  Frauen  aus  dem Zimmer. Der  Kommissar
setzte sich  an  den Schreibtisch  und  entwarf  einen  Polizeibericht.  Der
Assistent  kam  zurück.  "Ist  es  nicht  das  beste, wenn wir  einen  Wagen
bestellen und den Toten  in die Villa der Eltern bringen lassen?" fragte er.
Dann bückte er  sich.  Die  Geldscheine waren vom  Sofa gefallen  und  lagen
wieder auf der Erde. Er hob sie auf und steckte sie Fabian in die Tasche.
     "Sind die Eltern eigentlich schon verständigt?" fragte Fabian.
     "Sie sind leider nicht erreichbar", erwiderte der Assistent. "Justizrat
Labude befindet sich auf einer kleinen  Reise,  das  Hauspersonal weiß
nichts Näheres. Die Mutter ist in Lugano. Man hat ihr depeschiert."
     "Also gut", sagte Fabian. "Bringen  wir ihn  nach Hause!" Der Assistent
telefonierte der nächsten Feuerwache. Dann warteten sie alle drei stumm, bis
der  Wagen  kam. Sanitäter packten Labude auf  eine Bahre und trugen ihn die
Treppe hinunter. Vor dem Haus standen Neugierige  aus der Nachbarschaft. Die
Bahre  wurde  in   den  Wagen  geschoben.  Fabian   setzte  sich  neben  den
ausgestreckten Freund. Die Beamten  verabschiedeten sich. Er  gab  ihnen die
Hand. Ein Sanitäter klappte die Leiter hoch und schloß die Tür. Fabian
und Labude fuhren zum letzten Male gemeinsam durch Berlin.
     Das Fenster war heruntergelassen, in seinem Rahmen zeigte sich der Dom.
Dann wechselte das Bild. Fabian sah die Schinkelsche Wache, die Universität,
die Staatsbibliothek. Wie lange war das her, daß sie hier miteinander
im Autobus gefahren waren?
     Am selben Abend hatten  sie,  draußen am  Märkischen Museum, zwei
Raufbolden  die  Revolver abgenommen. Nun lag  Labude  auf der  Bahre,  fuhr
durchs Brandenburger Tor  und wußte nichts mehr  davon.  Zwei straffe
Gurte hielten ihn fest. Der Kopf rutschte langsam schräg.
     "Denkst du  nach?"  fragte  Fabian leise,  schob Labudes  Kopf auf  dem
Kissen  wieder  zurecht  und  ließ  die  Hand  dort.  "Ein  Toter  mit
Zahnschmerzen", hatte die Selow gesagt.
     Als   das   Krankenauto   vor  der   Grunewaldvilla  hielt,  stand  das
Dienstpersonal  an  der  Tür. Die Haushälterin schluchzte, der  Diener  ging
würdevoll  vor  den Sanitätern  her, die  Mädchen  folgten, ihre  Füße
hielten mit der ernsten Stunde Schritt. Labude wurde in sein Zimmer gebracht
und auf das Sofa gelegt. Der Diener öffnete die Fenster weit.
     "Die Leichenfrau kommt morgen  früh", sagte  die Haushälterin, und nun
schluchzten  auch   die  Mädchen.  Fabian  gab  den   Sanitätern  Geld.  Sie
grüßten militärisch und gingen.
     "Der Herr Justizrat ist noch immer nicht da", bemerkte der Diener. "Ich
habe keine  Ahnung, wo er sich  aufhält. Aber  er wird es ja in der  Zeitung
lesen."
     "Es steht schon in der Zeitung?" fragte Fabian.
     "Jawohl", entgegnete  der Diener. "Die gnädige Frau ist benachrichtigt.
Sie dürfte morgen mittag in Berlin  eintreffen,  wenn ihr Zustand die Reise
gestattet. Der FD-Zug ist um diese Stunde in Bellinzona."
     "Gehen Sie schlafen",  sagte Fabian. "Ich  bleibe die Nacht über hier."
Er zog  einen Stuhl zum Sofa. Die anderen verließen das Zimmer. Er war
allein.
     In Bellinzona war Labudes Mutter  jetzt?  Fabian setzte sich  neben den
Freund und dachte: "Welch eine Strafe für eine schlechte Mutter!"
     NEUNZEHNTES KAPITEL
     Fabian verteidigt den Fre