ngt, dass ich den Erfolg dieses gewagten Abenteuers einheimse, ohne die Zeche dafur zu bezahlen! Wenn's mir nur gelingt! Es ist zwar nicht recht, was ich tue, aber Gott wird ein Auge zudrucken, bestimmt wird Er es tun! Er hat mich im Verlaufe meines Lebens oftmals hart genug gestraft, ohne jeden Anlass, also wure es nur gerecht, wenn Er sich dies mal konziliant verhielte. Worin besteht denn mein Vergehen schon, wenn es uberhaupt eines ist? Huchstens darin, dass ich mich ein wenig außerhalb der Zunftordnung bewege, indem ich die wunderbare Begabung eines Ungelernten exploitiere und seine Fuhigkeit als meine eigne ausgebe. Huchstens darin, dass ich um ein Kleines vom traditionellen Pfad der handwerklichen Tugend abgewichen bin. Huchstens darin, dass ich heute tue, was ich gestern noch verdammt habe. Ist das ein Verbrechen? Andere betrugen ihr Leben lang. Ich habe nur ein paar Jahre ein bisschen geschummelt. Und auch nur, weil mir der Zufall die einmalige Gelegenheit dazu gegeben hat. Vielleicht war es nicht einmal der Zufall, vielleicht war es Gott selbst, der mir den Zauberer ins Haus geschickt hat, zur Wiedergutmachung fur die Zeit der Erniedrigung durch Pelissier und seine Spießgesellen. Vielleicht richtet sich die guttliche Fugung uberhaupt nicht auf mich, sondern gegen Pelissier! Das kunnte sehr wohl muglich sein! Wie anders numlich wure Gott imstande, Pelissier zu strafen, als dadurch, dass er mich erhuhte? Mein Gluck wure infolgedessen das Mittel guttlicher Gerechtigkeit, und als solches durfte ich nicht nur, ich musste es akzeptieren, ohne Scham und ohne die geringste Reue... So hatte Baldini in den vergangenen Jahren oft gedacht, morgens, wenn er die schmale Treppe in den Laden hinunterstieg, abends, wenn er mit dem Inhalt der Kasse heraufkam und die schweren Gold- und Silbermunzen in seinen Geldschrank zuhlte, und nachts, wenn er neben dem schnarchenden Gerippe seiner Frau lag und aus lauter Angst vor seinem Gluck nicht schlafen konnte. Aber jetzt, endlich, war es vorbei mit den sinistren Gedanken. Der unheimliche Gast war fort und wurde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber blieb und war fur alle Zukunft sicher. Baldini legte die Hand auf seine Brust und spurte durch den Stoff des Rocks das Buchlein uber seinem Herzen. Sechshundert Formeln waren darin aufgezeichnet, mehr als ganze Generationen von Parfumeuren jemals wurden realisieren kunnen. Wenn er heute alles verlure, so kunnte er allein mit diesem wunderbaren Buchlein binnen Jahresfrist abermals ein reicher Mann sein. Wahrlich, was konnte er mehr verlangen! Die Morgensonne fiel uber die Giebel der gegenuberliegenden Huuser gelb und warm auf sein Gesicht. Immer noch schaute Baldini nach Suden die Straße hinunter in Richtung Parlamentspalastes war einfach zu angenehm, dass von Grenouille nichts mehr zu sehen war! - und beschloss, aus einem uberbordenden Gefuhl von Dankbarkeit noch heute nach Notre-Dame hinuberzupilgern, ein Goldstuck in den Opferstock zu werfen, drei Kerzen anzuzunden und seinem Herrn auf den Knien zu danken, dass Er ihn mit so viel Gluck uberhuuft und vor Rache verschont hatte. Aber dummerweise kam ihm dann wieder etwas dazwischen, denn am Nachmittag, als er sich gerade auf den Weg in die Kirche machen wollte, wurde das Gerucht laut, die Englunder hutten Frankreich den Krieg erklurt. Das war zwar an und fur sich nichts Beunruhigendes. Da Baldini aber just dieser Tage eine Sendung mit Parfums nach London expedieren wollte, verschob er den Besuch in Notre-Dame und ging stattdessen in die Stadt, um Erkundigungen einzuholen, und anschließend in seine Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, um die Sendung nach London furs erste zu stornieren. Nachts im Bett, kurz vor dem Einschlafen, hatte er dann eine geniale Idee: Er wollte in Anbetracht der bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzungen um die Kolonien in der Neuen Welt ein Parfum lancieren unter dem Namen >Prestige du Quebecs einen harzigheroischen Duft, dessen Erfolg - das stand fest - ihn fur den Wegfall des Englandgeschufts mehr als entschudigen wurde. Mit diesem sußen Gedanken in seinem dummen alten Kopf, den er erleichtert auf das Kissen bettete, unter welchem sich der Druck des Formelbuchleins angenehm spurbar machte, entschlief Maitre Baldini und wachte in seinem Leben nicht mehr auf. In der Nacht numlich geschah eine kleine Katastrophe, welche, mit gebuhrender Verzugerung, den Anlass dazu gab, dass nach und nach sumtliche Huuser auf sumtlichen Brucken der Stadt Paris auf kuniglichen Befehl hin abgerissen werden mussten: Ohne erkennbare Ursache brach der Pont au Change auf seiner westlichen Seite zwischen dem dritten und vierten Pfeiler in sich zusammen. Zwei Huuser sturzten in den Fluss, so vollstundig und so plutzlich, dass keiner der Insassen gerettet werden konnte. Glucklicherweise handelte es sich nur um zwei Personen, numlich um Giuseppe Baldini und seine Frau Teresa. Die Bediensteten hatten sich, erlaubt oder unerlaubt, Ausgang genommen. Chenier, der erst in den fruhen Morgenstunden leicht angetrunken nach Hause kam - vielmehr nach Hause kommen wollte, denn das Haus war ja nicht mehr da -, erlitt einen nervusen Zusammenbruch. Er hatte sich dreißig Jahre lang der Hoffnung hingegeben, von Baldini, der keine Kinder und Verwandte hatte, im Testament als Erbe eingesetzt zu sein. Und nun, mit einem Schlag, war das gesamte Erbe weg, alles, Haus, Geschuft, Rohstoffe, Werkstatt, Baldini selbst - ja sogar das Testament, das vielleicht noch Aussicht auf das Eigentum an der Manufaktur gegeben hutte! Nichts wurde gefunden, die Leichen nicht, der Geldschrank nicht, die Buchlein mit den sechshundert Formeln nicht. Das einzige, was von Giuseppe Baldini, Europas grußtem Parfumeur, zuruckblieb, war ein sehr gemischter Duft von Moschus, Zimt, Essig, Lavendel und tausend anderen Stoffen, der noch mehrere Wochen lang den Lauf der Seine von Paris bis nach Le Havre uberschwebte. ZWEITER TEIL 23 Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini sturzte, befand sich Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und sauberer. Sie dunnte sich gleichsam aus. Es hetzten sich nicht mehr Meter fur Meter Hunderte, Tausende verschiedener Geruche in rasendem Wechsel, sondern die wenigen, die es gab - der Geruch der sandigen Straße, der Wiesen, der Erde, der Pflanzen, des Wassers -, zogen in langen Bahnen uber das Land, langsam sich bluhend, langsam schwindend, kaum je abrupt unterbrochen. Grenouille empfand diese Simplizitut wie eine Erlusung. Die gemuchlichen Dufte schmeichelten seiner Nase. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er nicht mit jedem Atemzug darauf gefasst sein, ein Neues, Unerwartetes, Feindliches zu wittern, oder ein Angenehmes zu verlieren. Zum ersten Mal konnte er fast frei atmen, ohne dabei immer lauernd riechen zu mussen. >Fast< sagen wir, denn wirklich frei strumte naturlich nichts durch Grenouilles Nase. Es blieb, auch wenn er nicht den kleinsten Anlass dazu hatte, immer eine instinktive Reserviertheit in ihm wach gegen alles, was von außen kam und in ihn eingelassen werden sollte. Sein Leben lang, selbst in den wenigen Momenten, in denen er Anklunge von so etwas wie Genugtuung, Zufriedenheit, ja vielleicht sogar Gluck erlebte, atmete er lieber aus als ein - wie er ja auch sein Leben nicht mit einem hoffnungsvollen Atemholen begonnen hatte, sondern mit einem murderischen Schrei. Aber von dieser Einschrunkung abgesehen, die bei ihm eine konstitutionelle Beschrunkung war, fuhlte sich Grenouille, je weiter er Paris hinter sich ließ, immer wohler, atmete er immer leichter, ging er immer beschwingteren Schritts und raffte sich sogar sporadisch zu einer geraden Kurperhaltung auf, so dass er von ferne betrachtet beinahe wie ein gewuhnlicher Handwerksbursche aussah, also wie ein ganz normaler Mensch. Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den Menschen. In Paris lebten mehr Menschen auf engstem Raum als in irgendeiner anderen Stadt auf der Welt. Sechs-, siebenhunderttausend Menschen lebten in Paris. Auf den Straßen und Plutzen wimmelte es von ihnen, und die Huuser waren vollgepfropft mit ihnen vom Keller bis unter die Ducher. Es gab kaum einen Winkel in Paris, der nicht vor Menschen starrte, keinen Stein, kein Fleckchen Erde, das nicht nach Menschlichem roch. Dass es dieser geballte Menschenbrodem war, der ihn achtzehn Jahre lang wie gewitterschwule Luft bedruckt hatte, das wurde Grenouille erst jetzt klar, da er sich ihm zu entziehen begann. Bisher hatte er immer geglaubt, es sei die Welt im allgemeinen, von der er sich wegkrummen musse. Es war aber nicht die Welt, es waren die Menschen. Mit der Welt, so schien es, der menschenleeren Welt, ließ sich leben. Am dritten Tag seiner Reise geriet er ins olfaktorische Gravitationsfeld von Orleans. Lange noch bevor irgendein sichtbares Zeichen auf die Nuhe der Stadt hindeutete, gewahrte Grenouillle die Verdichtung des Menschlichen in der Luft und entschloss sich, entgegen seiner ursprunglichen Absicht, Orleans zu meiden. Er wollte sich die frischgewonnene Atemfreiheit nicht schon so bald wieder vom stickigen Menschenklima verderben lassen. Er machte einen großen Bogen um die Stadt, stieß bei Chuteauneuf auf die Loire und uberquerte sie bei Sully. Bis dorthin reichte seine Wurst. Er kaufte sich eine neue und zog dann, den Flusslauf verlassend, landeinwurts. Er mied jetzt nicht mehr nur die Studte, er mied auch die Durfer. Er war wie berauscht von der sich immer sturker ausdunnenden, immer menschenferneren Luft. Nur um sich neu zu verproviantieren, nuherte er sich einer Siedlung oder einem alleinstehenden Gehuft, kaufte Brot und verschwand wieder in den Wuldern. Nach einigen Wochen wurden ihm selbst die Begegnungen mit den wenigen Reisenden auf den abgelegenen Wegen zu viel, ertrug er nicht mehr den punktuell auftretenden Geruch der Bauern, die auf den Wiesen das erste Gras muhten. ungstlich wich er jeder Schafherde aus, nicht der Schafe wegen, sondern um den Geruch der Hirten zu umgehen. Er schlug sich querfeldein, nahm meilenweite Umwege in Kauf, wenn er eine noch Stunden entfernte Schwadron Reiter auf sich zukommen roch. Nicht weil er, wie andere Handwerksburschen und Herumtreiber, furchtete, kontrolliert und nach Papieren gefragt und womuglich zum Kriegsdienst verpflichtet zu werden - er wusste nicht einmal, dass Krieg war -, sondern einzig und allein, weil ihn vor dem Menschengeruch der Reiter ekelte. Und so kam es ganz von alleine und ohne besonderen Entschluss, dass sein Plan, auf schnellstem Wege nach Grasse zu gehen, allmuhlich verblasste; der Plan luste sich sozusagen in der Freiheit auf, wie alle anderen Plune und Absichten. Grenouille wollte nicht mehr irgendwohin, sondern nur noch weg, weg von den Menschen. Schließlich wanderte er nur noch nachts. Tagsuber verkroch er sich ins Unterholz, schlief unter Buschen, im Gestrupp, an muglichst unzugunglichen Orten, zusammengerollt wie ein Tier, die erdbraune Pferdedecke uber Kurper und Kopf gezogen, die Nase in die Ellbogenbeuge verkeilt und abwurts zur Erde gerichtet, damit auch nicht der kleinste fremde Geruch seine Truume sturte. Bei Sonnenuntergang erwachte er, witterte nach allen Himmelsrichtungen, und erst, wenn er sicher gerochen hatte, dass auch der letzte Bauer sein Feld verlassen und auch der wagemutigste Wanderer vor der hereinbrechenden Dunkelheit eine Unterkunft aufgesucht hatten, erst wenn die Nacht mit ihren vermeintlichen Gefahren das Land von Menschen reingefegt hatte, kam Grenouille aus seinem Versteck hervorgekrochen und setzte seine Reise fort. Er brauchte kein Licht, um zu sehen. Schon fruher, als er noch tagsuber gewandert war, hatte er oft stundenlang die Augen geschlossen gehalten und war nur der Nase nach gegangen. Das grelle Bild der Landschaft, das Blendende, die Plutzlichkeit und die Schurfe des Sehens mit den Augen schmerzten ihn. Allein das Mondlicht ließ er sich gefallen. Das Mondlicht kannte keine Farben und zeichnete nur schwach die Konturen des Gelundes. Es uberzog das Land mit schmutzigem Grau und erdrosselte fur eine Nacht lang das Leben. Diese wie in Blei gegossene Welt, in der sich nichts regte als der Wind, der manchmal wie ein Schattenuber die grauen Wulder fiel, und in der nichts lebte als die Dufte der nackten Erde, war die einzige Welt, die er gelten ließ, denn sie uhnelte der Welt seiner Seele. So zog er in sudliche Richtung. Ungefuhr in sudliche Richtung, denn er folgte keinem magnetischen Kompass, sondern nur dem Kompass seiner Nase, der ihn jede Stadt, jedes Dorf, jede Siedlung umgehen ließ. Wochenlang traf er keinen Menschen. Und er hutte sich im beruhigenden Glauben wiegen kunnen, er sei allein auf der dunklen oder vom kalten Mondlicht beschienenen Welt, wenn nicht der feine Kompass ihn eines Besseren belehrt hutte. Auch nachts gab es Menschen. Auch in den entlegensten Gebieten gab es Menschen. Sie hatten sich nur in ihre Schlupfwinkel zuruckgezogen wie die Ratten und schliefen. Die Erde war nicht rein von ihnen, denn selbst im Schlaf dunsteten sie ihren Geruch aus, der durch die offenen Fenster und durch die Ritzen ihrer Behausungen hinaus ins Freie drungte und die sich scheinbar selbst uberlassene Natur verpestete. Je mehr sich Grenouille an die reinere Luft gewuhnt hatte, desto empfindlicher traf ihn so ein Menschengeruch, der plutzlich, vullig unerwartet, nuchtens daherflatterte, scheußlich wie Adelgestank, und die Anwesenheit irgendeiner Hirtenunterkunft oder einer Kuhlerkate oder einer Ruuberhuhle verriet. Und er fluchtete weiter, immer sensibler reagierend auf den immer seltener werdenden Geruch des Menschlichen. So fuhrte ihn seine Nase in immer abgelegenere Gegenden des Landes, entfernte ihn immer weiter von den Menschen und trieb ihn immer heftiger dem Magnetpol der grußtmuglichen Einsamkeit entgegen. 24 Dieser Pol, numlich der menschenfernste Punkt des ganzen Kunigreichs, befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa funf Tagesreisen sudlich von Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkansnamens Plomb du Cantal. Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Gestrupp bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte Zuhne aufragten und ein paar von Brunden verkohlte Buume. Selbst am helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, dass der urmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher getrieben hutte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie in ihrer gottverlassenen ude nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen, als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand gesucht und gefunden hutte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben wure. In meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein ordentliches warmblutiges Tier, bloß ein paar Fledermuuse und ein paar Kufer und Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen. Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine Reise hier zu Ende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in immer noch reinere Lufte, und er drehte sich im Kreise und ließ den Blick seiner Nase uber das gewaltige Panorama des vulkanischen udlands streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint-Flour und die Sumpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein und hartem Gras entgegentrug; nach Suden schließlich, wo die Ausluufer des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der Truyere. uberall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne, und zugleich hutte jeder Schritt in jede Richtung wieder grußere Menschennuhe bedeutet. Der Kompass kreiselte. Er gab keine Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen. Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und hielt seine Nase in die Luft. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, die Richtung zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche kam, und die Gegenrichtung, in die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung argwuhnte er, doch noch einen verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs zu entdecken. Doch da war nichts. Da war nur Ruhe, wenn man so sagen kann, geruchliche Ruhe. Ringsum herrschte nur der wie ein leises Rauschen wehende, homogene Duft der toten Steine, der grauen Flechten und der durren Gruser, und sonst nichts. Grenouille brauchte sehr lange Zeit, um zu glauben, was er nicht roch. Er war auf sein Gluck nicht vorbereitet. Sein Misstrauen wehrte sich lange gegen die bessere Einsicht. Er nahm sogar, wuhrend die Sonne stieg, seine Augen zuhilfe und suchte den Horizont nach dem geringsten Zeichen menschlicher Gegenwart ab, nach dem Dach einer Hutte, dem Rauch eines Feuers, einem Zaun, einer Brucke, einer Herde. Er hielt die Hunde an die Ohren und lauschte, nach dem Dengeln einer Sense etwa oder dem Gebell eines Hundes oder dem Schrei eines Kindes. Den ganzen Tag uber verharrte er in der gluhendsten Hitze auf dem Gipfel des Plomb du Cantal und wartete vergeblich auf das kleinste Indiz. Erst als die Sonne unterging, wich sein Misstrauen allmuhlich einem immer sturker werdenden Gefuhl der Euphorie: Er war dem verhassten Odium entkommen! Er war tatsuchlich vollstundig allein! Er war der einzige Menschauf der Welt! Ein ungeheurer Jubel brach in ihm aus. So wie ein Schiffbruchiger nach wochenlanger Irrfahrt die erste von Menschen bewohnte Insel ekstatisch begrußt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit. Er schrie vor Gluck. Rucksack, Decke, Stock warf er von sich und trampelte mit den Fußen auf den Boden, warf die Arme in die Huhe, tanzte im Kreis, brullte seinen eigenen Namen in alle vier Winde, ballte die Fuuste, schuttelte sie triumphierend gegen das ganze weite unter ihm liegende Land und gegen die sinkende Sonne, triumphierend, als hutte er sie persunlich vom Himmel verjagt. Er fuhrte sich auf wie ein Wahnsinniger, bis tief in die Nacht hinein. 25 Die nuchsten Tage verbrachte er damit, sich auf dem Berg einzurichten - denn das stand fur ihn fest, dass er diese begnadete Gegend so schnell nicht mehr verlassen wurde. Als erstes schnupperte er nach Wasser und fand es in einem Einbruch etwas unterhalb des Gipfels, wo es in einem dunnen Film am Fels entlangrann. Es war nicht viel, aber wenn er geduldig eine Stunde lang leckte, hatte er seinen Feuchtigkeitsbedarf fur einen Tag gestillt. Er fand auch Nahrung, numlich kleine Salamander und Ringelnattern, die er, nachdem er ihnen den Kopf abgeknipst hatte, mit Haut und Knochen verschlang. Dazu aß er trockene Flechten und Gras und Moosbeeren. Diese nach burgerlichen Maßstuben vullig undiskutable Ernuhrungsweise verdross ihn nicht im mindesten. Schon in den letzten Wochen und Monaten hatte er sich nicht mehr von menschlich gefertigter Nahrung wie Brot und Wurst und Kuse ernuhrt, sondern, wenn er Hunger verspurte, alles zusammengefressen, was ihm an irgendwie Essbarem in die Quere gekommen war. Er war nichts weniger als ein Gourmet. Er hatte es uberhaupt nicht mit dem Genuss, wenn der Genuss in etwas anderem als dem reinen kurperlosen Geruch bestand. Er hatte es auch nicht mit der Bequemlichkeit und wure zufrieden gewesen, sein Lager auf blankem Stein einzurichten. Aber er fand etwas Besseres. Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen naturlichen Stollen, der in vielen engen Windungen in das Innere des Berges fuhrte, bis er nach etwa dreißig Metern an einer Verschuttung endete. Dort, am Ende des Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern das Gestein beruhrten, und so niedrig, dass er nur gebuckt stehen konnte. Aber er konnte sitzen, und wenn er sich krummte, konnte er sogar liegen. Das genugte seinem Bedurfnis nach Komfort vollkommen. Denn der Ort hatte unschutzbare Vorzuge: Am Ende des Tunnels herrschte selbst tagsuber stockfinstere Nacht, es war totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige Kuhle. Grenouille roch sofort, dassnoch kein lebendes Wesen diesen Platz je betreten hatte. Es uberfiel ihn beinahe ein Gefuhl von heiliger Scheu, als er ihn in Besitz nahm. Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf den Boden, als bedecke er einen Altar, und legte sich darauf. Er fuhlte sich himmlisch wohl. Er lag im einsamsten Berg Frankreichs funfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem eigenen Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher gefuhlt - schon gar nicht im Bauch seiner Mutter. Es mochte draußen die Welt verbrennen, hier wurde er nichts davon merken. Er begann still zu weinen. Er wusste nicht, wem er danken sollte fur so viel Gluck. In der folgenden Zeit ging er nur noch ins Freie, um an der Wasserstelle zu lecken, sich rasch seines Urins und seiner Exkremente zu entledigen, und um Echsen und Schlangen zu jagen. Nachts waren sie leicht zu erwischen, denn sie hatten sich unter Steinplatten oder in kleine Huhlen zuruckgezogen, wo er sie mit seiner Nase aufspurte. Zum Gipfel hinauf stieg er wuhrend der ersten Wochen wohl noch ein paar Mal, um den Horizont abzuwittern. Bald aber war dies mehr eine lustige Gewohnheit als eine Notwendigkeit geworden, denn kein einziges Mal hatte er Bedrohliches gerochen. Und so stellte er schließlich die Exkursionen ein und war nur noch darauf bedacht, so schnell wie muglich in seine Gruft zuruckzukehren, wenn er die furs schiere uberleben allernutigsten Verrichtungen hinter sich gebracht hatte. Denn hier, in der Gruft, lebte er eigentlich. Das heißt, er saß weit uber zwanzig Stunden am Tag in vollkommener Dunkelheit und vollkommener Stille und vollkommener Bewegungslosigkeit auf seiner Pferdedecke am Ende des steinernen Ganges, hatte den Rucken gegen das Gerull gelehnt, die Schultern zwischen die Felsen geklemmt, und genugte sich selbst. Man weiß von Menschen, die die Einsamkeit suchen: Bußer, Gescheiterte, Heilige oder Propheten. Sie ziehen sich vorzugsweise in Wusten zuruck, wo sie von Heuschrecken und wildem Honig leben. Manche wohnen auch in Huhlen und Klausen auf abgelegenen Inseln oder hocken sich - etwas spektakulurer - in Kufige, die auf Stangen montiert sind und hoch in den Luften schweben. Sie tun das, um Gott nuher zu sein. Sie kasteien sich mit der Einsamkeit und tun Buße durch sie. Sie handeln im Glauben, ein gottgefulliges Leben zu fuhren. Oder sie warten monate- oder jahrelang darauf, dass ihnen in der Einsamkeit eine guttliche Mitteilung zukomme, die sie dann eiligst unter den Menschen verbreiten wollen. Nichts von alledem traf auf Grenouille zu. Er hatte mit Gott nicht das geringste im Sinn. Er bußte nicht und wartete auf keine huhere Eingebung. Nur zu seinem eigenen, einzigen Vergnugen hatte er sich zuruckgezogen, nur, um sich selbst nahe zu sein. Er badete in seiner eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz und fand das herrlich. Wie seine eigene Leiche lag er in der Felsengruft, kaum noch atmend, kaum dass sein Herz noch schlug - und lebte doch so intensiv und ausschweifend, wie nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat. 26 Schauplatz dieser Ausschweifungen war - wie kunnte es anders sein - sein inneres Imperium, in das er von Geburt an die Konturen aller Geruche eingegraben hatte, denen er jemals begegnet war. Um sich in Stimmung zu bringen, beschwor er zunuchst die fruhesten, die allerentlegensten: den feindlichen, dampfigen Dunst der Schlafstube von Madame Gaillard; das ledrig verdorrte Odeur ihrer Hunde; den essigsauren Atem des Pater Terrier; den hysterischen, heißen mutterlichen Schweiß der Amme Bussie; den Leichengestank des Cimetiere des Innocents; den Murdergeruch seiner Mutter. Und er schwelgte in Ekel und Hass, und es struubten sich seine Haare vor wohligem Entsetzen. Manchmal, wenn ihn dieser Aperitif der Abscheulichkeiten noch nicht genugend in Fahrt gebracht hatte, gestattete er sich auch einen kleinen geruchlichen Abstecher zu Grimal und kostete vom Gestank der rohen, fleischigen Huute und der Gerbbruhen, oder er imaginierte den versammelten Brodem von sechshunderttausend Parisern in der schwulen lastenden Hitze des Hochsommers. Und dann brach mit einem Mal - das war der Sinn der ubung - mit orgastischer Gewalt sein angestauter Hass hervor. Wie ein Gewitter zog er her uber diese Geruche, die es gewagt hatten, seine erlauchte Nase zu beleidigen. Wie Hagel auf ein Kornfeld drosch er auf sie ein, wie ein Orkan zerstuubte er das Geluder und ersuufte es in einer riesigen reinigenden Sintflut destillierten Wassers. So gerecht war sein Zorn. So groß war seine Rache. Ah! Welch sublimer Augenblick! Grenouille, der kleine Mensch, zitterte vor Erregung, sein Kurper krampfte sich in wollustigem Behagen und wulbte sich auf, so dass er fur einen Moment mit dem Scheitel an die Decke des Stollens stieß, um dann langsam zuruckzusinken und liegen zu bleiben, gelust und tief befriedigt. Er war wirklich zu angenehm, dieser eruptive Akt der Extinktion aller widerwurtigen Geruche, wirklich zu angenehm... Fast war ihm diese Nummer das liebste in der ganzen Szenenfolge seines inneren Welttheaters, denn sie vermittelte das wunderbare Gefuhl rechtschaffener Erschupfung, das nur den wirklich großen, heldenhaften Taten folgt. Er durfte nun eine Weile lang guten Gewissens ruhen. Er streckte sich aus; kurperlich, so gut es eben ging im engen steinernen Gelass. Innerlich jedoch, auf den reingefegten Matten seiner Seele , da streckte er sich bequem der vollen Lunge nach und duste dahin und ließ sich feine Dufte um die Nase spielen: ein wurziges Luftchen etwa, wie von Fruhlingswiesen hergetragen; einen lauen Maienwind, der durch die ersten grunen Buchenblutter weht; eine Brise vom Meer, herb wie gesalzene Mandeln. Es war sputer Nachmittag, als er sich erhob - sozusagen sputer Nachmittag, denn es gab naturlich keinen Nachmittag oder Vormittag oder Abend oder Morgen, es gab kein Licht und keine Finsternis, es gab auch keine Fruhlingswiesen und keine grunen Buchenblutter... es gab uberhaupt keine Dinge in Grenouilles innerem Universum, sondern nur die Dufte von Dingen. (Darum ist es eine fauon de parler, von diesem Universum als einer Landschaft zu sprechen, eine aduquate freilich und die einzig mugliche, denn unsere Sprache taugt nicht zur Beschreibung der riechbaren Welt.) - Es war also sputer Nachmittag, will sagen ein Zustand und Zeitpunkt in Grenouilles Seele, wie er im Suden am Ende der Siesta herrscht, wenn die mittugliche Luhmung langsam abfullt von der Landschaft und das zuruckgehaltne Leben wieder beginnen will. Die wutentbrannte Hitze - Feindin der sublimen Dufte - war verflogen, das Dumonenpack vernichtet. Die inneren Gefilde lagen blank und weich in der lasziven Ruhe des Erwachens und warteten, dass der Wille ihres Herrn uber sie kume. Und Grenouille erhob sich - wie gesagt - und schuttelte den Schlaf aus seinen Gliedern. Er stand auf, der große innere Grenouille, wie ein Riese stellte er sich hin, in seiner ganzen Pracht und Gruße, herrlich war er anzuschauen - fast schade, dass ihn keiner sah! -, und blickte in die Runde, stolz und hoheitsvoll: Ja! Dies war sein Reich! Das einzigartige Grenouillereich! Von ihm, dem einzigartigen Grenouille erschaffen und beherrscht, von ihm verwustet, wann es ihm gefiel, und wieder aufgerichtet, von ihm ins Unermessliche erweitert und mit dem Flammenschwert verteidigt gegen jeden Eindringling. Hier galt nichts als sein Wille, der Wille des großen, herrlichen, einzigartigen Grenouille. Und nachdem die ublen Gestunke der Vergangenheit hinweggetilgt waren, wollte er nun, dass es dufte in seinem Reich. Und er ging mit muchtigen Schritten uber die brachen Fluren und sute Duft der verschiedensten Sorten, verschwenderisch hier, sparsam dort, in endlos weiten Plantagen und kleinen intimen Rabatten, den Samen faustweise verschleudernd oder einzeln an eigens ausgewuhlten Plutzen versenkend. Bis in die entlegensten Regionen seines Reiches eilte der Große Grenouille, der rasende Gurtner, und bald war kein Winkel mehr, in den er kein Duftkorn geworfen hutte. Und als er sah, dass es gut war und dass das ganze Land von seinem guttlichen Grenouillesamen durchtrunkt war, da ließ der Große Grenouille einen Weingeistregen herniedergehen, sanft und stetig, und es begann alluberall zu keimen und zu sprießen, und die Saat trieb aus, dass es das Herz erfreute. Schon wogte es uppig auf den Plantagen, und in den verborgenen Gurten standen die Stengel im Saft. Die Knospen der Bluten platzten schier aus ihrer Hulle. Da gebot der Große Grenouille Einhalt dem Regen. Und es geschah. Und er schickte die milde Sonne seines Luchelns uber das Land, worauf sich mit einem Schlag die millionenfache Pracht der Bluten erschloss, von einem Ende des Reichs bis zum anderen, zu einem einzigen bunten Teppich, geknupft aus Myriaden von kustlichen Duftbehultern. Und der Große Grenouille sah, dass es gut war, sehr, sehr gut. Und er blies den Wind seines Odems uber das Land. Und die Bluten, liebkost, verstrumten Duft und vermischten ihre Myriaden Dufte zu einem stundig changierenden und doch in stundigem Wechsel vereinten universalen Huldigungsduft an Ihn, den Großen, den Einzigen, den Herrlichen Grenouille, und dieser, auf einer goldduftenden Wolke thronend, sog den Odem schnuppernd wieder ein, und der Geruch des Opfers war ihm angenehm. Und er ließ sich herab, seine Schupfung mehrmals zu segnen, was ihm von dieser mit Jauchzen und Jubilieren und abermaligen herrlichen Duftausstußen gedankt wurde. Unterdessen war es Abend geworden, und die Dufte verstrumten sich weiter und mischten sich in der Bluue der Nacht zu immer phantastischeren Noten. Es stand eine wahre Ballnacht der Dufte bevor mit einem gigantischen Brillantduftfeuerwerk. Der Große Grenouille aber war etwas mude geworden und guhnte und sprach: "Siehe, ich habe ein großes Werk getan, und es gefullt mir sehr gut. Aber wie alles Vollendete beginnt es mich zu langweilen. Ich will mich zuruckziehen und mir zum Abschluss dieses arbeitsreichen Tages in den Kammern meines Herzens noch eine kleine Begluckung gunnen." Also sprach der Große Grenouille und segelte, wuhrend das einfache Duftvolk unter ihm freudig tanzte und feierte, mit weitausgespannten Flugeln von der goldenen Wolke herab uber das nuchtliche Land seiner Seele nach Haus in sein Herz. 27 Ach, es war angenehm, heimzukehren! Das Doppelamt des Ruchers und Weltenerzeugers strengte nicht schlecht an, und sich danach von der eigenen Brut stundenlang feiern zu lassen, war auch nicht die reinste Erholung. Der guttlichen Schupfungs- und Reprusentationsverpflichtungen mude, sehnte sich der Große Grenouille nach huuslichen Freuden. Sein Herz war ein purpurnes Schloss. Es lag in einer steinernen Wuste, getarnt hinter Dunen, umgeben von einer Oase aus Sumpf und hinter sieben steinernen Mauern. Es war nur im Flug zu erreichen. Es besaß tausend Kammern und tausend Keller und tausend feine Salons, darunter einen mit einem einfachen purpurnen Kanapee, auf welchem Grenouille, der nun nicht mehr der Große Grenouille war, sondern Grenouille ganz privat oder einfach der liebe Jean-Baptiste, sich von der Muhsal des Tages auszuruhen pflegte. In den Kammern des Schlosses aber standen Regale vom Boden bis hinauf an die Decke, und darin befanden sich alle Geruche, die Grenouille im Laufe seines Lebens gesammelt hatte, mehrere Millionen. Und in den Kellern des Schlosses, da ruhten in Fussern die besten Dufte seines Lebens. Sie wurden, wenn sie gereift waren, auf Flaschen gezogen und lagen dann in kilometerlangen feuchtkuhlen Gungen, geordnet nach Jahrgang und Herkunft, und es waren ihrer so viele, dass ein Leben nicht reichte, sie alle zu trinken. Und als der liebe Jean-Baptiste, endlich heimgekehrt in sein chez soi, im purpurnen Salon auf seinem simplen anheimelnden Sofa lag - die Stiefel, wenn man so will, endlich ausgezogen hatte -, klatschte er in die Hunde und rief seine Diener herbei, die unsichtbar, unfuhlbar, unhurbar und vor allem unriechbar, also vollstundig imaginure Diener waren, und befahl ihnen, in die Kammern zu gehen und aus der großen Bibliothek der Geruche diesen oder jenen Band zu besorgen und in den Keller zu steigen und ihm zu trinken zu holen. Es eilten die imaginuren Diener, und in peinigender Erwartung krampfte sich Grenouilles Magen zusammen. Es war ihm plutzlich zumute wie einem Trinker, den am Tresen die Angst befullt, man kunnte ihm aus irgendeinem Grund das bestellte Glas Schnaps verweigern. Was, wenn die Keller und Kammern mit einem Mal leer, was, wenn der Wein in den Fussern verdorben war? Warum ließ man ihn warten? Warum kam man nicht? Er brauchte das Zeug sofort, er brauchte es dringend, er war suchtig danach, er wurde auf dem Fleck sterben, wenn er es nicht bekume. Aber ruhig, Jean-Baptiste! Ruhig, Lieber! Man kommt ja, man bringt, was du begehrst. Schon fliegen die Diener herbei. Sie tragen auf unsichtbarem Tablett das Buch der Geruche, sie tragen in weißbehandschuhten unsichtbaren Hunden die kostbaren Flaschen, sie setzen sie ab, ganz behutsam, sie verneigen sich, und sie verschwinden. Und alleine gelassen, endlich - mal wieder! - allein, greift Jean-Baptiste nach den ersehnten Geruchen, uffnet die erste Flasche, schenkt sich ein Glas voll bis zum Rand, fuhrt es an die Lippen und trinkt. Trinkt das Glas kuhlen Geruchs in einem Zug leer, und es ist kustlich! Es ist so erlusend gut, dass dem lieben Jean-Baptiste vor Wonne das Wasser in die Augen schießt und er sich sofort das zweite Glas dieses Dufts einschenkt: eines Dufts aus dem Jahr 1752, aufgeschnappt im Fruhjahr, vor Sonnenaufgang auf dem Pont Royal, mit nach Westen gerichteter Nase, woher ein leichter Wind kam, in dem sich Meergeruch, Waldgeruch und ein wenig vom teerigen Geruch der Kuhne mischten, die am Ufer lagen. Es war der Duft der ersten zu Ende gehenden Nacht, die er, ohne Grimals Erlaubnis, in Paris herumstreunend verbracht hatte. Es war der frische Geruch des sich nuhernden Tages, des ersten Tagesanbruchs, den er in Freiheit erlebte. Dieser Geruch hatte ihm damals die Freiheit verheißen. Er hatte ihm ein anderes Leben verheißen. Der Geruch jenes Morgens war fur Grenouille ein Hoffnungsgeruch. Er verwahrte ihn sorgsam. Und er trank tuglich davon. Nachdem er das zweite Glas geleert hatte, fiel alle Nervositut, fielen Zweifel und Unsicherheit von ihm ab, und es erfullte ihn eine herrliche Ruhe. Er presste seinen Rucken gegen die weichen Kissen des Kanapees, schlug ein Buch auf und begann, in seinen Erinnerungen zu lesen. Er las von den Geruchen seiner Kindheit, von den Schulgeruchen, von den Geruchen der Straßen und Winkel der Stadt, von Menschengeruchen. Und angenehme Schauer durchrieselten ihn, denn es waren durchaus die verhassten Geruche, die exterminierten, die da beschworen wurden. Mit angewidertem Interesse las Grenouille im Buch der ekligen Geruche, und wenn der Widerwille das Interesse uberwog, so klappte er es einfach zu, legte es weg und nahm ein anderes. Nebenher trank er ohne Pause von de