te sich in den Zug, der auf das Signal
zur Abfahrt wartete.
     Nur fort von hier! Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte weiter. Nur
fort!
     Fabian saß am Fenster und blickte hinaus. Die  Felder  und Wiesen
schwangen  wie  auf  einer  Drehscheibe.   Die  Telegraphenstangen  machten
Kniebeugen. Manchmal standen kleine  barfüßige Bauernkinder mitten  in
der tanzenden Landschaft und winkten mechanisch. Auf einer  Weide graste ein
Pferd. Ein  Fohlen  hüpfte den  Zaun  entlang  und schwenkte den  Kopf. Dann
fuhren sie  durch einen düsteren  Fichtenwald. Die  Stämme  waren von grauen
Flechten bewachsen. Die Bäume  standen da, als  seien sie aussätzig und  als
habe man ihnen verboten,  den Wald zu verlassen. Ihm war,  als suche  jemand
seine Augen.  Er wandte sich um und blickte  ins  Abteil.  Die Mitreisenden,
gleichgültige, gleichgültig dasitzende Leute, waren  mit sich beschäftigt.
Wer sah ihn an? Da entdeckte er, draußen im Gang, Frau Irene Moll. Sie
rauchte eine Zigarette und lächelte ihm zu. Als er sich nicht rührte, winkte
sie.
     Er trat hinaus.
     "Es ist skandalös, wie wir beiden  einander nachlaufen", sagte sie. "Wo
fährst du hin?"
     "Nach Hause."
     "Sei höflich", meinte sie. "Frage mich gefälligst, wo ich hin will."
     "Wo wollen Sie hin?"  Sie lehnte sich an ihn und flüsterte: "Ich türme.
Einer der  Schlafburschen hat mein Etablissement  verpfiffen. Ich  erfuhr es
heute  morgen von einem  Polizeibeamten, dessen Monatsgehalt  ich verdoppelt
habe. Kommst du mit nach Budapest?"
     "Nein", sagte er.
     "Ich habe hunderttausend Mark bei mir. Wir brauchen nicht nach Budapest
zu fahren. Wollen wir über Prag nach  Paris? Wir  werden im Claridge wohnen.
Oder wir gehen nach Fontainebleau und mieten eine kleine Villa."
     "Nein", sagte er. "Ich fahre nach Hause."
     "Komm mit", bat sie. "Ich habe  Schmuck bei mir. Wenn  wir  blank sind,
erpressen  wir   die  alten  Schachteln,  die  sich  bei   mir  beschlummern
ließen.  Ich  kenne  interessante  Einzelheiten,  Gucklöcher haben ihr
Gutes. Oder willst du lieber nach Italien? Was hältst du von Bellagio?"
     "Nein", sagte er, "ich fahre zu meiner Mutter."
     "Du verdammter  Esel",  flüsterte  sie  ärgerlich.  "Soll  ich vor  dir
niederknien und dir eine Liebeserklärung machen? Was hast du gegen mich? Bin
ich dir zu aufgeklärt?  Ist dir  eine dumme Gans lieber? Ich habe es endlich
satt, nach der ersten besten Hose zu greifen. Du gefällst mir. Wir  begegnen
einander immer wieder.  Das kann kein Zufall  sein."  Sie  faßte seine
Hand und streichelte seine Finger. "Ich bitte dich, komm mit."
     "Nein", sagte  er. "Ich komme  nicht mit. Reisen  Sie  gut." Er  wollte
wieder in sein Abteil.
     Sie hielt  ihn  zurück. "Schade,  jammerschade.  Vielleicht ein  andres
Mal."  Sie öffnete ihre Handtasche. "Brauchst  du Geld?" Sie  wollte ihm ein
paar  Banknoten  m die  Hand stecken.  Er  schloß die Hand zur  Faust,
schüttelte den Kopf und ging ins Kupee.
     Sie  blieb noch eine Weile vor der  Tür des Abteils und sah ihn an.  Er
blickte durchs Fenster. Man fuhr durch ein Dorf.
     Es  war gegen  sechs Uhr abends, als er ankam. Er  trat aus dem Bahnhof
und  sah  die  Dreikönigskirche.  Ihm  schien, sie  musterte  ihn  von  oben
herunter: Warum  holt dich heute niemand ab und warum kommst du ohne Koffer?
Er ging  den  Dammweg entlang und durchschritt den alten Viadukt. Ein endlos
langer Güterzug ratterte drüber hin,  die Steinwölbung dröhnte. Das Haus, in
dem früher der  Lehrer  Schanze  gewohnt hatte,  war  frisch gestrichen. Die
anderen  Häuser  standen  unverändert  in  ihrer grauen,  ihm seit  Kindheit
bekannten Front. In dem Eckhaus, das der Hebamme  Schröder gehörte,  war ein
neues  Geschäft  eröffnet  worden,  ein  Fleischerladen,  noch standen  die
Blumenstöcke im Schaufenster.
     Langsam näherte er  sich dem Haus, in dem er  geboren war. Wie vertraut
ihm die Straße war. Er kannte die Fassade, er kannte die Höfe,  Keller
und Böden, überall war er  hier beheimatet. Aber die Menschen,  die  aus den
Häusern traten,  waren  ihm fremd. Er  blieb  stehen. "Seifengeschäft" stand
über dem Laden. Ein Zettel klebte am Fenster.  Er  las: "Nun auch Feinseifen
herabgesetzt.  Hausmarke Lavendel  zwanzig statt  zweiundzwanzig  Pfennige.
Torpedoseife fünfundzwanzig  statt achtundzwanzig Pfennige." Er ging bis zur
Tür.
     Seine  Mutter  stand hinter dem Ladentisch, zwei Frauen standen  davor.
Die  Mutter  bückte sich gerade  und stellte  ein  Paket Waschpulver auf den
Tisch, dann  schnitt sie einen Riegel  Kernseife mittendurch.  Dann nahm sie
einen Bogen Packpapier und einen Holzlöffel, schaufelte Schmierseife aus dem
Faß, wog sie ab  und wickelte sie ein. Er spürte den Seifengeruch  bis
auf die Straße.
     Dann klinkte er  die  Ladentür auf. Die Glocke bimmelte. Die  alte Frau
sah auf und ließ erschrocken die Hände sinken.
     Er ging auf sie zu und sagte mit zitternder Stimme: "Mutter, Labude hat
sich  erschossen." Und  plötzlich liefen ihm die Tränen aus  den  Augen.  Er
öffnete die  Tür,  die  ins  Hinterzimmer  führte,  schloß sie wieder,
setzte sich in den Lehnstuhl vorm Fenster, blickte  in den Hof hinaus, legte
langsam den Kopf aufs Fensterbrett und weinte.
     ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
     Besuch in der Kinderkaserne
     Kegelschieben im Park
     Die Vergangenheit biegt um die Ecke
     "Was hat er denn?" fragte der Vater am nächsten Morgen.
     "Seine Stellung  hat er verloren", sagte die  Mutter. "Und  sein Freund
hat sich umgebracht, Labude, weißt du, den er seinerzeit in Heidelberg
kennenlernte."
     "Ich  wußte gar  nicht, daß er einen Freund  hatte", meinte
der Vater. "Man erfährt ja nichts."
     "Du hörst nur nicht zu", sagte die Mutter. Da läutete die  Ladenglocke.
Als Frau Fabian wieder ins Zimmer trat, las der Mann die Zeitung.
     "Außerdem hat er mit einem jungen Mädchen Pech gehabt",  fuhr sie
fort. "Aber darüber spricht er sich  nicht näher  aus.  Sie hat Rechtsanwalt
studiert und geht zum Film."
     "Schade um das Geld fürs Studium", erklärte der Mann.
     "Ein hübsches Mädchen",  sagte Fabians Mutter. "Aber sie lebt mit einem
dicken Kerl zusammen, einem Filmdirektor, das reinste Brechmittel."
     "Wird er lange hierbleiben?" fragte der Vater.
     Die Mutter zuckte  die Achseln und goß sich Kaffee ein.  "Tausend
Mark hat  er mir gegeben. Labude hat ihm das Geld hinterlassen. Ich werde es
aufheben. Der Junge hat einen Knacks wegbekommen, ich kann mir nicht helfen.
Und das hat nichts mit Labude zu tun, und nichts mit der Filmschauspielerin.
Er glaubt  nicht an Gott,  es muß  damit zusammenhängen. Ihm fehlt der
ruhende Punkt."
     "Als ich so alt war wie er, war ich schon fast zehn Jahre verheiratet",
sagte der Vater.
     Fabian  lief die  Heerstraße entlang, an der  Garnisonskirche und
den Kasernen vorüber. Der runde kiesbestreute Platz vor der Kirche war leer.
Wann war  das denn  gewesen,  daß er hier  gestanden hatte, ein Soldat
unter  Tausenden,  die  Hosen lang,  den Helm  auf  dem Kopf,  gerüstet  zur
feldgrauen Predigt,  siebzehnjährig, bereit zu hören, was  der deutsche Gott
seinen  Armeen  mitteilen  ließ?  Er   blieb  am  Tor  der  ehemaligen
Fußartilleriekaserne  stehen  und  lehnte  sich  an  die   Eisenstäbe.
Antreten zum Dienstverlesen, Geschützexerzieren, Ausmarsch zum Nachtdienst,
Vortrag  über Kriegsanleihe, Löhnungfassen, was war alles auf  diesem blöden
Hof geschehen. Hatte er hier nicht  gehört, wie  die alten Soldaten, ehe sie
zum  dritten  und  vierten   Male  feldmarschmäßig  abgeführt  wurden,
miteinander  um  ein Kommißbrot wetteten, wer  am  schnellsten zurück
sein werde?  Und  waren sie nicht,  eine Woche später,  in  lumpiger Uniform
wieder aufgetaucht, einen Tripper echt Brüsseler Abstammung am Leibe? Fabian
ließ das Gitter los und ging weiter an  den alten protzigen Grenadier-
und Infanteriekasernen vorbei. Hier war der Park  und  die Schule, in der er
jahrelang gesessen und gelebt hatte,  ehe er mit Linksdrall, Scherenfernrohr
und  Lafettenschwanz bekanntgemacht wurde. Die Straße, die sich zu der
Stadt hinuntersenkte, abends war er sie heimlich entlanggerannt, nach Hause,
zur Mutter, auf  wenige Minuten. Ob Schule,  Kadettenanstalt,  Lazarett oder
Kirche,  an  der  Peripherie  dieser Stadt war  jedes  Gebäude eine  Kaserne
gewesen.
     Noch immer lag das große, graue Gebäude mit den schiefergedeckten
spitzen Ecktürmen da, als sei es bis unters Dach mit Kindersorgen angefüllt.
Die  Fenster   der  Direktionswohnung  waren  noch  immer  mit  weißen
Gardinen  geziert,  im  Gegensatz  zu  den  vielen  schwarzen  schmucklosen
Fenstern, hinter  denen  die Klassenzimmer, die  Wohnräume der Schüler,  die
Schrankzimmer und die Schlafsäle lagen. Früher hatte er immer  geglaubt, das
riesige Haus  müsse nach der Seite, auf der die Direktorwohnung lag, tief in
die Erde sinken, so schwerwiegend war ihm die Tatsache erschienen, daß
hier Gardinen an den  Fenstern hingen. Er  ging durch das Tor und  stieg die
Stufen hinauf. Aus den Klassenzimmern  drangen dunkle und helle Stimmen. Der
leere Korridor war erfüllt davon. Aus der ersten Etage wehten Chorgesang und
Klavierspiel.  Fabian verschmähte  die breite Freitreppe, er kletterte  im
Seitenflügel  die  schmalen  Stufen  hinan,  zwei kleine  Schüler  kamen ihm
entgegen.
     "Heinrich", rief der eine, "du sollst sofort zum  Storch kommen und die
Hefte holen."
     "Der wird's wohl erwarten können",  sagte  Heinrich und ging krampfhaft
langsam durch die schwankende Glastür.
     "Der Storch", dachte Fabian, "es hat  sich nichts geändert." Dieselben
Lehrer  waren  noch da, die  Spitznamen  waren  geblieben. Nur  die  Schüler
wechselten.  Ein Jahrgang nach  dem ändern wurde erzogen und gebildet. Früh
läutete   der   Hausmeister.   Die   Jagd  begann:  Schlafsaal,   Waschsaal,
Schrankzimmer,  Speisesaal.  Die  Jüngsten  deckten  den  Tisch,  holten die
Butterdosen  aus  dem  Eisschrank und die emaillierten Kaffeekannen aus dem
Aufzug.  Die Jagd  ging weiter:  Wohnzimmer,  Staubwischen,  Klassenzimmer,
Unterricht, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch fürs Mittagessen. Die
Jagd  ging weiter: Freizeit,  Gartendienst,  Fußballspiel, Wohnzimmer,
Schularbeiten, Klassenzimmer, Speisesaal.  Die  Jüngsten  deckten den  Tisch
fürs Abendbrot.  Die Jagd ging weiter: Wohnzimmer, Schularbeiten, Waschsaal,
Schlafsaal. Die Primaner durften zwei Stunden länger aufbleiben und rauchten
im  Park Zigaretten.  Es  hatte  sich  nichts  geändert, nur  die  Jahrgänge
wechselten.
     Fabian  stand in  der  dritten Etage  und öffnete  die  Tür  zur  Aula.
Morgenandacht,  Abendandacht, Orgelspiel, Kaisers  Geburtstag,  Sedanfeier,
Schlacht  bei Tannenberg, Fahnen  im  Turm,  Osterzensuren,  Entlassung  der
Einberufenen, Eröffnung der Kriegsteilnehmerkurse, immer wieder  Orgelspiel
und Festreden voller Frömmigkeit und Würde. Einigkeit und Recht und Freiheit
hatte sich in der Atmosphäre  dieses Raumes festgebissen. Ob es noch  so wie
früher war, daß man, kam ein Lehrer vorüber, strammstehen mußte?
Mittwochs gab  es zwei und sonnabends  drei  Stunden  Ausgang. Ob man immer
noch, wenn der Ausgang entzogen worden war, vom  Inspektor angehalten wurde,
Zeitungen mit Hilfe einer Schere in Abortpapiere zu verwandeln? War  es denn
nicht auch manchmal schön gewesen?  Hatte er immer nur die Lüge gespürt, die
hier   umging,   und   die   böse   heimliche   Gewalt,   die   aus   ganzen
Kindergenerationen gehorsame Staatsbeamte und bornierte  Bürger  machte? Es
war manchmal schön gewesen, aber nur trotzdem. Er verließ die Aula und
stieg  die  düstere Wendeltreppe zu den Wasch-  und  Schlafsälen  hinauf. In
langer Front  standen die  eisernen  Bettstellen. An  den Wänden hingen  die
Nachthemden militärisch ausgerichtet. Ordnung mußte sein. Nachts waren
die Primaner  aus  dem  Park herausgekommen und hatten sich zu erschrockenen
Quintanern und Quartanern ins Bett gelegt. Die  Kleinen hatten geschwiegen.
Ordnung  mußte  sein.  Er  trat  ans Fenster.  Unten  im Flußtal
schimmerte die Stadt mit ihren alten Türmen und Terrassen.
     Wie oft war er, wenn die anderen  schliefen, hierher geschlichen, hatte
hinabgeblickt und  das Haus  gesucht, in  dem  die Mutter krank lag. Wie oft
hatte  er  den  Kopf  gegen  die   Scheiben  gepreßt  und  das  Weinen
unterdrückt.  Es  hatte  ihm nichts  geschadet, das Gefängnis nicht und  das
unterdrückte Heulen  nicht,  das  war  richtig. Damals  hatte man ihn  nicht
kleingekriegt.  Ein  paar  hatten sich  erschossen.  Es  waren  nicht viele
gewesen.  Im Krieg hatten schon mehr daran glauben müssen. Später waren noch
etliche gestorben. Heute war die Hälfte der Klasse tot. Er stieg die Treppen
hinunter, verließ das  Gebäude und ging in  den Park.  Mit Reisigbesen
und  Schaufeln  und  spitzen  Stöcken  waren   sie  hinter  einem  Handwagen
hergetrabt,  hatten  welkes Laub zusammengekehrt und Papier,  das  herumlag,
aufgespießt. Der Park war groß,  er senkte sich zu einem kleinen
Bach hinab.
     Fabian  lief auf  den alten, vertrauten Pfaden, setzte  sich  auf  eine
Bank,  blickte  in  die  Wipfel  der  Bäume,  ging  weiter  und wehrte  sich
vergeblich dagegen, daß ihn  das,  was er  sah, zurückverwandelte. Die
Säle  und  Zimmer  und  Bäume  und  Beete,  die  ihn umgaben,  waren  keine
Wirklichkeit,   sondern  Erinnerungen.  Hier   hatte   er   seine   Kindheit
zurückgelassen,  und nun fand er  sie wieder.  Sie sank von den Zweigen  und
Wänden und  Türmen auf ihn herab und  bemächtigte  sich  seiner. Er  schritt
immer tiefer hinein in den melancholischen Zauber. Er kam zur Kegelbahn, die
Kegel standen schußfertig.  Fabian sah sich um, er war allein, da nahm
er eine große Kugel aus dem Kasten, holte aus, lief vor und ließ
die Kugel über die Bahn rollen. Sie machte ein paar kleine Sprünge. Die Bahn
war immer noch uneben. Sechs Kegel fielen klappernd um.
     "Was soll denn das?" fragte jemand ärgerlich. "Fremde haben hier nichts
zu  suchen!"  Es  war  der  Direktor.  Er  hatte  sich kaum  verändert.  Sem
assyrischer Bart war nur noch grauer geworden.
     "Entschuldigen  Sie",  sagte  Fabian,  zog  den  Hut  und  wollte  sich
entfernen.
     "Einen Augenblick", rief der Direktor. Fabian drehte sich um. "Sind Sie
nicht ein ehemaliger Schüler von uns?" fragte der Mann. Dann streckte er die
Hand  aus. "Natürlich,  Jakob  Fabian!  Herzlich willkommen!  Das ist nett.
Haben  Sie Sehnsucht  nach Ihrer  alten  Schule gehabt?" Sie begrüßten
sich.
     "Eine  böse  Zeit",  sagte  der  Direktor.  "Eine  gottlose  Zeit.  Die
Gerechten müssen viel leiden."
     "Wer sind die Gerechten?" fragte Fabian. "Geben Sie mir ihre Adresse."
     "Sie sind immer noch der alte",  meinte der Direktor. "Sie  waren immer
einer der besten  Schüler und einer der frechsten. Und wie weit haben Sie es
damit gebracht?"
     "Der Staat  ist im  Begriff,  mir  eine kleine Pension  zu bewilligen",
sagte Fabian.
     "Arbeitslos?" fragte der  Direktor  streng. "Ich hatte  mehr von  Ihnen
erwartet."
     Fabian lachte. "Die Gerechten müssen viel leiden", erklärte er.
     "Hätten Sie nur damals  Ihr  Staatsexamen gemacht", sagte der Direktor.
"Dann stünden Sie jetzt nicht ohne Beruf da."
     "Ich  stünde in  jedem Fall ohne  Beruf  da", entgegnete Fabian erregt.
"Auch  wenn  ich  ihn  ausübte.  Ich  kann  Ihnen  verraten,  daß  die
Menschheit mit Ausnahme der Pastoren und Pädagogen nicht mehr weiß, wo
ihr der Kopf steht. Der Kompaß  ist kaputt, aber hier, in diesem Haus,
merkt das niemand. Ihr fahrt nach wie vor in eurem Lift rauf und runter, von
der Sexta bis zur Prima, wozu braucht ihr einen Kompaß?"
     Der Direktor  schob  die Hände unter  die  Flügel  seines  Gehrocks und
sagte: "Ich bin  entsetzt. Es gäbe keine Aufgabe für Sie.  Gehen Sie hin und
bilden  Sie  Ihren  Charakter,  junger  Mensch!  Wozu  haben  wir Geschichte
getrieben?  Wozu   haben  wir   die  Klassiker  gelesen?   Runden  Sie  Ihre
Persönlichkeit ab!"
     Fabian  betrachtete   den  wohlgenährten,  selbstgefälligen  Herrn  und
lächelte. Dann sagte er: "Sie  mit Ihrer abgerundeten  Persönlichkeit!" und
ging.
     Auf der Straße  traf  er  Eva Kendler.  Sie kam mit zwei  Kindern
daher  und war ziemlich dick geworden.  Er wunderte  sich, daß er  sie
überhaupt erkannte. "Jakob!" rief sie und wurde rot. "Du hast dich gar nicht
verändert.  Sagt dem  Onkel  guten  Tag!"  Die Kinder gaben ihm die Hand und
machten Knickse. Es waren zwei Mädchen. Sie sahen ihrer Mutter ähnlicher als
sie sich selber.
     "Wir sind uns  mindestens  zehn Jahre nicht begegnet",  sagte er.  "Wie
geht's dir? Wann hast du geheiratet?"
     "Mein Mann ist Oberarzt im  Carolahaus",  erzählte sie.  "Da  kann  man
keine  großen Sprünge machen. Zu einer eigenen Praxis reicht es nicht.
Vielleicht  geht er mit  Professor Wandsbeck nach Japan. Wenn es sich lohnt,
fahre ich  mit  den Kindern nach." Er  nickte  und  betrachtete die  beiden
kleinen Mädchen.
     "Damals  war es schöner", sagte  sie  leise. "Weißt  du noch, wie
meine  Eltern  verreist  waren?  Siebzehn  Jahre war  ich alt. Wie  die Zeit
vergeht." Sie seufzte  und  strich  den  kleinen Mädchen  die Matrosenkragen
glatt. "Ehe man recht  dazu kommt, sein eigenes  Leben  zu haben, trägt  man
schon wieder Verantwortung für seine Kinder.  Dieses Jahr fahren wir  nicht
einmal an die See."
     "Das ist natürlich schrecklich", meinte er.
     "Ja", sagte sie, "da wollen wir mal gehen. Auf Wiedersehen, Jakob."
     "Auf Wiedersehen."
     "Gebt dem Onkel die Hand!"
     Die kleinen  Mädchen machten  Knickse,  drängten sich an die Mutter und
zogen mit ihr davon. Fabian blieb noch  eine Weile stehen. Die Vergangenheit
bog  um  die  Ecke,  mit zwei Kindern an  der  Hand,  fremd  geworden,  kaum
wiederzuerkennen.   "Du   hast   dich  gar  nicht   verändert",  hatte   die
Vergangenheit zu ihm gesagt.
     "Wie war's?"  fragte die Mutter. Sie standen, nach dem  Mittagessen, im
Laden und packten eine Kiste mit Bleichpulver aus.
     "Ich war oben bei  den Kasernen. In der  Schule war  ich auch. Und dann
habe ich die Eva getroffen. Zwei kleine Kinder hat sie. Der Mann ist Arzt."
     Die Mutter  zählte die  Pakete, die sie ins Regal geräumt  hatte.  "Die
Eva?  Das war einmal ein hübsches Mädchen. Wie war das gleich? Du kamst doch
damals zwei Tage nicht nach Hause."
     "Ihre Eltern  waren  verreist,  und ich mußte einen  mehrtägigen
Aufklärungskursus abhalten. Es war ihr erster, und  ich löste meine  Aufgabe
sehr gewissenhaft und mit wahrhaft sittlichem Ernst."
     "Ich war damals in Sorge", sagte die  Mutter.  "Aber ich  schickte  dir
doch  eine Depesche!"  "Depeschen sind  etwas  Unheimliches", erklärte  sie.
"Über eine halbe Stunde saß  ich davor und  traute mich  nicht, sie zu
öffnen." Er reichte die Pakete,  die  Mutter schichtete auf. "Wäre  es nicht
besser, wenn du hier eine Stellung  suchtest?" fragte sie. "Gefällt  es  dir
gar nicht mehr bei uns? Du könntest in die Wohnstube ziehen. Hier  sind auch
die  Mädchen netter und nicht so verrückt.  Vielleicht  findest du doch eine
Frau."
     "Ich weiß noch nicht, was  ich mache", sagte  er. "Es kann  sein,
daß ich hierbleibe.  Ich will arbeiten.  Ich  will mich betätigen. Ich
will endlich ein Ziel vor Augen haben. Und wenn ich  keines  finde,  erfinde
ich eines. So geht es nicht weiter."
     "Zu   meiner  Zeit  gab  es  das  nicht",  behauptete   sie.  "Da   war
Geldverdienen ein Ziel und Heiraten und Kinderkriegen."
     "Vielleicht gewöhne ich mich daran", meinte er. "Wie sagst du immer?"
     Sie hielt  im Packen inne und sagte mit Nachdruck: "Der Mensch  ist ein
Gewohnheitstier."
     DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
     Pilsner Bier und Patriotismus
     Türkisches Biedermeier
     Fabian wird gratis behandelt
     Gegen Abend ging Fabian in die Altstadt hinüber. Von der Brücke aus sah
er die weltberühmten Gebäude wieder, die er, seit er denken  konnte, kannte:
das  ehemalige  Schloß, die ehemalige  königliche Oper,  die ehemalige
Hofkirche, alles  war  hier wunderbar  und ehemalig.  Der  Mond  rollte ganz
langsam  von der  Spitze  des Schloßturms,  als gleite  er auf  einem
Draht. Die  Terrasse, die sich  am Flußufer erstreckte, war  mit alten
Bäumen  und ehrwürdigen  Museen bewachsen. Diese Stadt,  ihr Leben  und ihre
Kultur   befanden  sich  im  Ruhestand.  Das  Panorama  glich  einem  teuren
Begräbnis.  Auf  dem  Altmarkt   traf  er  Wenzkat.  "Nächsten  Freitag  ist
Klassenzusammenkunft im Ratskeller", erzählte  Wenzkat.  "Bist du  dann noch
hier?"
     "Ich  hoffe",  sagte Fabian. "Wenn es irgend  geht, erscheine  ich." Er
wollte rasch weiter, aber  der  andere lud  ihn  ein.  Seine Frau  sei  seit
vierzehn Tagen im Bad. Sie gingen
     zu Gaßmeier und tranken Pilsner.
     Nach dem dritten  Glas wurde  Wenzkat politisch.  "So  geht  das  nicht
weiter", schimpfte er. "Ich bin im Stahlhelm. Das Abzeichen trage ich nicht.
Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis, öffentlich nicht  festlegen. Doch das
ändert nichts an der Sache. Es gilt einen Verzweiflungskampf."
     "Zum Kampf kommt es  gar nicht erst,  wenn ihr anfangt",  sagte Fabian.
"Es kommt gleich zur Verzweiflung."
     "Vielleicht  hast  du  recht",   rief   Wenzkat  und  schlug   auf  die
Tischplatte. "Dann gehen wir eben unter, kreuznochmal!"
     "Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist", wandte Fabian
ein. "Wo  nehmt  ihr  die Dreistigkeit her,  sechzig  Millionen Menschen den
Untergang  zuzumuten,  bloß weil  ihr  das  Ehrgefühl  von  gekränkten
Truthähnen habt und euch gern herumhaut?"
     "So war es immer in der Weltgeschichte", sagte  Wenzkat entschieden und
trank sein Glas leer. "Und  so sieht sie auch aus von vorn  bis  hinten, die
Weltgeschichte!" rief Fabian. "Man  schämt sich,  dergleichen zu lesen, und
man  sollte sich  schämen, den  Kindern  dergleichen  einzutrichtern.  Warum
muß es immer so gemacht werden, wie es früher gemacht wurde?  Wenn das
konsequent geschehen wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen."
     "Du   bist  kein  Patriot",  behauptete  Wenzkat.  "Und  du   bist  ein
Hornochse", rief Fabian. "Das ist noch viel bedauerlicher."
     Dann tranken sie  noch  ein Bier und  wechselten  vorsichtshalber  das
Thema.
     "Ich habe  einen glänzenden Einfall", meinte  Wenzkat. "Wir  gehen  ein
bißchen ins Bordell."
     "Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetzlich verboten."
     "Freilich", sagte  Wenzkat.  "Verboten  sind  sie,  aber  es  gibt noch
welche. Das  eine  hat  mit  dem  anderen  nichts  zu  tun.  Du  wirst  dich
amüsieren."
     "Ich denke gar nicht daran", erklärte Fabian.
     "Wir  trinken  eine  Flasche  Sekt  mit den  Mädchen.  Das  übrige  ist
fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, damit ich meiner Frau
keinen Kummer mache."
     Das  Haus lag  in  einer kleinen schmalen Gasse. Fabian erinnerte sich,
als sie davorstanden, daß  hier die Offiziere der Garnison ihre Orgien
gefeiert hatten. Das war zwanzig Jahre  her. Das  Haus sah unverändert aus.
Wenn  alles gutging, wohnten noch dieselben Mädchen drin. Wenzkat  läutete.
Im Haus näherten sich Schritte. Ein  Auge blickte starr durchs Guckloch. Die
Tür ging auf.  Wenzkat sah sich besorgt um. Die Gasse war leer.  Sie traten
ein.
     Sie  gingen an einer alten Frau vorbei, die einen Gruß  murmelte,
und stiegen eine schmale hölzerne Treppe hinauf. Die  Haushälterin  erschien
und  sagte: "Guten Tag, Gustav,  läßt du dich auch  wieder mal bei uns
blicken?"
     "Flasche Sekt!" rief Wenzkat. "Ist die Lilly noch bei euch?"
     "Nein,  aber die  Lotte. Ihr  Hintern  ist  breit genug für dich. Nehmt
Platz!"
     Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war sechseckig und in türkischem
Biedermeier  eingerichtet.  Die Lampe  gab  rotes  Licht.  Die  Wände  waren
getäfelt  und mit  ornamentalen Intarsien und nackten Frauen geschmückt, und
zu beiden Seiten zogen sich niedrige Polster hin. Die zwei setzten sich.
     "Anscheinend schlechter Geschäftsgang", sagte Fabian.
     "Kein  Mensch hat Geld", erklärte Wenzkat. "Außerdem hat sich die
Branche überlebt."
     Dann  traten  drei junge  Frauen ins  Zimmer  und  begrüßten  den
Stammgast.  Fabian saß in einer Ecke  und betrachtete die  Szene.  Die
Haushälterin brachte einen Kübel, goß Sekt ein, rief "Prost!", und man
trank.
     "Lotte", sagte Wenzkat, "zieht euch aus!"
     Lotte war eine dicke Person mit lustigen Augen. "Gut", erklärte sie und
ging mit den anderen  aus dem  Zimmer.  Eine  Minute später kamen  sie nackt
zurück und setzten sich zwischen die Gäste.
     Wenzkat  sprang  auf  und  schlug  mit  der  flachen  Hand  auf  Lottes
Hinterteil.  Sie kreischte,  küßte ihn und drängte ihn,  Beschwörungen
murmelnd, aus dem Zimmer. Sie verschwanden.
     Nun saß Fabian mit  der Haushälterin  und zwei nackten Frauen  am
Tisch, trank Sekt und unterhielt sich. "Ist hier immer so wenig los?" fragte
er.
     "Neulich,  zum Sängerfest, waren  wir gut besucht", sagte die  Blondine
und  spielte nachdenklich mit ihren Brustwarzen. "Da hatte ich an einem Tag
achtzehn  Männer.  Aber  sonst  ist  es  zum  Sterben langweilig."  "Wie  im
Kloster", meinte die kleine Dunkle verloren und schob sich näher.
     "Noch eine Flasche?" fragte die Haushälterin.
     "Ich glaube nicht", sagte er. "Ich habe nur ein paar Mark eingesteckt."
     "Ach   Quatsch!"   rief   die   Blondine.   "Gustav   hat  Geld  genug.
Außerdem hat er hier Kredit."  Die Haushälterin entfernte sich, um die
zweite Flasche zu holen.
     "Kommst du zu mir rauf?" fragte die Blondine.
     "Ich bemerkte schon  ganz richtig, daß ich kein Geld habe", sagte
er und war froh, daß er nicht zu lügen brauchte.
     "Es ist zum  Verzweifeln", rief die Blondine. "Bin ich dazu in den Puff
gegangen, daß  ich  wieder  zuwachse?  Komm,  bring  das  Geld  in den
nächsten Tagen vorbei!" Er lehnte ab.
     Wenig später kam Wenzkat wieder aus dem Zimmer und placierte sich neben
die Blondine.  "Jetzt brauchst du dich auch  nicht zu  mir zu setzen", sagte
sie  beleidigt. Nun erschien auch Lotte. Sie  hielt mit beiden  Händen  ihre
Sitzfläche.  "So ein  Schwein!"  jammerte  sie. "Immer diese Prügelei! Jetzt
kann ich wieder drei Tage nicht sitzen."
     "Da hast du noch zehn Mark", sagte Wenzkat. Sie steckte das Geld in den
Halbschuh, und er  schlug ihr, während sie sich bückte,  wieder hintendrauf.
Sie machte böse Augen und wollte auf ihn losgehen.
     "Setz  dich  hin!" befahl  er. Dann  legte er den Arm um  die Hüfte der
Blondine und fragte: "Na, wollen wir?"
     Sie betrachtete  ihn prüfend  und sagte: "Aber geprügelt  wird bei  mir
nicht. Ich bin für die richtige Machart."
     Er nickte. Sie erhob sich und ging, die Anatomie schwenkend, voran.
     "Ich sollte auf dich Obacht geben", meinte Fabian.
     "Ach, Mensch", sagte der andere, "wer Sorgen hat, hat auch Likör." Dann
folgte er der Frau.
     Die  Haushälterin brachte  die zweite  Flasche und  schenkte ein. Lotte
schimpfte auf Wenzkat  und  zeigte  die Striemen. Die  kleine  Dunkelhaarige
zupfte Fabian an der Jacke und  flüsterte: "Komm mal mit in mein Zimmer." Er
sah sie  an,  ihre Augen waren groß und ernst auf  ihn gerichtet. "Ich
will dir  was  zeigen",  erklärte sie  ruhig, und dann  gingen  sie zusammen
hinaus. Das  Zimmer  der kleinen  nackten Person  war genauso  türkisch  und
geschmacklos  eingerichtet wie der Salon, aus dem sie kamen. Das  Bett  war
über  und über geblümt und mit Spitzen besät. Die  Bilder an der  Wand waren
sehr lächerlich. Ein elektrischer  Ofen erwärmte die Luft.  Das Fenster war
offen. Drei blühende Blumenstöcke standen davor.
     Die Frau schloß das Fenster,  trat  zu  Fabian,  umarmte ihn  und
streichelte sein Gesicht.
     "Was wolltest  du  mir denn zeigen?"  fragte er. Sie zeigte nichts. Sie
sagte nichts. Sie sah ihn an. Er klopfte ihr freundlich auf den Rücken. "Ich
habe doch aber kein  Geld", sagte er. Sie schüttelte  den Kopf, knöpfte  ihm
die Weste auf, legte sich aufs Bett und betrachtete ihn abwartend, ohne sich
zu rühren.
     Er zuckte die  Achseln,  zog  den Anzug aus und  legte sich zu ihr. Sie
umfing ihn aufatmend. Sie  gab  sich ganz behutsam hin und ihre Augen hingen
ernst an seinem Gesicht.  Er wurde verlegen, als  habe er  eine Jungfer  zur
Leichtfertigkeit  überredet.  Sie blieb stumm. Nur etwas später öffnete sich
ihr Mund, und sie stöhnte, doch auch das tat sie voller Zurückhaltung.
     Hinterher brachte sie Wasser, träufelte  aus zwei Flaschen  Chemikalien
in die Schüssel und hielt dienstfertig ein Handtuch bereit.
     Wenzkat saß zwischen Lotte und der Blondine, nickte Fabian zu und
war müde.  Sie tranken  die Flasche  leer  und verabschiedeten  sich. Fabian
drückte  der kleinen Dunkelhaarigen  zwei Zweimarkstücke  in die Hand. "Ich
habe nicht mehr bei mir", sagte er leise. Sie sah ihn ernst  an. Dann gingen
alle  miteinander zur Treppe. Wenzkat wurde wieder laut,  er war beschwipst.
Plötzlich  spürte  Fabian  eine  Hand in  seiner  Tasche.  Als  er  auf  der
Straße   stand,  griff  er  in  die  Tasche   und  fand   seine   zwei
Zweimarkstücke wieder.
     "Hältst du das  für  möglich?" fragte  er  den  anderen.  "Ich habe der
Kleinen  ein  paar Mark  gegeben,  und  nun  hat  sie  mir  das  Geld wieder
zugesteckt."
     Wenzkat gähnte  laut  und  sagte: "Wo die Liebe  hinfällt. Sie  hat  es
wahrscheinlich    nötig    gehabt.   Übrigens,   Jakob,    wenn    du    zur
Klassenzusammenkunft kommen  solltest,  daß du  nichts  erzählst!  Und
vergiß nicht, Freitag abend im Ratskeller." Dann ging er.
     Fabian  machte noch einen  Spaziergang. Die  Straßen waren  kaum
besucht.  Die Straßenbahnen  fuhren leer in die Depots. Auf der Brücke
blieb  er  stehen  und sah  in  den  Fluß  hinunter.  Die  Bogenlampen
spiegelten  sich  zitternd  und  waren  wie  eine  Serie  kleiner ms  Wasser
gefallener  Monde. Der  Fluß  war  breit.  Es  mußte im  Gebirge
geregnet haben.  Auf den Hügeln, welche die  Stadt  umgaben, brannten viele
zwinkernde Lichter.
     Während er hier  stand, lag Labude  aufgebahrt in einer Grunewaldvilla,
und  Cornelia  lag  bei Herrn  Makart im Himmelbett. Sehr weit weg lagen sie
beide. Fabian stand unter einem  anderen Himmel. Hier hatte Deutschland kein
Fieber. Hier hatte es Untertemperatur.
     VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
     Herr Knorr bat Hühneraugen
     Die "Tagespost" sucht tüchtige Leute
     Lernt schwimmen!
     Tags  darauf  war er  beim  Bäcker und rief von dort  aus  im  Büro von
Wenzkat  an.  Der  hatte  wenig  Zeit.  Er mußte  aufs Gericht. Fabian
fragte,  ob er  keinen wüßte,  der einen Direktionsposten zu  vergeben
hätte.
     "Geh  doch  mal  zu  Holzapfel",  meinte  Wenzkat.  "Der  ist  in   der
"Tagespost"."
     "Was treibt er denn dort?"
     "Erstens ist er  Sportredakteur,  zweitens schreibt er  Musikkritiken.
Vielleicht  weiß er  etwas.  Und  erinnere ihn an  Freitag  abend. Auf
Wiedersehen."
     Fabian ging nach Hause und erzählte, er  wolle  mal in  die Altstadt zu
Holzapfel, der sei bei der "Tagespost" Redakteur. Vielleicht  könne ihm  der
behilflich sein. Die Mutter stand im Laden und wartete auf Kunden. "Das wäre
sehr schön, mein Junge", sagte sie. "Geh mit Gott!"
     Auf  der Straßenbahn karambolierte er,  infolge  einer Kurve, mit
einem baumlangen Herrn. Sie sahen einander mißgelaunt an. "Wir kennen
uns doch", meinte der Herr und streckte die  Hand hin.  Es war ein  gewisser
Knorr, ehemaliger Oberleutnant der Reserve. Ihm  hatte  die Ausbildung jener
Einjährigen-Kompanie  obgelegen, der  Fabian  angehört  hatte.  Er hatte die
Siebzehnjährigen geschunden und  schinden lassen,  als bezöge er von Tod und
Teufel Tantiemen.
     "Stecken Sie rasch Ihre Hand wieder weg", sagte Fabian, "oder ich spuck
Ihnen drauf."
     Herr  Knorr, Spediteur von Beruf, befolgte den ernstgemeinten Rat  und
lachte betreten. Denn sie waren nicht allein auf der Plattform. "Was hab ich
Ihnen denn getan?" fragte er, obwohl er das wußte.
     "Wenn Sie  nicht  so groß  wären,  würde  ich  Ihnen  jetzt  eine
herunterhauen", sagte Fabian. "Da ich aber  nicht bis  zu Ihrer  geschätzten
Wange hinaufreiche, muß  ich mich anders  behelfen." Und damit trat er
Herrn  Knorr  derartig  auf  die  Hühneraugen,  daß   der  die  Lippen
zusammenpreßte und ganz  blaß  wurde.  Die Umstehenden lachten,
Fabian stieg ab und lief den Rest des Wegs.
     Holzapfel,  der Klassenkamerad von einst,  wirkte außerordentlich
erwachsen,   trank  Flaschenbier  und  versah  ein  paar  Bürstenabzüge  mit
Hieroglyphen. "Setz dich,  Jakob", sagte  er.  "Ich muß die  Vorschau
fürs Rennen korrigieren und einen Sammelbericht über Klavierkonzerte. Lange
nicht gesehen. Wo hast du gesteckt?  Berlin, wie? Ich führe gern  mal wieder
hinüber.  Man  kommt  nicht dazu.  Dauernd  viel  zu tun und  dauernd  Bier.
Schwielen  im Gehirn,  Schwielen  am  Gesäß, die Kinder  werden  immer
älter,   die  Freundinnen   werden   immer   jünger,  wenn  das  mal   keine
Lungenentzündung  gibt."  Während er so vor sich hinfaselte, korrigierte und
trank  er ruhig weiter. "Koppel hat sich scheiden lassen,  er  kam dahinter,
daß ihn seine Frau  mit zwei anderen betrog. Er war ja immer schon ein
guter Mechaniker. Bretschneider  hat  die  Apotheke  verkauft und sich  eine
Klitsche angeschafft. Er züchtet rote Grütze und  Salzkartoffeln. Jedem für
sein Geld, was  ihm  schmeckt.  So, die  Klavierkonzerte können  warten." Er
klingelte nach dem Boten und schickte die Fahne mit der Rennvorschau in die
Setzerei.  Dann  erzählte Fabian, daß er eine  Stellung suche, zuletzt
habe er  Propaganda gemacht. Aber ihm sei schon alles gleich, Hauptsache, er
finde hier in der  Stadt  Arbeit. "Von Musik  verstehst du nichts. Vom Boxen
auch nicht", stellte Holzapfel fest. "Vielleicht kann man dich im Feuilleton
brauchen, für die zweite Theaterkritik oder etwas Ähnliches." Er hängte sich
ans Telefon und sprach mit dem Direktor. "Geh mal hin zu  dem  Kerl", schlug
er vor. "Erzähl ihm was Hübsches. Er ist eingebildet, aber gelehrig."
     Fabian    bedankte    sich,    erinnerte    den    anderen    an    die
Klassenzusammenkunft und ließ sich bei Direktor Hanke melden. "Doktor
Holzapfel ist ein Klassenkamerad von Ihnen?" fragte der Direktor. "Sie haben
Literaturgeschichte studiert? Augenblicklich  ist keine Stellung frei. Doch
das besagt nichts. Sollten  Sie tüchtig sein, tüchtige Leute kann ich  immer
brauchen.  Arbeiten Sie vierzehn Tage auf eigenes Risiko.  Ich mache Sie mit
dem Feuilletonchef  bekannt. Wenn er Ihre Beiträge  ablehnt, haben Sie Pech
gehabt. Sonst sind Sie mir als externer Mitarbeiter  willkommen."  Er wollte
auf die Klingel drücken.
     "Einen  Moment, Herr Direktor",  sagte Fabian. "Ich danke Ihnen für die
Chance.  Noch  lieber  würde  ich  als  Propagandist  arbeiten.  Man  könnte
beispielsweise  eine   Beratungsstelle   für  Inserenten   einrichten,   der
Kundschaft zugkräftige Texte vorschlagen  und eventuell ganze  Werbefeldzüge
organisieren. Man könnte die Auflageziffer des Blattes  durch geschickte und
systematische Reklame  vorteilhaft beeinflussen. Man könnte, in Kompanie mit
Großinserenten,  lohnende  Preisausschreiben durchführen.  Man könnte
für die Abonnenten Boxabende und ähnliche Volksfeste veranstalten."
     Der   Direktor   hörte  aufmerksam   zu.   Dann  sagte   er:   "Unsere
Großaktionäre sind nicht für die Berliner Methoden."
     "Aber die Herren sind dafür, daß die Auflageziffer wächst!"
     "Nicht mit Hilfe von  Fisimatenten", erklärte der Direktor. "Immerhin,
ich werde mit  unserem  Insertionschef sprechen. In  bescheidener  Dosierung
sollte man  vielleicht doch Maßnahmen ergreifen, denen wir uns auf die
Dauer  nicht  völlig  werden  entziehen  können. Kommen  Sie morgen um  elf
wieder. Ich will sehen, was ich tun kann. Bringen Sie ein paar Arbeiten mit.
Und Zeugnisse, falls Sie solches Gemüse auf Lager haben."
     Fabian stand auf und bedankte sich für das erwiesene Interesse.
     "Wenn  wir  Sie engagieren", sagte  der Direktor, "erwarten  Sie  keine
phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heute sehr viel Geld."
     "Für die Angestellten?" fragte Fabian neugierig.
     "Nein", sagte der Direktor, "für die Aktionäre."
     Fabian  saß im Café Limberg, trank einen  Kognak und machte  sich
Gedanken. Es war  hirnverbrannt,  was  er plante.  Er  wollte, falls man die
Gnade hatte, ihn  zu  nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein,
sich auszubreiten.  Wollte er sich etwa einreden,  ihn reize die  Propaganda
schlechthin, ganz gleich,  welchen  Zwecken  sie diente? Wollte  er sich  so
betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zweier Hundertmarkscheine im Monat,
Tag für Tag chloroformieren? Gehörte er zu Münzer und Konsorten?
     Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches
Glied  der  Gesellschaft würde. Ein  nützliches  Glied  dieser Gesellschaft,
dieser G.m.b.H.! Es ging  nicht. So  marode war er noch nicht. Geldverdienen
war für ihn noch immer nicht die Hauptsache.
     Er beschloß,  den Eltern zu  verschweigen,  daß er bei  der
"Tagespost"  unterkriechen  konnte.  Er  wollte  nicht  unterkriechen.  Zum
Donnerwetter,  er kroch  nicht  zu Kreuze!  Er  beschloß, dem Direktor
abzusagen,  und kaum hatte er sich dazu  entschieden, wurde  ihm wohler.  Er
konnte  die  restlichen  tausend  Mark  von  Labude nehmen, ins  Erzgebirge
hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein
halbes Jahr oder länger.  Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts
dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die Gipfel und die Spielzeugstädte
von Schülerfahrten her. Er kannte die  Wälder, die Bergwiesen, die  Seen und
die  armen  geduckten  Dörfer.  Andere  Leute  fuhren in  die  Südsee,  das
Erzgebirge war billiger. Vielleicht  kam  er dort  oben zu sich.  Vielleicht
wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein  Mann. Vielleicht fand er  auf
den  einsamen  Waldpfaden  ein  Ziel,  das den  Einsatz  lohnte.  Vielleicht
reichten sogar  fünfhundert Mark. Die  andere  Hälfte  konnte er  der Mutter
lassen.
     Also  los,   an   den  Busen  der  Natur,   marschmarsch!   Bis  Fabian
wied